: Wir waren der Kommunismus
Der Schriftsteller Erri De Luca schloss sich 1968 Italiens Arbeiterbewegung und später Lotta continua an. Heute schreibt er über den Abschied. Ein Porträt ■ von Aureliana Sorrento
ie Stimme ist rau. „Signore De Luca?“ Aus 1.700 Kilometer Entfernung über die Telefonleitung: „Ich bin's.“ Freundlich, aber verhalten. Dann eine Pause und das mulmige Gefühl, in jemanden zu bohren, der es nicht gern hat. Erri De Luca hat schließlich schon alles über sich gesagt. Schriftlich. „Ich schreibe nur über meine eigenen Angelegenheiten“, behauptet er steif und fest. Gut. Erfundenes kommt aber hinzu. Wie soll man denn unterscheiden zwischen Wahrheit und Dichtung? „Wenn man es könnte, hätte ich schon längst Probleme mit den Justizbehörden gehabt“, ist die Antwort. Trocken. Keine Fragen mehr dazu. Ich kann davon ausgehen, dass das Telefon des Schriftstellers abgehört wird.
Der Erzähler De Luca kennt nur zwei Pronomina, das Ich und das Du, und beide sind immer ein bisschen er. Deshalb tragen seine Figuren Merkmale, die sie aufeinander verweisen: Alle Kinder des Abseits mit einem Dasein am Rande, außer der Norm, aber niemals laut oder auffallend. Alle schwermütige Eigenbrötler, die sich nicht aussprechen, es sei denn im Monolog oder in der intimen geflüsterten Ansprache an ein unbestimmtes Du.
Ihrer aller Vorfahr ist ein nachdenklicher, scheuer und frühreifer Junge: der Protagonist von „Tu, mio“ (auf Deutsch unter dem etwas schwulstigen Titel „Das Meer der Erinnerung“ erschienen). Mit diesem Halbwüchsigen, der auf Ischia mit seiner Familie Urlaub macht, sich in ein älteres Mädchen vernarrt und den Kriegserinnerungen des Fischers Nicola gierig zuhört, hat es eine besondere Bewandtnis: De Luca beschreibt an ihm nicht nur den Abschied eines Teens von der Pubertät, sondern das Jungsein und Erwachsenwerden seiner Generation, der 68er (obwohl die Geschichte in die 50er-Jahre zurückverlegt wird). Das geliebte Mädchen, Caiele, ist eine Jüdin, die beide Eltern im Krieg verloren hat; der Fischer hat als Soldat in Jugoslawien ohnmächtig den Deportationen der Juden zugesehen; die deutschen Urlauber auf Ischia grölen das „Horst-Wessel-Lied“ durch die sonnigen Gassen; und der Held ist irgendwann von der Idee besessen, die Unterlassungsschuld der Eltern während des Krieges wettmachen zu müssen.
Man liest, wie Erinnerungen und Ressentiments sich zu einem Gefühlsgebräu stauen, in dem der Vorwurf an die Väter, Krieg und Holocaust nicht verhindert zu haben, als Gärstoff wirkt. Keine harmlose Liebesgeschichte – am Ende des Selbstfindungsprozesses des Jungen steht ein politischer Gewaltakt: Er steckt die Pension der bierseligen Nazigröler in Brand.
„Das ist der letzte Akt des vorigen Krieges und der erste des nächsten Krieges“, sagt er. Ich stutze. „Ja, von 1967 bis 1980 habe ich mich im Krieg gefühlt. Ich wusste, keine andere Wahl zu haben, genauso wie der Junge von „Tu, mio“. „Keine Wahl?“ „Keine Wahl. Wir reden ständig von Selbstbestimmung, aber in Wahrheit sind wir alle bloß ungeschliffene Erzeugnisse der Vergangenheit: genetische Affen, Stammbaum-Affen.“
Anno 1968 verließ Erri De Luca Neapel und sein bürgerliches Zuhause, um nach Rom zu gehen. Neapel war damals eine monarchistische Stadt, die dem Faschismus nachtrauerte „Eine der vielen Städten Süditaliens, die am Meer liegen und sich der Trägheit und dem Glücksspiel verschrieben haben“, wie man bei ihm liest. Eine der vielen, die von der fünfzigjährigen christdemokratischen Regierung (DCI) in ihrem vorindustriellen Zustand belassen wurden, weil die Armut des Südens käufliche Wähler und billige Arbeitskräfte für den Norden produzierte – wie es in den Geschichtsbüchern steht.
