Wintersport für Couchpotatoes: Neun Gründe für Schnee
Es soll noch immer Leute geben, die einfach nicht verstehen wollen, wie man stundenlang im Fernsehen Wettkämpfe im Wintersport verfolgen kann. Dabei ist alles ganz einfach.
1. Wintersport ist populär, die Einschaltquoten sind verlässlich hoch. Die ARD hat Samstag und Sonntag Dienst, sie überträgt dann von morgens bis abends Sportarten, die auszuüben gewöhnlich viel Geld kostet (Bobfahren, Rodeln, Biathlon) oder schwer zu trainieren sind (Nordische Kombination), aber außergewöhnlich viele Männer und Frauen vor den Bildschirmen hält. Sonntag muss sogar der Presseclub um 12 Uhr von seinem Platz und kann nur auf Phoenix verfolgt werden. Für den Sport tun die Öffentlich-Rechtlichen offenbar alles - aber warum auch nicht: Es geht um Quote, und die ist so stabil wie außergewöhnlich über den sonstigen Marktanteilen.
2. Wintersport ist populärer als Sport ohne Winterklamotten. ARD und ZDF wissen aus ihren Umfragezahlen, dass Olympische Sommerspiele nicht beliebter sind als jene des Winters. Das liegt selbstverständlich auch an den Identifikationsobjekten, die dem deutschen Publikum nah sein können - und das in Sonderheit, seit dem deutschen Leistungssport die AthletInnen aus der DDR zufielen. Seither ist Deutschland im Wintermedaillenspiegel stets ganz vorn, sommers sind es sogar schon Italiener und Franzosen, die mehr Gold ernten als SportlerInnen aus deutschen Landen.
3. Wintersport ist übersichtlicher. Leichtathletik, Schwimmen, neuerdings auch Rudern und Kanu: Unübersichtliche Disziplinvielfalt, keine deutschen Medaillen, keine HeldInnen, kein Kampf um Sekundenbruchteile, kein Mitfiebern, wenig Anlass, die Ästhetik sportlichen Tuns als solche zu genießen, zumal Doping und die Verdächtigungen um chemische Aufhelfer alles zerstören, was den Glauben an echte Chancengleichheit füttert. Im Wintersport ist schwer zu dopen, und wenn, dann wird es gleich offenkundig, siehe Johann Mühlegg, der langlaufende Wundergnadenwasserzombie aus dem Allgäu, der selbst in Spanien nicht in Frieden gelassen wurde.
4. Wintersport ist natürlich in Burkina Faso, auf den Malediven oder in Peru exotisch. Warum sollten Leute dort Biathlon und Abfahrtslauf und Rodeln gut finden? Ist niemand von denen dabei, also entfällt das Moment der nationalidentitären Verehrung. Umgekehrt ist sicher richtig, dass Deutschland nur deshalb so empfänglich für Athletisches auf Schnee und Eis ist, weil viele der SiegerInnen aus eigenen Landen (meist Bayern, Thüringen, Sachsen) kommen könnten. Für Rodeln interessieren wir uns nur, weil, vor allem bei den Frauen, viele Medaillen über diese Disziplin erzielt werden.
5. Wintersport ist wie jeder Sport eine Sache der Spannung. Nichts ist so langweilig wie eine Aufzeichnung vom Vortag. Ein schneller Griff zum Videotextknopf belehrt über das Resultat - in Echtzeit. Der Wettkampf selbst muss auch nicht mit voller Konzentration in Augenschein genommen werden, während eines Biathlons oder beim Langlauf kann man glänzend frühstücken oder Zeitungen lesen. Der Sound der Live-Anteilnahme bleibt erhalten.
6. Wintersport ist natürlich auch Konjunkturen unterworfen. Als Biathlon noch eine Domäne der Russen und Ostzonalen war und die BRD vor allem beim Ski Alpin reüssierte, war das Schießen und Laufen ein Programm unter anderen und der Abfahrtslauf der Frauen noch ein Quotenhit.
7. Wintersport ist außerdem so fein zeitlich mit der Bundesliga abgestimmt. Beginnt ein Spieltag - wie Ende des Monats wieder -, sind gerade die Wintersportdisziplinen, bis auf das Skispringen, beendet. Die Mediation vor dem Bildschirm im Angesicht von Live-Eindrücken aus winterlichen Landschaften kann sich auf das Hier und Jetzt im Fußball konzentrieren, abends aber geht es manchmal sogar wintersportlich weiter, bei Live-Übertragungen aus Übersee (Vereinigte Staaten, Kanada oder Ostasien).
8. Wintersport hat den Vorteil, dass das menschliche Unbewusste schneeige, also weiße Flächen als unschuldig, rein und sauber wahrnimmt. Dass die meisten Sportarten am Rande von Provinzflecken (Schweiz, Österreich, Bayern, Baden-Württemberg, Norwegen, Südtirol, Schweden, Finnland) ausgetragen werden, nährt die Fantasie, die Welt sei eine Verkettung von possierlichen Dörfern und nicht ein Moloch aus bewaldeten Adern, die von Klumpen (Städten) ständig am Rande des globalen Infarkts bewegt werden.
9. Wintersport wirkt weniger anstrengend, freundlicher als alles was sonst an Sport. Es sieht nicht verschwitzt aus. Läuft einer auf Skiern, wirkt es deodoriert, schießt eine auf Scheiben, hat es etwas von Jahrmarkt mit Anspruch. Das Weiße der Umgebung kontrastiert besonders erotisierend, denn jedeR weiß, dass auf weißen Laken besonders viel Sünde erwachsen kann.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation