Winnenden ein halbes Jahr danach: Der Hass auf den Vater
Hassmails und Drohungen: Die Eltern der Opfer von Winnenden haben politische Forderungen formuliert - und werden seither von der Waffenlobby angefeindet.
WINNENDEN taz | Es ist eine Postkarte der harmloseren Art, die Hardy Schober aus einem Aktenordner holt: eine wirre Collage aus Schlagzeilen und Artikeln über den Amoklauf von Winnenden und Wendlingen, auf denen der Name von Schobers Tochter Jana, einem der Opfer, dick und schwarz eingekringelt ist. Solche Post ist Schober mittlerweile gewohnt. Was das soll, weiß er immer noch nicht genau zu sagen. Einer der üblichen Irren.
Jana Schober war eine von neun Schülerinnen und Schülern, die Tim K. am 11. März 2009 bei seinem Amoklauf in der Albertville-Realschule erschoss. Außerdem tötete er drei Lehrerinnen und auf seiner Flucht drei weitere Menschen, schließlich sich selbst. Schober wollte der sinnlosen Tat etwas Positives folgen lassen und ging gemeinsam mit anderen Eltern der Opfer an die Öffentlichkeit. Sie formulierten politische Forderungen - Forderungen, derentwegen er nun selbst zum Ziel von Anfeindungen und Hass geworden ist.
In seinem früheren Leben hat der 50-jährige Schober als Finanzberater gearbeitet; man kann sich das gut vorstellen bei seinen kurzen Haaren, dem Sakko, den Jeans, der randloser Brille und seiner direkten Art. Seinen Beruf hat er aufgegeben. "Wir können ein zweites Winnenden nicht verhindert. Aber wir können es so unwahrscheinlich wie nur möglich machen. Das ist unser Ziel", sagt er.
Das reicht, um Schober zum Feindbild der Waffennarren dieses Landes zu machen. Per Mail beleidigen sie seine Tochter oder werfen ihm vor, aus dem Tod seiner Tochter Profit ziehen zu wollen. "Morddrohungen", sagt Schober ironisch, "sind zum Glück ziemlich selten." Im Büro des Aktionsbündnisses Amoklauf Winnenden stapeln sich Listen mit Unterschriften für eine Petition, über 50.000 sind schon eingegangen. Irgendjemand hat eine Liste mit Kot beschmiert zurückgeschickt.
Einen Tag nach dem Amoklauf an einem Gymnasium im fränkischen Ansbach haben die Ermittler noch kein Motiv für die Tat des 18-Jährigen. Offenbar aber hatte er das Verbrechen geplant. Das sagte Oberstaatsanwältin Gudrun Lehnberger am Freitag.
Bei der Durchsuchung seines Zimmers hätten die Einsatzkräfte ein Testament gefunden. Das handgeschriebene Dokument sei mit "9/11" - also dem Datum der Terroranschläge von New York - versehen gewesen. Auf einem Kalenderblatt habe außerdem unter dem Datum vom Donnerstag der Eintrag "Apocalypse today" gestanden. "Aus den sichergestellten Schriftstücken ergaben sich keine konkreten Drohungen gegen konkrete Personen", sagte Lehnberger.
Der Schüler, der eigentlich am Freitag zu einer Abschlussfahrt nach Rom aufbrechen sollte, sei in keiner Weise aktenkundig gewesen, sagte Schulleiter Franz Stark. "Er galt als introvertiert." Nach Angaben der Staatsanwältin war er in psychotherapeutischer Behandlung.
Der Schüler war mit fünf Brandsätzen, vier Messern und einem Beil bewaffnet, so Lehnberger. Er habe je zwei Brandsätze in zwei Klassenzimmer geworfen. Damit und mit dem Beil habe er insgesamt zehn Menschen verletzt, neun Schüler und einen Lehrer. Zwei 15-jährige Mädchen aus der 10. Klasse wurden schwer verletzt, sie sind inzwischen außer Lebensgefahr.
Als wenige Minuten nach dem Notruf zwei Streifenpolizisten in der Schule eintrafen, versteckte sich der 18-Jährige in einer Toilette und ging dann mit gezücktem Messer auf die Beamten zu, so Lehnberger. Darauf habe einer der Polizisten geschossen. Der 18-Jährige liegt im künstlichen Koma. Der Ermittlungsrichter erließ Haftbefehl wegen versuchten Mordes in zehn Fällen.