Rom 1968 – ein Kriegsschauplatz. Nicht nur Studenten tobten auf den Straßen. Der Asphalt kochte unter den Füßen von Aufgeregten verschiedenster Herkunft: von Arbeitern, welche die Massenentlassungen nach den Rezessionsjahren 1963/64 in die Verzweiflung getrieben hatten; von faschistischen Schägertrupps; und von all jenen, die sich wegen der kompromissbereiten, passiven Politik der Kommunistischen Partei von der großen Mutter losgelöst hatten und in die Gruppen der so genannten Extraparlamentarischen Opposition eingeströmt waren. Außer den verhärteten sozialen Konflikten verseuchte die Angst vor einem Staatsstreich die Atmosphäre. Italien war ein Hexenkessel und Rom sein Zentrum, wo die Studentenbewegung nur den fertigen Sud aufzuwärmen brauchte!
In dieser Stadt angekommen, von deren Himmel es Steine, Flaschen und Molotowcocktails regnete, schloss sich De Luca der linksradikalen Bewegung Lotta continua an. „Ich war achtzehn im Jahre 1968, und das war nicht der Debütantenball“, hat er im Briefwechsel mit dem Politikwissenschaftler Angelo Bolaffi geschrieben, „sondern die Tarantella der Heimatlosen, derjenigen, die das Elternhaus verlassen hatten.“ Bis 1976 war er im Ordnungsdienst von Lotta continua tätig, dann löste sich die Gruppe in der größeren Bewegung des Massenprotests auf. Viele Mitglieder gingen in den Untergrund.
„Was bedeutete die Militanz bei Lotta continua in den Jahren des Terrorismus?“ Man stellt Fragen nach dem Handbuch der journalistischen Dreistigkeit und erwartet Antworten nach dem Handbuch der politischen Vorsicht. Es kommt anders. „Davon rede ich nicht. Nicht von Terrorismus. Ich rede von bewaffnetem Kampf.“ Von meinem verblüfften „Ah!“ lässt er sich nicht beirren: „Wir teilten ihre Entscheidung nicht, aber sie waren Kameraden, die Untergrundkämpfer.“
„Warum sind Sie nicht . . .?“ „Warum ich nicht in den Untergrund gegangen bin? Im Ordnungsdienst von Lotta continua war ich für viele Menschen verantwortlich. Ich hätte sie mitgerissen. Außerdem wollte ich bei den Arbeitern bleiben. Mit ihnen offen und öffentlich um ihre Rechte zu kämpfen schien mir sinnvoller.“
Während sich die meisten italienischen Linksintellektuellen darin üben, die ehemaligen Terroristen als lächerliche, ideologietrunkene Bürgersöhnchen zu schildern, erkennt ihnen De Luca die Würde des besiegten Soldaten nicht ab. Trotz aller Missbilligung. Der frühere Brigadist in seiner Langerzählung „Aceto, arcobaleno“ (deutscher Titel: „Die Asche des Lebens“) ist ein resignierter Glaubensmilizionär, der das Heer aus Ekel und Einsicht verlässt: „Ich hatte geglaubt, eine andere Gerechtigkeit zu demonstrieren . . . Wir wollten eine andere Gewalt durch einzelne Fälle zeigen, sie nur begrenzt und verständlich offenbaren. Es kam anders. Wir nahmen sinnlose Morde in Kauf. Wir scheiterten, weil wir nicht fähig waren, die Willkür von unserer Justiz fernzuhalten.“
Grundsätzliches unterschied den Militanten von Lotta continua von den ehemaligen Kameraden und späteren Terroristen: Er maß sich die Bevormundung der Arbeiterklasse nicht an. Statt in ihrem Namen zu töten, lernte De Luca deren Beruf. 18 Jahre lang malochte er als Hilfsarbeiter, zuerst in Fabriken, bei Fiat, dann auf Baustellen. Seine beste Prosa riecht nach Sand, Beton und Achselschweiß, zieht einen in die Gruben und Straßenschächte, wo man nach Luft japst, lässt den Druck der Steine auf abgeplackte Knochen spüren. Eine physische Erfahrung. Doch klingt seine bisweilen aufbrausende Empörung zeitgenössischen Ohren pathetisch, wenn er über das Unrecht klagt, dem sich ein Tagelöhner beugen muss.
Er spricht aus der Zeit der Väter. Nur dass sich die Jahre im Staub der Zeitungsarchive offenbar vervielfacht haben. „Wie sollen Sie das verstehen?“, sagt er nachsichtig. Dann aufgeregt: „Ein Fabrikarbeiter bei Fiat hatte damals nicht einmal das Recht, während der Schicht einmal, ein einziges Mal, auf die Toilette zu gehen. Er durfte den Kollegen an seiner Seite nicht ansprechen!“ So redet er manchmal wie ein Großvater, der den Enkeln von einer untergegangenen Welt erzählt, an die sie sowieso nicht glauben werden.
