: „Wir verlangten Auskunft“
Peter-Jürgen Boock zählte einst zu den Köpfen der zweiten RAF-Generation und ist inzwischen aus lebenslanger Haft entlassen. Ein Gespräch über Opferzahlen, unverdiente Vergebung und die Lügen der Generationen – ein Vierteljahrhundert nach dem „Deutschen Herbst“
lnterview HENNING KOBER
Die Körperhaltung erinnert an früher. Lässig steht er da, die Arme auf das Geländer zur Bahnunterführung gestützt. Peter-Jürgen Boock, ehemaliger RAF-Terrorist, gescheiterter Revolutionär, mehrfacher Mörder. Die Haare grau, glatt, bis zu den Ohren, grünes Jackett, roter Pulli. Augenlider tief unten. Typischer Altachtundsechziger auf den ersten Blick. Peter-Jürgen Boock gehörte von 1975 bis 1980 zu den Köpfen der zweiten Generation der RAF. Als Ort für das Interview hat er einen Landgasthof hoch auf einem Ausläufer des Schwarzwalds ausgesucht. Das Essen sei dort ganz vorzüglich. Bei der Fahrt in seinem Opel Corsa durch den Herbstwald schwärmt Boock vom Wandern, von Pilzen, Wein und der Nähe zu Italien. „Grüß Gott!“, ruft die Kellnerin des Kohlerhofs. Vorne im blauen Dunst: das Elsass. Schön hier, sehr schön. Und hier soll man nun über die RAF sprechen? Boock schaut erwartungsvoll, er will jetzt Fragen beantworten.
taz.mag: Ist es richtig, dass Andreas Baader unverschämt gut aussah?
Unter diesem Aspekt hab ich ihn nie betrachtet.
War er ein Menschenfischer?
Es war schwer, sich ihm zu entziehen. Was er sagte und wie er es sagte, hatte etwas Hypnotisches.
Ein erotischer Mensch?
Vermutlich schon.
Wer war er für Sie?
Ich hatte anfänglich eine ganze Menge gelernt von ihm. Er ging die Dinge mit sehr viel Selbstbewusstsein an. Mir waren bis dahin wenige Menschen begegnet, die ihre Ziele vorgeben und dann auch erreichen. Egal wie lang es dauert, egal wie viel dagegen spricht.
Sie hatten eine persönlich starke Beziehung zu ihm?
Ich zu ihm auf jeden Fall. Wie das umgekehrt war, weiß ich nicht wirklich. Am Schluss war es für die Stammheimer wichtig, dass es draußen auch noch zwei, drei Personen gab, die sie persönlich kannten.
Würden Sie Andreas Baader heute noch als einen Freund bezeichnen?
Er ist jemand, der mir noch immer sehr präsent ist und der eine große Rolle spielt für mich, weil er Teil meiner Geschichte ist. Aber dass das noch immer so wäre, das würde ich eher bezweifeln.
Hätte es ohne Andreas Baader die RAF nicht gegeben?
Ich glaube nicht. Ich denke, dass es dieser ganzen Gruppierung von Leuten, so wie sie war, bedurfte, um das zuwege zu bringen.
(Die Kellnerin kommt und fragt nach dem Befinden. Boock, Stammgast, nickt und bestellt ein Viertele trockenen Roten, Wasser und das Pfeffersteak mit Pommes frites. Freude in seiner Stimme. Er scheint gern zu erzählen.)
Mit fünfzehn unternahmen Sie einen Fluchtversuch in die DDR. Was schien dort besser als im Westen?
Das war vor allem eine Flucht von zu Hause. Das war eine Situation, die unhaltbar war. Vielleicht wollte ich ein letztes Signal senden. Genützt hat es nichts, und ich bin etwas später endgültig weggegangen. Vielleicht hätte ich das schon viel früher machen sollen.
Sie sind über die grüne Grenze durch den Minengürtel gerobbt. Haben Sie schon früh die Gefahr geliebt?
Nö. Ich hab mich dabei relativ sicher gefühlt, und verblüffenderweise war auf der anderen Seite niemand. Nicht mal, um einen festzunehmen. Ich musste ins nächste Dorf marschieren und Bescheid sagen. Die haben das aber als jugendlichen Übermut abgebucht und mich bald wieder zurückgeschickt.
