: Wo Bäume sind, ist Schatten
Auf Mexikos neuer Präsidentin Claudia Sheinbaum ruhen große Hoffnungen, besonders beim Thema Umweltschutz. Doch ein ökologisches Vorzeigeprojekt, das nachhaltig arbeitende Bauern unterstützen soll, bewirkt mancherorts das Gegenteil – schuld sind Korruption, fehlende Kontrolle und Unwissen

Aus Chiapas Yossi Bartal
Die holprige Straße schlängelt sich in scheinbar unzähligen Kurven durch das Hochland des mexikanischen Bundesstaats Chiapas. Links und rechts wechselt sich üppiger Dschungel mit steilen Berghängen und kleinen Mischkulturparzellen ab. Kakaobäume, Bohnen und Kürbisse bauen die Menschen hier oben an – und natürlich Mais, das bedeutendste Nahrungsmittel des Landes.
Ein halbes Jahr nach der Präsidentschaftswahl sind in den kleinen Dörfern entlang der Route noch immer in Schwarz und Rot aufgemalte Wahlparolen auf den Häusern zu sehen – ausschließlich Aufrufe der Partei Morena. Die Kandidatin des Movimiento Regeneración Nacional, „La Doctora“ Claudia Sheinbaum, siegte mit überwältigender Mehrheit. Sheinbaum trat als erste Frau an die Spitze Mexikos. Sie gilt als linke Hoffnungsträgerin, 80 Prozent der Mexikaner unterstützen sie derzeit. Im Ausland hatte man große Erwartungen an die promovierte Klimawissenschaftlerin, besonders bei Themen wie Umwelt- und Klimaschutz. Doch ein halbes Jahr später wird spürbar, dass bei ihr ökologische Ansätze nicht im Vordergrund stehen.
Neben den Wahlparolen tauchen am Straßenrand ab und an auch Schilder auf, die ankündigen, dass der nächste Hof Teil von Sembrando Vida ist. Das ist die größte Initiative Mexikos zur Wiederaufforstung und Entwicklung der Landwirtschaft.
Das Programm – übersetzt bedeutet es: „Leben säen“ – ist eines der Vorzeigeprojekte des Morena, die Mexiko seit mehr als sechs Jahren regiert und die mit Sozialprogrammen Millionen Menschen aus der Armut geholt hat. Sembrando Vida unterstützt in ausgewählten Regionen Bauern, die sich verpflichten, auf mindestens 2,5 Hektar ihres zur Verfügung stehenden Landes Bäume zu pflanzen und nachhaltige Landwirtschaft zu betreiben. Neben Setzlingen und der Begleitung durch Fachleute erhalten teilnehmende Bauern mindestens 5.000 Pesos monatlich, das sind etwa 250 Euro. Das bedeutet häufig eine Verdoppelung des Einkommens. Staatlichen Angaben zufolge nehmen mehr als 445.000 Bauern in 24 der 32 Bundesstaaten Mexikos am Sembrando-Vida-Programm teil.
Der ehemalige Präsident Andrés Manuel López Obrador, der sich vom Nationalpalast aus auf einen Bauernhof in Chiapas zurückzog, betrachtete das Sembrando-Vida-Programm als einen zentralen Bestandteil der von ihm ins Leben gerufenen Cuarta Transformación, der „Vierten Transformation“. Dieser staatliche Erneuerungsprozess für mehr soziale Gerechtigkeit versteht sich als Fortsetzung dreier historischer Wendepunkte der mexikanischen Geschichte: Unabhängigkeit (1810), Reformen (1857) und Revolution (1910–1920).
Die neue Präsidentin Claudia Sheinbaum sieht sich als treue Nachfolgerin von Obrador. In einer Rede zum 100. Tag ihrer Amtszeit erklärte sie vor Tausenden jubelnden Anhänger:innen auf dem Zócalo, dem historischen Hauptplatz von Mexiko-Stadt, wie ihre Regierung den „zweiten Stadium der Vierten Transformation“ errichten wird – zu dieser Etappe gehöre auch der Ausbau der Subventionsprogramme für den ländlichen Raum. Und das sogar über Mexiko hinaus.