1980, als Fiat mehr als 20.000 Arbeiter auf die Straße setzte – den gesamten linken Flügel der politisch organisierten Arbeitnehmer –, verharrte De Luca mit den anderen Streikenden 40 Tage und 40 Nächte vor den Toren der Fabrik. Dann war es aus. Die Jahrhundertschlacht war verloren, von Kommunismus nicht mehr die Rede. Andere konnten weitere neun Jahre und länger darüber dozieren, für Erri De Luca liegt der Begriff vor dem Tor 11 von Fiat Mirafiori begraben. Er erkennt zuweilen noch Relikte davon in der Stimme von Bauarbeitern bei der Jause, in ihrer Art, „dem Nachbarn den Wein einzuschenken“, aber findet: „Es klingt aus unseren Mündern wie eine verlorene Sprache.“
Nach jenen Nächten des Jahres 1980 habe es ihn nicht mehr interessiert, was mit seinem Leben geschehen sei, hat De Luca an Angelo Bolaffi geschrieben. Danach sei er Bauarbeiter bloß aus Not gewesen, denn er hatte keinen anderen Beruf gelernt. Abends nach der Arbeit schrieb er. Vor einer Pritsche kniend, das Heft auf der Matratze. Es gab meist keinen Tisch, wo er übernachtete. Seine „gerettete Zeit“ nennt er das. Als er 1989 zufällig auf den Verleger Feltrinelli stieß, waren bereits mehrere voll geschriebenen Hefte in seinem Koffer. Die Bücher sind nach und nach erschienen, hinzu kamen neue Geschichten und Übersetzungen der Bibel, mit der er sich seit langem beschäftigt. So dass er vor ein paar Jahren „den Beruf der Mühe“ aufgeben konnte.
Jetzt nennt er sich apolitisch. Nicht dass er für die jetzige Regierung Italiens viel übrig hätte. Aber heute spreche er nur für sich, sagt er, das Wir der Siebziger sei ausgeklungen. Und da er nun für niemand anders verantwortlich ist, pendelt der Schriftsteller seit Jahren zwischen Italien und dem Balkan. Nach Bosnien und ins Kosovo fuhr er Hilfstransporte; nach Belgrad ging er letzlich, um gegen die Nato-Bomben zu protestieren. Ein stiller Protest diesmal, für ihn eine Erbpflicht: „Ich fahre nach Belgrad, um die Sirenen zu hören, die meine Mutter als Mädchen unter dem Himmel von Neapel im Zweiten Weltkrieg kennen gelernt hat“, las man in der Zeitung Il Mattino. „Ich bitte sie um Entschuldigung für diesen Reim der Geschichte, dem ich mich nicht entziehen will: in einer Stadt Europas zu sein, die von einem anderen Europa geschlagen wird.“
Die Mutter. Die stumme Zeugin. Die Richterin. Mama, Gebärerin und letzte Instanz: jemand, vor dem man Rechenschaft ablegt, für sich selbst und für die Welt. Das ist die Mutter in „Non ora, non qui“ („Das Licht der frühen Jahre“). Sie ist die Adressatin einer langen Beichte, mit der De Luca von seiner Kindheit Abschied nimmt.
Er tut das, wie Sterbende vom Leben Abschied nehmen, indem sie sich in allen Einzelheiten an das Vergangene erinnern. Beinahe schämt man sich beim Lesen dieses Buches, so zärtlich klingt die Anrede des Ich-Erzählers an die evozierte Muttergestalt, so intim sind die Details des Zusammenlebens, die er unverhohlen aufrollt. Am Ende weiß man aber, was all die Schlachtfelder des Jahrhunderts diesem Autor bedeuten. Aus ihrem bombendurchpflügten Himmel sticht das abgehärmte Gesicht eines Mädchens hervor, dem der Krieg Jugend, Hab und Gut genommen hat. Sie klagt nicht über ihr Leiden, sondern über das Leiden der anderen. Sie betrauert das Elend der Welt, und das Kind an ihrer Seite sagt ihr in Gedanken: „Ich habe es nicht mit Absicht getan.“ Als wäre es dran schuld.
Von Erri De Luca ist 1999 der Roman „Das Meer der Erinnerung“ und gerade die Erzählung „Das Licht der frühen Jahre“ im Rowohlt Verlag erschienen. Als Taschenbücher lieferbar sind zudem die Erzählungen „Die erste Nacht nach einem Mord“ und „Die Asche des Lebens“.
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