Sie verbrachten Jahre in Jugendheimen. Trifft Ulrike Meinhofs Film „Bambule“ das Geschehen?
Das, in dem ich gelandet bin, war noch schlimmer. Glückstadt war damals für die männlichen Zöglinge die Endstation in Deutschland. Wenn man alles durchlaufen hatte und immer wieder abgehauen war, kam man dort hin. Das war … tja, schwer zu beschreiben. Systematische Folter.
Was war so unerträglich?
Man muss sich das so vorstellen: ein geschlossenes Heim, mit einer Mauer drum herum. Ohne Ausgang. Kapos, das heißt, dass die Erzieher unter den Zöglingen Brecher hatten, die ihr Regime gegen kleine Gefälligkeiten durchgesetzt haben. In Glückstadt hat es sogar Tote gegeben.
Sie hatten kein Verständnis für den Jungen, der seinen Freund an die Heimleitung verrät, um seine eigene Haut zu retten?
Dass das für einige Personen attraktiv war, kann ich nachvollziehen, natürlich. Aber das waren nicht die Leute, mit denen ich mich umgeben habe.
Verletzt es Sie, wenn die alten Freunde Sie Verräter nennen?
Gott, ich würde es gut finden, wenn sie stattdessen die andere, die wahre Geschichte erzählen würden. Wie war es denn in Wirklichkeit? Wenn es Verrat sein soll, darüber zu sprechen, wie es war, dann gibt es da auch etwas, was man verraten kann. Wir waren eine Generation, die von den Eltern Auskunft verlangte. Und zwar sehr apodiktisch. Darüber sind ganze Familien auseinander geflogen, meine auch. Dann ist die Auskunftsbereitschaft unsererseits nicht besonders hoch.
Sie sind einer der wenigen Ex-RAF-Mitglieder, die sich öffentlich erklären. Ist es anstrengend, immer über die Vergangenheit reden zu müssen?
Das ist meine Geschichte. Ich kann das nicht ausblenden. Da ist so viel geschehen, das hat so viele Folgen für eine ganze Reihe von Leuten, zum Teil bis in die Gegenwart. Es bestimmt mich noch immer. Ich bin zum Beispiel immer noch auf Bewährung. Noch ist das alles nicht vorbei. Ich glaube, es ist wichtig, wenn ich heute Erklärungen zu diesen Dingen abgebe, dass ich auch deutlich mache, wie ich inzwischen dazu stehe. Sonst wäre das zynisch.
Erinnern Sie sich an Ihre erste Waffe?
Die war völlig unbrauchbar, aber die einzige, die man kriegen konnte.
Ihr Vater war Wehrmachtssoldat. Sie haben sich mit ihm harte Diskussionen geliefert. So stark, dass Sie abgehauen sind. Haben Sie beim Schießen an Ihren Vater gedacht?
Ich bin in einer ländlichen Gegend in Schleswig-Holstein aufgewachsen und war zum ersten Mal mit sechs zusammen mit meinem Onkel bei der Jagd. Es war also bei der RAF nicht das erste Mal, dass ich mit Waffen zu tun hatte. In der Gruppe ging es zunächst um Verteidigung. Mich einfach verhaften lassen, das ging nicht, das wollte ich nicht. Später hat sich das verselbstständigt, bis zur Doktrin „Ohne Waffe ist man nicht Teil des Untergrunds“.
Geht es bei einer Waffe nicht immer nur um eins: das Töten?
Dazu muss man die Situation sehen. Die Bundesrepublik nahm auf Seiten der Amerikaner eine Position im Vietnamkrieg ein, die aus unserer Sicht der Einstieg in den Völkermord war. Aus den Lehren, wie man den Anfang von Faschismus verhindern kann, haben wir geschlossen: Von allein werden sie nicht aufhören und indem man „bitte, bitte“ sagt, auch nicht.
Also Gewalt gegen Gewalt?
So haben wir das gerechtfertigt, allerdings über den Umweg der Dritten Welt. Dass die Revolution morgen hier stattfindet, hat keiner von uns ernsthaft geglaubt. Es gab tatsächlich eine Reihe Völker, die sich durch ihre letzten postkolonialen Kriege befreit haben und danach selbstständig wurden. Wir sahen uns als Teil dieses Krieges. Dass der gewalttätig war, konnte man in Vietnam sehen. Die Frage war: Lässt man diese Art Krieg zu? Wir wollten etwas dagegen unternehmen. Dass wir dabei, zumindest in der Wahl der Mittel, in die Nähe ähnlicher Mechanismen kamen, ist wahrscheinlich eine Generationenfrage.
