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„Wir brauchen eine digital kompetentere Gesellschaft“

Ein Studium der „Digitalen Sozialwissenschaften“ bietet ab kommendem Semester die Uni Hildesheim an. Was das Besondere daran ist, erklärt der Politologe Wolf Schünemann

Produzieren reichlich Datenspuren: Social-Media-Apps auf dem Smartphone. Welche gesellschaftlichen Veränderungen die Digitalisierung bedeutet, aber auch, wie sich die neue Informationsflut überhaupt erforschen lässt: Beides sind künftig Themen an der Uni Hildesheim Foto: Yui Mok/ PA Wire/dpa

Interview Alexander Diehl

taz: Herr Schünemann, warum besteht Bedarf an „Digitalen Sozialwissenschaften“?

Wolf Schünemann: Die Universität Hildesheim hat sich die Digitalisierung als eines ihrer Leitthemen auf die Fahnen geschrieben. Insofern ist sie schon lange dabei, in verschiedenen Fachbereichen die Digitalisierung in Forschung und Lehre zu befördern. Meine Kolleg*innen – aus den Bereichen Informationswissenschaft, Soziologie, Politikwissenschaft – und ich forschen schon lange in dem Bereich. Wir machen aber auch Lehre und Transfer, und das auch unter dem Aspekt der ­gesellschaftswissenschaftlichen Bearbeitung der Auswirkung von Digitalisierung sowie des kritischen Umgangs mit Daten. Gerade da sehe ich die Notwendigkeit für eine möglichst breite Vermittlung von Bildung und Kompetenzen. Da scheint uns eine sozialwissenschaftliche Perspektive besonders geboten.

Inwiefern?

Einerseits geht es darum, die Themenfelder des sozialwissenschaftlichen Studiums um spezifische, auf die Digitalisierung zugeschnittene Elemente zu erweitern. Andererseits beschert uns die Digitalisierung neue Methoden, und wir haben viel mehr Daten zur Verfügung. Wie sich umgehen lässt mit solchen Datenmassen, kompetent und kritisch: Das will gelernt sein.

Von welchen neuen Methoden sprechen wir da?

Die computergestützten Auswertungsverfahren großer­ Datensätze: Einerseits gibt es heute große Kommuni­kationsdatenbestände, etwa Metadaten aus Onlinekommunikation, die wir in den Sozial­wissenschaften analysieren wollen – unter Einhaltung aller Datenschutzgrundsätze. Dazu braucht es neue Verfahren des Data-Mining, der Netzwerk- und der Textanalyse. Diese können der Detektion von Sprach- und Verhaltensmustern, oder dem Ausfindigmachen von automatisierter Aktivität – Social Bots – dienen. All das findet zunehmend statt in den computationellen …

... also rechnergestützten …

… Sozialwissenschaften. Diese Methodenkenntnisse wollen wir vermitteln. Und dazu noch einen kritischen Umgang mit solchen Daten und Methoden.

Wie viel Theorie, wie viel Praxis kommt auf die Studierenden zu?

So ein neues Angebot bietet die Möglichkeit, über den konkreten Verlauf des Studiums Schwerpunkte zu setzen. In einigen Kursen wird der methodisch, datenwissenschaftliche Anteil sehr groß sein. Andere Angebote sollen eher die theoretischen Grundlagen von Digitalisierung und Gesellschaft vermitteln und zur Diskussion über politischen Regulierungsbedarf und -möglichkeiten anregen. Und da will das Studium eine breite Grundlage bieten, so verstehe ich den Anspruch der Hochschule, den Studierenden verschiedene Orientierungsmöglichkeiten und Möglichkeiten der Vertiefung zu bieten.

Foto: Isa Lange/Uni Hildesheim

Wolf J. Schünemann, 37, studierte unter anderem in Kiel, ist Juniorprofessor für Politikwissenschaft – Schwerpunkt Politik und Internet – an der Universität Hildesheim.

Welche?

