Wirklich überraschend an den Wahlerfolgen der AfD ist nur eins: dass die Deutschen sich so überrascht geben: Einfache Doppelmoral
Zuhause bei Fremden
von Miguel Szymanski
Die AfD ist das, was passiert, wenn sich deutsche Doppelmoral in ihre Bestandteile aufspaltet: Auf der eine Seite stehen Werte wie Toleranz, Gleichberechtigung und Offenheit, auf der anderen wollen Eltern und Großeltern ja nicht wirklich Ausländer und „Andersartige“ vor der Haustür, geschweige denn am Tisch oder im Bett ihrer Kinder und Enkelkinder haben. Das gilt für die schwäbische Hausfrau in der Provinz und den Großstädter in Berlin.
Nach drei Jahren Existenz und fünf Wahlen in diesem Jahr kommt die AfD im Schnitt auf 17,4 Prozent der Stimmen in den letzten Landtagswahlen. Ich sitze mit Freunden in einem österreichischen Café in Lissabon. Touristen ziehen lärmend durch die Stadt und suchen das „Typische“, im „Kaffeehaus“ haben wir Lissabonner unsere Ruhe.
Duarte, ein ehemaliger Redaktionskollege, schaut auf sein Smartphone und verkündet die Ergebnisse der Berlin-Wahl: „Der totale Sieg Heil ist es für die AfD in Berlin noch nicht.“ In Portugal geht man nicht sehr zimperlich mit Deutschland um, „Sieg Heil“ oder „Heil Hitler“ haben einen ironischen Stellenwert. „Warte nur bis zu den Bundestagswahlen“, sagt Sebastião, ebenfalls Journalist: „Die Rechtsradikalen in Deutschland sind auf dem Vormarsch.“
Aus dem Ausland betrachtet ist niemand überrascht, dass die AfD seit Anfang des Jahres auf statistischer Augenhöhe mit CDU oder SPD steht. Auch wenn in der Weltstadt Berlin die Rassistenpartei „nur“ auf 14 Prozent der Stimmen kommt: Das, was die AfD in den letzten Monaten erreicht hat, bestätigt im Ausland das Bild des einerseits überheblichen und unsensiblen, auf der anderen Seite von der Vergangenheit geplagten Deutschen, der nur darauf gewartet hat, seine Schuldkomplexe zu überwinden, um wieder unbeirrt losmarschieren zu können.
Überraschend dagegen finden meine portugiesischen Kollegen, dass wiederum in Deutschland die Überraschung so groß zu sein scheint. Ist das Selbstverständnis, mit dem man die AfD im Ausland erklärt, klischeebedingt, oder ist das Erstaunen im deutschen Inland über den Erfolg der AfD naiv? Die Gefahr, über dieses Thema und die deutsche Selbstwahrnehmung in ihrer oft bestürzenden Einfalt zu stolpern, ist permanent und allgegenwärtig.
So zum Beispiel jetzt, in diesem Moment: es ist 5 Uhr morgens und soeben erscheint ein neuer Artikel auf Spiegel Online: „Saßen in der Regierung Kohl Antisemiten?“ Und dann: „Nun hat der Jenaer Historiker Jacob S. Eder in einer preisgekrönten Doktorarbeit Kohls damalige Geschichtspolitik zum Holocaust analysiert. Eder kommt zu einem brisanten Befund: 40 Jahre nach Kriegsende waren antisemitische Vorurteile und Klischees unter CDU-Politikern und konservativen hohen Beamten der Bundesregierung verbreitet.“ Ein brisanter Befund?
Weitere „brisante Befunde“ zu Deutschland fallen dem Leser im Morgengrauen oder meinen Freunden am Cafétisch spontan ein: 70 Jahre nach Kriegsende wird eine fremdenfeindliche Partei, die Deutschland wieder „völkisch“ gestalten und hygienisch „ausmisten“ möchte, in Landtagswahlen von fast einem Fünftel der Deutschen gewählt – noch vor drei Jahren kam die AfD bei der Bundestagswahl gerade einmal auf ein Zwanzigstel der Stimmen.
Viele meiner deutschen Freunde haben diese Doppelmoral überwunden und die ideologische Last der Vergangenheit, die nicht wirklich vergangen ist, weil sie zu Hause und in der Erziehung präsent geblieben ist, bewältigt. Aber immer mehr überwinden sie dadurch, dass sie sich zu dieser Vergangenheit bekennen und Toleranz, Gleichberechtigung und Offenheit ideologisch entsorgen.
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