(Diese Art zu reden. Jetzt rattern die Sätze, sie glauben, Recht zu haben. Die Überzeugung durchdringt sie. Auf jede Frage gibt es eine Antwort, schnell, sauber, klar.)
Gemeinsam mit Sieglinde Hofmann, Willy-Peter Stoll und Stefan Wisnewski haben Sie 118 Schuss auf Hanns-Martin Schleyers Begleiter abgegeben. Macht schießen high?
Eine seltsame Frage! Was soll daran ein Rausch sein? Bei einer Heckler & Koch kann man ein Magazin in weniger als einer Sekunde leer machen. Nach unserem Plan hätte es die Schießerei gar nicht geben sollen. Wir waren überrascht, dass sie zurückschossen. Wir hatten danach kein Triumphgefühl, sondern waren froh, noch da zu sein.
Haben Sie vor Aufregung mal in die Hosen gemacht?
Ich weiß nicht, ob das in dieser Situation passiert ist, aber zu der Zeit ist das mir und anderen in der Gruppe einige Male passiert.
Können Sie Blut sehen?
Ja, ich habe gelernt, mit blutigen Situationen umzugehen.
Gibt es Menschen, die den Tod verdient haben?
Von mir aus kann ich da niemanden nennen.
Aber die RAF hat doch klar unterschieden zwischen lebenswertem und lebensunwertem Leben?
Da muss ich mit einer „Was wäre, wenn …“-Frage antworten. Hätte man Hitler vor 1933 aus dem Verkehr ziehen oder zulasen sollen, dass sechs Millionen getötet werden? Ich halte die Frage für unsinnig, aber wenn man sie aufwirft, denke ich, ist die Antwort schon klar. Es sei denn, man ist ein Zyniker.
Warum fiel die Wahl auf Schleyer?
Er war das Bindeglied zwischen den Verbrechen der NS-Zeit und dem Wirtschaftswunder der BRD. Und er ist scheinbar unbeschadet vom einen ins andere übergegangen.
Wer stand noch auf der Liste?
Es gab in diesem Sinne keine Alternativen, aber es gab mehrere Vorstellungen, in welche Richtung das gehen kann, was kombinierbar wäre.
Gab es die Überlegung, Helmut Schmidt zu entführen?
Nein, da hätte uns ehrlich gesagt auch die politische Begründung gefehlt. Wir hielten ihn für so wichtig nicht. Auch Strauß nicht zum Beispiel. Außerdem hätte sich da die Frage gestellt: Wer will ihn wiederhaben?
Sie sahen Schleyer als das ehemalige SS-Mitglied. Seine Witwe bestreitet, dass ihr Mann Verbrechen im Dritten Reich begangen hat. Erbrachten Ihre Befragungen Klarheit?
Es gab am Anfang die Vorstellung, man könnte mit den Fragen etwas klären. Allerdings hatten wir nicht mit der Art und Weise gerechnet, mit der Schleyer diese Fragen gar nicht an sich heranließ, sondern gleich herumdrehte: „Warum, das müsst ihr doch verstehen, das war bei uns gar nicht so anders, wir waren auch jung und überzeugt.“
Warum scheiterte die Befragung, waren Sie zu schwach, war er zu stark?
Das passt beides nicht. Wir hatten ja auch noch was anderes zu tun. Konnten uns also gar nicht voll auf den Prozess konzentrieren. Was er auch gleich merkte. Er sagte: Wollt ihr mich austauschen morgen, wenn Schmidt okay sagt? Dann kann ich das mit dem Prozess nicht nachvollziehen. Oder wollt ihr mir den Prozess machen? Dann dürft ihr mich morgen konsequenterweise nicht austauschen.
Zwischen Ihnen und Hanns-Martin Schleyer ist genau das passiert, was Sie vorher vermeiden wollten; ein persönliches Verhältnis entstand, das sie zumindest zweifeln ließ, ob Sie ihn erschießen würden. Was hat Sie an Schleyer beeindruckt?
Ich glaube, so etwas lässt sich im Vorfeld gar nicht bestimmen, es lassen sich Kontrollmechanismen einbauen, die eine gewisse Distanz herstellen, aber dann kommt es auch sehr darauf an, wie man persönlich gestrickt ist.