Nehmen wir die politikwissenschaftliche Perspektive: Ich versuche die neuen Zusammenhänge von Medien und Politikvermittlung zu erläutern, die Grundlagen oder auch die aktuellen Problemfelder der Digitalpolitik. Das geht eigentlich nicht, ohne auch ein technisches Verständnis dafür zu erwerben, wie, sagen wir: Online-Marketing­ funktioniert. In der Informationswissenschaft brauche ich also Grundlagenveranstaltungen zur gefilterten Informationsversorgung oder dazu, wie Suchmaschinen funktionieren. Die Datafizierung …

... die Übersetzung von immer mehr Aspekten des Lebens in computerisierte Daten …

… muss grundlegend verstanden werden. Es reicht nicht, das nur theoretisch zu behandeln. Die Erfahrung lehrt, dass es enorm hilfreich ist, sich etwa anzusehen, welchen Daten-Fußabdruck jeder Tweet und jede Facebook­-Message hinterlassen: Welche Metadaten werden da mittransportiert und wie relevant sind die für die verschiedenen Algorithmen, für Werbetreibende und die Anbieter von Vorhersageprodukten im Hintergrund? Wir wollen lehren, das zu analysieren, um es zu verstehen.

Ihnen geht es auch um „aktuelle soziale Phänomene der Digitalisierung“ – welche?

Zum Beispiel die derzeit viel diskutierten wahrgenommenen Bedrohungen durch Digitalisierung: Hassrede, Fake News. Aber auch Künstliche Intelligenz oder Datenschutz. In Lehre und Forschung behandeln wir in Hildesheim intensiv das Thema Desinformation: Was ist das eigentlich? Warum sind Kommunikationsumgebungen online besonders geeignet dafür? Auf welchen Wegen wird Desinformation verbreitet? Welche Kompetenzen können helfen, uns davor­ zu schützen? Ist Regulierung notwendig?

Und die Hasskriminalität?

Interdisziplinärer Ansatz

Das Studienangebot „Digitale Sozialwissenschaften“ bietet die Universität Hildesheim erstmals ab Oktober 2020 an. Bewerbungen sind noch bis zum 15. August möglich: www.uni-hildesheim.de/studium/bewerbung/bachelor/bewerbungsportal-aktuelle-bewerbungsverfahren

Das erklärt interdisziplinäre Programm bietet eine – laut Hochschule – deutschlandweit derzeit einzigartige Verbindung von Soziologie, Politik-, Informations- und Sprachwissenschaft. Studierende schließen mit einem „Bachelor of Arts“ ab. Einen Masterabschluss könnte es auf mittlere Sicht geben.

Für Erfahrungen im Ausland ist regelhaft ein Semester vorgesehen – etwa an einer von über 40 Partnerhochschulen.

Wir arbeiten in der Forschung intensiv an der Detektion der automatisierten Erkennung von Hassrede, auch in unterschiedlichen Sprachen. Das fließt heute schon in den Studiengang Internationales Informationsmanagement ein, und das wird auch ein wichtiger Baustein für das neue Studienangebot werden. Aber das sind natürlich nur einige aktuelle Aspekte. Dahinter geht es ja um grund­legendere Prozesse, die auch nicht morgen oder übermorgen hinfällig werden, falls wir das Phänomen Hasskriminalität­ durch eine Form der Regulierung oder auch auf technischem Wege abschließend gelöst haben sollten – wovon natürlich nicht auszugehen ist.

Was kann man mit so einem Abschluss dann machen, also: werden? Das hängt einerseits von den Schwerpunkten ab, nehme ich an …

... und das andere ist, dass wir als Sozialwissenschaftler*innen auf solche Fragen immer nur eine weite Antwort geben können: So ein Fach zu studieren läuft nicht auf den einen Beruf, das eine klare Berufsfeld zu. Sie haben durch einen Fokus auf die Digitalisierung vielmehr ganz unterschiedliche Möglichkeiten: Sei es im Journalismus oder der öffentlichen Verwaltung, wo großer Bedarf besteht an solcher Expertise. Auch Parteien und Parlamente müssen zunehmend digitale Kommunikationsstrategien entwickeln und besetzen, ebenso Stiftungen, Gewerkschaften, Verbände. Ganz wichtig ist für mich der Bereich Erwachsenenbildung.

Warum das?

Sich in der und für die Digitalisierung zu bilden: Das hört nicht irgendwann auf. Wir brauchen insgesamt eine digital kompetentere Gesellschaft.

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