Polizeigewerkschaften und der Deutsche Lehrerverband forderten deutlich mehr Schulpsychologen und kritisierten Versäumnisse der Politik. rtr/dpa/ap
Im Bündnis sind heute noch fünf Familien. Sie fordern in der Petition das Verbot von Killerspielen und großkalibrigen Waffen für Privatpersonen wie den Täter von Winnenden. Faustfeuerwaffen wie Pistolen oder Revolver sollen in privaten Haushalten ebenfalls verboten werden. Andersherum ausgedrückt: Auf Schießständen wären diese Waffen weiterhin erlaubt, ebenso wie Gewehre von Jägern oder Schützen daheim aufbewahrt werden dürften.
Auch für Gewaltprävention an Schulen setzen sich die Eltern ein; sie sind gegen Gewaltdarstellungen in Medien und haben Selbsthilfegruppen für die Angehörigen der Opfer gegründet. Was das Bündnis nicht fordert und nie gefordert hat: ein Verbot des Schießsports oder gar der Schützenvereine.
So genau nehmen das die Gegner des Bündnisses jedoch nicht. Als der Landesverband des Bundes Deutscher Sportschützen e. V. erfährt, dass die Evangelische Landeskirche das Bündnis bei der Gründung einer Stiftung unterstützt, gibt es Protest des Präsidenten. Besorgt fragt er in einem Schreiben an Landesbischof Frank Otfried July, ob es zutreffe, dass seine Mitglieder künftig mit ihrer Kirchensteuer das Aktionsbündnis unterstützen würden. Nebenbei verweist er auf "mehrere hunderttausend" Sportschützen in Baden-Württemberg - eine unverhohlene Drohung mit Kirchenaustritt.
Der Bischof schreibt zurück, es gehe in der Stiftung um Notfallseelsorge, Schulseelsorge oder kirchliche Lebens- und Familienberatungsstellen. Das unterstütze man, die bisher öffentlich genannten Ziele der Stiftung - sprich: das Verbot großkalibriger Waffen - hingegen müssten "gründlich überprüft" werden. Warum sich die Kirche dafür nicht einsetzen will? Pfarrer und Pressesprecher Christian Tsalos sagt, man wolle sich für "nachhaltige Lösungen zur Gewaltprävention" einsetzen, nicht für kurzfristige politische Forderungen. Außerdem wolle die Kirche das Aktionsbündnis und die Schützenvereine Ende September zusammenbringen. Schobers Maileingang ist mittlerweile ein Archiv für die Arbeit der Waffenlobby.
Allerdings erfährt das Bündnis auch Anteilnahme und Unterstützung, besonders, aber nicht ausschließlich in Winnenden selbst. So bekommt Schober immer wieder Post und Anrufe von Menschen, die wegen des Amoklaufs aus Schützenvereinen ausgetreten sind und von den Anfeindungen berichten, denen sie seither ausgesetzt sind. Gerade telefoniert Schober in seinem Büro mit einer alten Dame, die sich danach erkundigt, wie sie das Bündnis unterstützen kann. Er nimmt sich viel Zeit, immer wieder melden sich Menschen mit derlei Fragen am Telefon, und Schober will nicht missverstanden werden.
Über den Vater des Täters, der nun unter neuem Namen in einem Ort in der Nähe lebt, spricht er ruhig. Schober würde ihm gern in die Augen sehen, um zu erfahren, ob er es ernst meinte, als er folgende Sätze schrieb: "Wir wissen, dass es uns an dieser Stelle nicht zusteht, für Tim oder für uns um Vergebung zu bitten. […] Wir möchten Sie aber wissen lassen, dass das Geschehene uns aus tiefstem Herzen leid tut." Schober glaubt, dass dieser Brief vom Rechtsanwalt formuliert wurde. Zu dem Treffen, das Schober gewünscht hat, wird es jedenfalls nicht kommen. Die psychische Belastung für den Vater von Tim K. sei zu groß, teilte ihm dessen Anwalt in dieser Woche mit.
Zumindest Schober helfen bei der Frage nach den Gründen all die Details aus den Polizeiberichten nicht weiter, die in letzter Zeit vor allem über die Magazine Focus und Spiegel Stück für Stück an die Öffentlichkeit gesickert sind: über den psychiatrischen Gutachter Reinmar du Bois, der Ballerspielen Einfluss auf die Tat zuschreibt, oder die Nachricht, dass Jugendtherapeuten die Eltern des Amokläufers vor der Tat vor diesen Spiele gewarnt haben sollen.