Waren Sie enttäuscht, als Sie merkten, Schleyer ist denen in Bonn nicht so viel wert, sie tauschen ihn nicht gegen die inhaftierten RAFler aus?
Mehr überrascht. Ja, das war ich.
Schmidt, Wehner, Strauß, Zimmermann, Herold, Wischnewski – alle, die in Bonn den Entführungsfall Schleyer „managten“, waren ehemalige Angehörige der Wehrmacht. Haben Sie die alten Männer unterschätzt?
Sie waren eher bereit, einen der Ihren zu opfern, als nachzugeben. Punkt. Das ist eine sehr militärische Überlegung, die wir so nicht erwartet hatten.
Angenommen, Schleyer wäre nicht erschossen worden. Würden Sie hoffen, dass er heute hier am Tisch sitzen würde und zu einem Gespräch bereit wäre?
Oje, vorstellen kann ich mir vieles. Ich weiß nicht, ob es dafür eine Basis gäbe. Es war, wie es war, und ob wir uns heute etwas zu sagen hätten oder ob er nicht alles tun würde, um den Kontakt mit jemand wie mir zu meiden, kann ich nicht sagen.
Haben Sie schon mit seiner Familie gesprochen?
Bisher gab es niemand, der sich an mich gewandt hätte. Ich spreche von mir aus niemand an. Wer bin ich, dass ich alten Schmerz wieder aufreiße bei jemand, der vielleicht gerade zur Ruhe gekommen ist? Ich kann nur sagen, wenn da Fragen sind, stehe ich bereit und werde diese, so gut ich kann, beantworten.
Anfang Oktober 1977: Die Kommunikation mit der Bundesregierung ist ins Stocken geraten, die Gruppe stimmt dem Vorschlag einer Flugzeugentführung zu. Gab es keine Diskussion um die moralische Rechtfertigung, das Leben von 91 unbeteiligten Menschen für die Freiheit von vier Gefangenen und zehn Millionen Mark Lösegeld zu riskieren?
Nicht vier Gefangene. Wir haben die Freilassung aller Inhaftierten gefordert. Das ist wichtig. In diesen letzten Tagen hatten die meisten in der Gruppe keine Vorstellung mehr, wie es weitergehen soll. Es hatte davor keine Überlegungen gegeben, wie man sich verhalten könnte, wenn die Bundesregierung keine Entscheidung trifft. Als wir uns für die Entführung der „Landshut“ entschieden, wussten wir, dass die Stammheimer zuvor nach Entebbe deutlich gesagt hatten, dass sie so nicht befreit werden wollten. Trotzdem schien es uns keine andere Wahl mehr zu geben. Wir wussten doch, dass die Waffen drin waren und was sie tun würden, wenn wir nichts tun würden.
(Die Teller sind leer. Boock streicht mit den letzten zwei Pommes nachdenklich die Pfeffersoße zusammen. Müde sieht er aus. Traurig. Die Kellnerin ist wieder da. „Derf i da Salad au scho abräume? Möchted Se no a Weinle?“ Ja, er nimmt noch einen. Vorfreude in seinem Gesicht. Weiter!)
Seit wann wussten Sie von den Waffen in Stammheim?
Seit ich sie zusammen mit einem anderen aus der Gruppe ausgesucht und reingeschmuggelt hatte. Es mussten sehr kleine Sachen sein. Wir haben alles abgeschraubt, was überflüssig war, dann die Einzelteile in Akten versteckt. Es gab vor den Waffen einen Probelauf mit einer Minox. Als die Fotos zurückkamen, wussten wir, es funktioniert.
Sie haben die Waffen hingeschafft, zum Teil auch die Anwälte?
Ich weiß bis heute nicht, ob die Anwälte das wussten oder nicht.
Wusste das BKA von den Waffen?
Bestimmte Leute in der Bundesregierung wussten das meiner Meinung nach, und ich glaube auch, dass in Stammheim bis zum Schluss abgehört wurde. Deshalb bedurfte es auch keines Kommandos, um die Gefangenen zu ermorden, das ist völlig absurd. Wenn man weiß, das und das passiert, braucht man es nur laufen zu lassen. Ich denke, da waren nur ganz wenige Leute einbezogen, unter anderem der Bundeskanzler, vielleicht der Koordinator für die Geheimdienste und auch in den Geheimdiensten ein oder zwei Leute. Mehr nicht. Auf keinen Fall jemand von der Vollzugsebene oder in Stammheim.