Frieden und Leben säen
Auf dem G20-Treffen in Rio de Janeiro im November 2024 sorgte Sheinbaum mit einem ungewöhnlichen Vorschlag für Aufsehen: Alle beteiligten Länder sollten 1 Prozent ihrer Militärausgaben in Wiederaufforstungsprogramme investieren. Den anwesenden Weltführern aus China, den USA oder auch Deutschland sagte sie: „Hört auf, Kriege zu säen, lasst uns Frieden und Leben säen.“ Ausdrücklich verwies sie dabei auf Sembrando Vida, das dazu beitragen würde, „die globale Erwärmung zu mildern und Gemeinden aus der Armut zu retten“.
Tatsächlich führt die Mexikanische Agentur für Entwicklungszusammenarbeit das Programm seit mehreren Jahren auch in den benachbarten zentralamerikanischen Ländern durch – bis vor Kurzem mit finanzieller Unterstützung der mittlerweile existenzgefährdeten Agentur USAID. Ein zentrales Ziel der US-Förderung war es, mithilfe des Sembrando-Vida-Programms Fluchtursachen in Zentralamerika zu bekämpfen. Viele der Migranten, die in den vergangenen Jahren in Richtung USA aufbrachen, stammen aus ländlichen Regionen, wo die kleinbäuerliche Landwirtschaft aufgrund des Klimawandels und der Globalisierung kaum noch Lebensgrundlagen bot. In einem Bericht des UNO-Entwicklungsprogramms UNDP aus dem Jahr 2022 wird die Umsetzung in Honduras und El Salvador, jeweils mit 10.000 Teilnehmenden, als großer Erfolg bewertet.
Unabhängige Forschungen zum Programm in Mexiko fehlen noch. Auf Youtube finden sich zwar viele Videos, die Bäuer*innen auf ihren Feldern zeigen, welche die Unterstützung und professionelle Begleitung loben und ihre Dankbarkeit ganz persönlich an „La Presidenta Claudia“ richten. Dennoch erntet das Programm, das ökologischen und sozialen Anspruch verbindet, viel Kritik – ausgerechnet von Linken, von Menschenrechtsorganisationen und Umweltverbänden. Die Regierung versuche, mit dem Programm indigene Bewegungen zum Schweigen zu bringen und kollektive Strukturen zu schwächen, um damit den Weg für industrielle Großprojekte auf dem Land zu ebnen. Zudem schade das Programm der Umwelt mehr, als es ihr nütze.
Der Preis der Einzahlungen
In einem Café in San Cristóbal, Chiapas’einstiger Hauptstadt und Touristen-Hotspot, erklärt Pedro Faro vom Menschenrechtszentrum Fray Bartolomé de las Casas, was Sembrando Vida so problematisch macht. Sein von der Befreiungstheologie inspirierter Verein unterstützt seit Anfang der 1990er Jahre indigene Gemeinschaften im Bundesstaat Chiapas und fungierte als Vermittler bei den Friedensverhandlungen zwischen den rebellierenden Zapatistas und der Zentralregierung. Den inneren Zusammenhalt der Gemeinden in der Region bewertet der langjährige Aktivist und Anwalt als eine ihrer wichtigsten Schutzfunktionen – sowohl vor dem „staatlichen Neokolonialismus“ mitsamt seinen Großprojekten als auch vor der Gewalt der Drogenkartelle, die zuletzt in der Region enorm gestiegen ist. Die staatlichen Zahlungen an einzelne Bauern stellen in dieser sensiblen Lage ein Problem dar.