Die Öffentlichkeit weiß nun vom Abschiedsbrief von Tim K.; weiß, auf welchen Websites er sich Pornos anschaute, wer seine Vorbilder für den Amoklauf waren, welche Computerspiele er zu Weihnachten geschenkt bekommen hat. Ende September will die Stuttgarter Staatsanwaltschaft über eine Anklage gegen den Vater von Tim K. entscheiden, der die tödliche Munition zusammen mit seinem minderjährigen Sohn gekauft haben soll - als Geschenk des Sohns an den Vater. "Ich klammere mich nicht an einen Strafbefehl oder eine Verurteilung. Ich bin genug enttäuscht worden", sagt Schober. Er spricht ruhig, außer bei Fragen nach dem Verlust, den er erlitten hat. So geht es vielen in der Stadt: Die Tat selbst bleibt unfassbar.
Ein halbes Jahr nach dem Amoklauf ist in Winnenden nicht einmal äußerlich wieder alles beim Alten. Der Unterricht der Albertville-Realschule findet in einem Ersatzgebäude aus 50 Meter langen, innen voll ausgebauten Containern statt, die auf dem Sportgelände neben der Schule errichtet wurden. Das eigentliche Schulgebäude wird komplett umgebaut, die meisten Schüler haben sich dafür ausgesprochen. Das Blumenmeer vor der Schule ist verschwunden, die Übertragungswagen und Pressehundertschaften sind es schon lange. Trotzdem lehnen die Rektorin Astrid Hahn und der Oberbürgermeister Bernhard Fritz sämtliche Interviewanfragen ab, es sind schlicht zu viele.
Stattdessen luden sie zu Beginn des Schuljahres zu einer Pressekonferenz, im runden Sitzungssaal des Rathauses in sachlicher Atmosphäre. Sie lobten die verantwortlichen baden-württembergischen Politiker für ihr vortreffliches Krisenmanagement. Elf neue Vollzeitstellen, verteilt auf 22 Lehrkräfte, bekam die Schule. Seelische Qualen in Zahlen: 600 Schüler erlebten den Amoklauf, 500 haben an psychologischen Gesprächen teilgenommen, derzeit sind 50 in ambulanter psychologischer Behandlung. Alle 101 Schüler der zehnten Jahrgangsstufe, in der es die meisten Opfer gab, haben ihren Abschluss geschafft. Noch heute besuchen Schüler der anderen Klassen Ferienkurse, um den versäumten Stoff nachzuholen.
Fritz erzählt vom "Expertenkreis Amok" der Landesregierung, der demnächst Maßnahmen für den Schutz vor Amokläufen vorlegen will. Immer wieder kreisten die Gespräche in diesem "Expertenkreis" um die Grundwerte unserer Gesellschaft, sagt Fritz - Ehrlichkeit oder Mitgefühl etwa.
Die Zahlen und Kommissionen sind für Fritz und Hahn auch ein Mittel gegen das Gefühl von Ohnmacht und Hilflosigkeit. Doch diese Schutzmauer ist dünn. Als Fritz von der Abschlussfahrt der zehnten Klassen an den Bodensee berichtet und von dem minutenlangen Applaus, den die Schüler den Organisatoren spendeten, weil sie dankbar dafür waren, am Ende ihrer Schulzeit ein positives Erlebnis gehabt zu haben, stockt ihm die Stimme.
"Wir alle sind dabei, einen Weg zu finden, diese schrecklichen Ereignisse zu verarbeiten. Für mich wird es immer einen Teil meines Lebens sein", sagt Astrid Hahn. Sie erzählt von Medien, die Kindern Geld angeboten haben, damit sie ihre Geschichte erzählen. Und sie wehrt sich sachlich, aber bestimmt dagegen, den Lehrern eine Mitschuld am Amoklauf zu geben - der Focus berichtete von einer Nachhilfelehrerin des Amokläufers, die behauptete, die Schule habe nicht gemerkt, dass der Täter dort gemobbt worden sei.
Auch Hardy Schober wird sich wieder Vorwürfe anhören müssen. Ende September wird er bei Stern-TV ein Interview geben und die CD "… die Liebe bleibt" vorstellen, deren Verkaufserlöse dem Bündnis zugutekommen sollen. Nach solchen öffentlichen Auftritten kommen sie wieder, die widerwärtigen Mails und Postkarten. Aber auch die Nachfragen von Menschen, die wissen wollen, ob sie helfen können.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Ungerechtigkeit in Deutschland
Her mit dem schönen Leben!
Kompromiss oder Konfrontation?
Flexible Mehrheiten werden nötiger, das ist vielleicht gut
Eine Chauffeurin erzählt
„Du überholst mich nicht“
Niederlage für Baschar al-Assad
Zusammenbruch in Aleppo
Der Check
Verschärft Migration den Mangel an Fachkräften?
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“