Reden wir jetzt über den Alltag im Untergrund. War die Waffe immer dabei?
Nicht immer. Nicht im Ausland. Sobald man auf dem Flughafen war und wegflog, hatte man keine Waffe mehr.
Wie war der Lebensstil?
Angepasst, sonst flog man auf.
Keine Übernachtungen in teuren Hotels?
So wie es am schnellsten, am unproblematischsten und am ungefährlichsten ging. Das war meistens in den großen und teuren Hotels einfacher als in den kleinen Absteigen.
Haben Sie viel Kleidung gekauft?
Ja, wir hatten nicht auch noch Zeit, um Reinigung zu betreiben.
Gab es eine bevorzugte Automarke, BMW, der „Baader-Meinhof-Wagen“?
In der ersten Generation hat man noch seiner Vorliebe für Fahrzeuge gefrönt, in der zweiten Generation hat man sogar das GTI-Schild weggemacht, damit man brav aussah.
Es gab keine finanziellen Limits?
Das hätten wir gerne gehabt. Das Gegenteil war der Fall, man musste sich für das, was man erreichen wollte, ständig neues Geld beschaffen, also Banken überfallen.
Abends ausgehen, jemand kennen lernen, vielleicht Sex haben, das war nicht drin?
Das konnte man schon machen, aber wenn es rauskam, gab es Ärger. Na ja, es ist mir, aber auch anderen passiert. Ich hab dann ein bisschen süffisant auf die erste Generation verwiesen, dass die das auch so gehalten hatten.
Wurden viele Drogen genommen?
In der Gruppe war der Prozentsatz derer, die völlig drogenfrei lebten, weit unter fünf Prozent.
Wie war das Geschlechterverhältnis in der RAF?
In der Gruppe gab es immer mehr Frauen als Männer, auch im zentralen Zirkel. Warum, kann ich nicht erklären. Das hatte aber keinen Einfluss auf Entscheidungen.
War es Zufall, dass die RAF zum großen Teil aus Bürgerkindern bestand?
Vor allem in der ersten Generation war die Kopflastigkeit groß. In der zweiten Generation gab es auch eine Menge Leute, die wie ich aus der Heimkampagne oder jedenfalls nicht von der Uni kamen.
Barg das Konfliktpotenzial?
Die Ableitung über den Kopf war wohl einer der Hauptgründe dafür, dass notwendige Veränderungsprozesse nicht zustande kamen.
Überrascht es Sie, dass die RAF besonders junge Leute so interessiert?
Ich weiß gar nicht, ob das so ist. Die Mode darum ist vernachlässigenswert, die gibt es um alles, was schockiert. T-Shirts mit RAF-, IRA- oder ETA-Aufdruck gab es in London schon Mitte der Achtzigerjahre. Und wenn manche Leute meinen, das Leben im Untergrund habe etwas Bohemehaftes gehabt, ist das für die eben so. Wer sagt, die RAF gehört zur Popkultur, weiß nicht, für was diese Gruppe stand. Es würde ihr oder ihm vermutlich die Schuhe ausziehen, auch nur fünf Minuten RAF-Realität zu erleben. Alles, was zur Ikone wird, hat keine Rückseite, das ist hohl.
Welcher der in den letzten Jahren entstandenen Filme zur RAF ist der treffendste?
Man kann die RAF nicht in einen abendfüllenden Spielfilm fassen. Vieles, was da entstanden ist, ist sehr fiktional, hat ganz wenig mit dem Geschehen zu tun und kann sich nicht mit Fassbinders Film „Die dritte Generation“ messen. Einzige Ausnahme ist vielleicht der Dokumentarfilm „Blackbox BRD“.
Wo sind die Tonbänder geblieben, die von den Gesprächen mit Hanns-Martin Schleyer während der Entführung gemacht wurden?
Von Silke Maier-Witt, die die Bänder abgehört hat, weiß ich, dass sie den dringenden Rat gab, die Bänder zu vernichten, weil sie sonst vernichtend für die Gruppe seien. Ich hoffe, sie haben das nicht gemacht und sie liegen noch irgendwo.
Geht die Rechnung des BKA zu Schleyers Mördern auf?