Einerseits habe das Programm einige positive Aspekte: Im Vergleich zu den Sozialprogrammen früherer Regierungen seien die direkten Transferleistungen, wie aus dem Sembrando -Vida-Programm, „ein Gamechanger“, sagt Faro. „Früher floss Sozialhilfe durch viele Hände und versickerte in Korruption. Heute erhalten die Menschen die Mittel direkt – quasi wie einen Lohn – auf ein Konto.“
In einem Land, in dem mehr als ein Drittel der Bevölkerung kein Bankkonto besitzt, tragen die Zahlungen über die staatliche Banco del Bienestar auch zur finanziellen Inklusion bei. Die Anzahl der Filialen der vom Sozialministerium geführten Bank hat sich in den letzten sechs Jahren verzehnfacht – in vielen Regionen ist die Banco del Bienestar die erste Bank überhaupt. Weniger Korruption und Modernisierung der ländlichen Wirtschaft, das sei erst mal positiv, sagt Faro.
Programmen wie Sembrando Vida steht er dennoch skeptisch gegenüber. Denn eine Besonderheit in Mexiko ist die Verbreitung von kollektivem Landbesitz. Mehr als drei Viertel des Bodens befindet sich in den Händen von Gemeinden und Genossenschaften, auch als Ejidos bekannt. Innerhalb dieser Strukturen sind einzelne Bauern für ihre eigenen Parzellen verantwortlich, über die allgemeine Nutzung der Flächen wird jedoch in demokratischen Versammlungen entschieden.
Das Programm Sembrando Vida ignoriere aber diese kollektiven Entscheidungsformen und arbeite direkt mit einzelnen Bauern. „Solche Programme stärken eine Mentalität des Individualismus und Konsums, die das kollektive Bewusstsein und kulturelle Strukturen verdrängt“, sagt Faro. Das mache abhängig. „Langfristig schwächt das die Fähigkeit von Gemeinden, ihre Rechte zu verteidigen“, sagt Faro.
Mit Bäumen gegen die Guerilla
Es sei kein Zufall, dass die Zentralregierung Sembrando Vida gezielt in Regionen vorantreibe, die von umweltschädlichen Großprojekten wie der touristischen Bahnstrecke Tren Maya oder der geplanten Transportroute Corredor Interoceánico betroffen sind. Berichten zufolge verzichten viele Bauern darauf, sich gegen diese Regierungsprojekte zu äußern oder zu organisieren, um ihre Teilnahme am Programm nicht zu gefährden – und damit die großzügigen Zahlungen.
Auch in Chiapas sind die negativen Auswirkungen spürbar. Faro sagt, dass das Programm insbesondere in Gebieten umgesetzt werde, in denen die Zapatistische Armee der Nationalen Befreiung (EZLN) noch immer großen Einfluss habe.
Diese Bewegung, die von linken und indigenen Ideen inspiriert ist, rebellierte vor mehr als 30 Jahren gegen die mexikanische Zentralregierung und hat seitdem in weiten Teilen des südlichen Bundesstaats autonome Kommunalstrukturen aufgebaut. „Seit dem Aufstand genießen die zapatistischen Gemeinschaften vergleichsweise die besten Lebensbedingungen in den Bereichen Gesundheit, Bildung und Gerechtigkeit“, sagt Faro. „Dies haben sie jedoch nur durch ständigen und hartnäckigen Widerstand gegen den Staat erreicht.“
Pedro Faro, Menschenrechtsaktivist
Die Implementierung des Sozialprogramms in ihren Gebieten, wo Land nicht offiziell registriert ist, führt zu Spannungen zwischen zapatistischen und nichtzapatistischen Gemeinden. Sogar kriminelle Banden sollen sich so bereichert haben, sagt Faro, indem sie gewaltsam Land übernommen und es angemeldet hätten.
Offiziell heißt es, dass umstrittene Landstücke vom Sembrando Vida ausgeschlossen seien. In der Praxis sei dies jedoch oft anders. Daher betrachtet Faro die Umsetzung von Sembrando Vida auch als Maßnahme zur Aufstandsbekämpfung: „Denn letztlich sind dies Mechanismen, um eine Bewegung, einen politischen Prozess und ein autonomes Projekt mit solidem Fundament zu zerschlagen.“
Zudem bestätigt er, was Recherchen der US-amerikanischen Umweltorganisation World Resources Institute bereits aufgedeckt haben: Weil sie nicht genügend Brachland hatten, um vom Sembrando-Vida-Programm zu profitieren, rodeten viele Bauern zunächst Teile ihres bewaldeten Landes, um sie anschließend aufforsten zu können.