Bei den wenigen Fragen, die da noch offen sind, schwingt eine Menge Voyeurismus und Geilheit einer Gesellschaft mit, die auch noch den letzten Blutspritzer sehen möchte. Warum denn? Wir wurden dafür doch alle zu lebenslänglich verurteilt.
Was denken Sie, wann herauskommt, wer Schleyer erschossen hat?
Es sind viele Ereignisse in der Geschichte nie herausgekommen. Der einzige Weg, den ich sehe, ist der, dass die betreffenden Personen sich selbst dazu äußern.
Sind Sie sicher, alles gestanden zu haben?
„Alles“ ist ein riesengroßes Wort, das ich lieber nicht in den Mund nehme. Aber da ist nichts mehr, was ich nicht eingeräumt hätte.
Haben Sie schon Vergebung erfahren?
Ja, sogar öfter. Unerwartet und unverdient.
Ist es wahr, dass die RAF über die Exekution abtrünniger Mitglieder nachdachte?
Es hat zwei-, dreimal in der Gruppe Situationen gegeben, wo jemand aus den eigenen Reihen zum Opfer werden sollte. Auch in meinem Fall. Ich war damals unberechenbar geworden, und dann gab es einige, die sagten, den kann man mit dem ganzen Wissen nicht ziehen lassen. Aber so etwas ist nie passiert.
Wo ist der richtige Ort, die Geschichte der RAF endgültig aufzuklären?
Gott sei Dank habe ich das nicht zu bestimmen. Ich hoffe, dass etwas mehr als Mystifizierung übrig bleibt. Ich hoffe, dass es nicht nur Kult ist, für eine bestimmte Zeit, und dann war es das. Es war schon eine geschichtlich nicht ganz unwichtige Zeit. Schleyer stand für die Zwanzigerjahre, ab den nationalen Burschenschaften über die SS-Studentenschaft bis zum Wirtschaftswunderführer nach dem Zweiten Weltkrieg, und wir waren die Söhne-und-Töchter-Generation, die dagegen war, die den Aufbruch und die Veränderung und den Kalten Krieg beenden wollte. Dieses Scheitern aneinander, das alles ist in dieser Konfrontation zusammengeschnurrt.
War die RAF doch näher an faschistoiden Verhaltensmustern, als sie wahrhaben wollte?
Der Faschismus ist wirklich etwas sehr Einmaliges. Auf der anderen Seite weiß ich aber nicht, ob nicht, falls wir an Macht herangekommen wären, so etwas wie Pol Pot daraus entsprungen wäre.
Ein Zusammenhang, den Hanns-Martin Schleyer als erster so deutlich gemacht hat?
Er hat es in den Gesprächen mit uns formuliert, weil er selbst der Verlockung ja erlegen war. Er hatte ja die Macht und hatte damit den Menschen massiv geschadet, er hat mit seinem Tun vermutlich weit mehr Tote als die RAF produziert. Das ist so.
(So ist das. Im Kopf von Peter-Jürgen Boock. Mehr Tote als durch die RAF … Beruhigend. Zum Schluss steht da doch wieder der alte Anfang: die zwei Seiten. Gut und Böse. „Wir“ und „die“. Auch wenn es das „Wir“ längst nicht mehr gibt. Boock sagt es trotzdem immer wieder. Er sagt: „Wir waren eine Jugendbewegung.“ Was ja die schönste Zeit ist. Unauslöschbar im ganzen Körper.)
Kann man mit der Schuld leben?
Offenbar lebe ich noch. Wobei ich vorhin schon gesagt habe, dass diese Zeit eben noch nicht bewältigt ist. Das heißt, ich lebe damit. Nicht mehr weg davon. Nicht mehr darüber, nicht mehr dran vorbei. Also, ich versuche es zumindest.
Träumen Sie?
Oh ja. Ziemlich viel. Ganz normale Dinge. Man mag es nicht glauben, aber ich bin ein normaler Mensch. Alles, was ich getan habe, war, ich kann es nicht anders formulieren, menschlich. So erschreckend es vielleicht ist, was Menschen Menschen antun können.
HENNING KOBER, 21, lebt als freier Autor in Berlin. Als Kind wunderte er sich, warum es in jeder Stadt Straßen, Plätze und Hallen gibt, die den Namen Hanns-Martin Schleyer tragen
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