Das Ergebnis ist eine massive Zerstörung von Waldflächen – bis zu 73.000 Hektar landesweit allein zu Beginn des Programms im Jahr 2019. Obwohl dies ausdrücklich vom Ministerium verboten ist, blieb die Kontrolle von Brandrodung und Abholzung unzureichend. Dadurch „sind ganze Ökosysteme aus dem Gleichgewicht geraten, auch in Chiapas“. Dass das wirtschaftlich aufstrebende Mexiko nur wenig tut, um erneuerbare Energien zu fördern – trotz nahezu perfekter Voraussetzungen –, sieht Faro als weiteren Beschleuniger des Klimakollapses.
Auf eine Anfrage der taz zu den Vorwürfen reagierte das zuständige mexikanische Ministerium nicht.
Gute Idee,schlechte Umsetzung
Auch Experten aus der Landwirtschaft äußern Zweifel. Biologe Juan Carlos Uribe begleitet Bauern im Bundesstaat Oaxaca als Teil seines Engagements für Biodiversität. Er ist Mitte dreißig, gehört der indigenen Volksgruppe der Mixteken an und ist Mitglied der Initiative zur Verteidigung des einheimischen Maises. Viele Bauern, mit denen er in Kontakt steht, nehmen am Programm teil – vor einigen Jahren überlegte er selbst, sich um eine Stelle bei Sembrando Vida zu bewerben.

Seiner Einschätzung nach sind die offiziell vorgeschriebenen Regeln für die Teilnehmenden durchaus positiv. Auch das indigene Anbausystem Milpa, das durch die Kombination aus Mais, Bohnen und Kürbis die Bodenfruchtbarkeit erhält, wird ausdrücklich erwähnt. Das Problem liegt jedoch in der Umsetzung – insbesondere beim Personal. Viel zu oft fehlt den Agronomen das nötige Wissen über nachhaltige Landwirtschaft und Respekt vor indigenen Methoden.
Zudem gebe es Korruption bei der Einstellung von unqualifizierten Mitarbeitern, die zu großen Fehlern führen. Tatsächlich wurden Anfang des Jahres mehr als hundert Mitarbeiter des Programms im Bundesstaat Guerrero wegen Vorwürfen von Korruption und Missmanagement entlassen.
Zudem liefern die beauftragten Baumschulen oft Setzlinge, die von schlechter Qualität sind oder gar nicht zur Region passen. Juan Carlos Uribe berichtet, wie ihn einmal eine Frau in einem abgelegenen Bergdorf bat, ihr Feld zu begutachten, weil der staatliche Agronom nicht erschienen war: „Die Bäume kamen von der Küste von Veracruz, hauptsächlich Zitrusbäume. Sie waren völlig ungeeignet für das Klima, die Bodenversalzung und die extrem starken Winde, die in dieser Region wehen – kurz nach dem Einpflanzen gingen sie ein.“ Solche Fehleinschätzungen seien sehr weit verbreitet, glaubt er.
Vorwürfe, das Programm sei bloß Greenwashing oder ein zynisches Werkzeug zur Bekämpfung von linken Bewegungen, macht Uribe sich nicht zu eigen. Solche Programme bräuchten aber viel Zeit – mehr als die restlichen fünfeinhalb Jahre, die Sheinbaum als Präsidentin übrig bleiben.
Wenn er die Möglichkeit hätte, etwas zu ändern, würde Juan Carlos Uribe tatsächlich mit der Ausbildung der Agronomen beginnen: „Wenn der Techniker von Anfang an sensibel für die Entscheidungen und Bedürfnisse der Gemeinschaften ist und über das richtige Profil verfügt, kann er hervorragende Arbeit leisten.“ Aber dafür müssten auch die Studiengänge in den landwirtschaftlichen Hochschulen reformiert werden. „Das wäre ein langwieriger Prozess. Eine große Veränderung ist so schnell nicht zu erwarten – das ist die Realität.“
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