Winfried Hermann über "Stuttgart 21": "Ein unterirdischer Engpass"
Grünen-Politiker Hermann bemängelt Fehlinvestitionen der Bahn wie das Projekt "Stuttgart 21". Dieses ziehe Geld von wichtigeren Bauvorhaben ab. Der Güterverkehr wird sträflich vernachlässigt.
taz: Herr Hermann, Sie als Grüner aus Baden-Württemberg müssten sich gerade richtig freuen: Im Südwesten werden 4 Milliarden Euro in den Bahnhof Stuttgart 21 und 2 Milliarden für eine Strecke nach Ulm in die Schiene gesteckt.
Winfried Hermann: Freuen kann man sich, wenn Geld sinnvoll investiert wird. Aus den 4 Milliarden könnten nach Schätzungen vieler Experten 8 Milliarden oder mehr werden. Mit viel Geld wird ein unterirdischer Engpass gebaut, mit weniger Kapazität als ein Vorortbahnhof. Die anschließende ICE-Neubaustrecke nach Ulm ist eine Fehlplanung, weil sie nicht von schweren Güterzügen befahren werden kann. Hier wird ein technisch und finanziell wahnsinnig riskantes Doppelprojekt geplant und begonnen.
Winfried Hermann, 57, sitzt seit 1998 für die Grünen im Bundestag. Seit 2009 ist er dort Vorsitzender des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung.
Die Bauarbeiten für eines der größten deutschen Bahnprojekte haben begonnen: Bahn-Chef Rüdiger Grube gab am Dienstag den Startschuss für das 4,1 Milliarden Euro teure Vorhaben Stuttgart 21. Es umfasst die Verlegung des Hauptbahnhofs unter die Erde und die Anbindung der neuen Station an die geplante Schnellbahntrasse nach Ulm. Nach mehr als 15 Jahren Planung und heftigem politischem Streit wird nun zunächst das Gleisvorfeld umgebaut.
Während der Feier demonstrierten laut Polizei rund 1.300 Gegner des Projekts. Sie lehnen die Tieferlegung aus Kosten- und Umweltschutzgründen ab und fordern, den bestehenden Kopfbahnhof zu modernisieren. (dpa)
Bahn-Chef Rüdiger Grube sagt, der neue Bahnhof in Stuttgart wird doppelt so leistungsfähig sein wie der bisherige, und nach Ulm könnten auch Güterzüge fahren. Ist der Mann ein Lügner?
Nein, er erzählt, was ihm seine Leute auf Sprechzettel schreiben. Auf der Strecke können nur leichte Güterzüge mit weniger als 1.000 Tonnen Gewicht fahren, die gibt es aber nicht. Der neue Stuttgarter Bahnhof hilft nur dem Fernverkehr. Er wird aber zu 90 Prozent für den Nah- und Regionalverkehr genutzt - und der wird schlechter, weil Anschlusszüge nicht mehr aufeinander warten können. Das ist eine Art Lufthansa-Bahn, die dem Flugverkehr Konkurrenz machen will.
Trotzdem ist seit Jahren in Stuttgart nichts mehr in die Schiene investiert worden.
Nachholbedarf gibt es nicht nur in Stuttgart. Die Bahn hat über 50 Großprojekte, die alle deutlich unterfinanziert sind. Allein für die bereits begonnenen Projekte fehlen bis zum Jahr 2020 über 20 Milliarden Euro. In dieser katastrophalen Lage wird der teuerste Bahnhof Deutschlands gebaut, der anderen Projekten das Geld abzieht. Für das Schienennetz in Deutschland gibt es wesentlich Wichtigeres: beispielsweise die Anbindung der großen Seehäfen oder der Bau der Gütertrasse im Rheintal. So könnten Güter von der Straße auf die Schiene verlagert werden.
Auch ohne Stuttgart 21 fehlt Geld für die Bahn. Einfach nach mehr verlangen kann angesichts der Krise keine Lösung sein. Was also tun?
Bahn und Bund müssen Schluss machen mit teuren Prestigeprojekten. Wenn Menschen umsteigen sollen, dann muss Geld in den Nah- und Regionalverkehr fließen, das ist wesentlich kostengünstiger und effektiver. In den letzten 25 Jahren wurden über 100 Milliarden in den Personen-Hochgeschwindigkeitsverkehr investiert, ohne dass es zu einer nennenswerten Verlagerung auf die Schiene kam. Der Güterverkehr wurde sträflich vernachlässigt.
Ohne Schnellbahntrassen ist die Bahn auf langen Strecken von Norden nach Süden kaum konkurrenzfähig.
Zwar kann auf einigen Strecken die Bahn das Flugzeug ersetzen, die Passagierzahlen rechtfertigen weitere gewaltige Investitionen in Schnellbahntrassen aber nicht. Jetzt haben wir einige Streckenabschnitte, auf denen man 300 km/h fahren kann, danach geht es mit Tempo 80 und langsamer weiter, weil das Geld in der Fläche und für die Instandhaltung fehlt. Dafür und für wirkungsvolle kleinere Projekte müssen wir die knappen Mittel einsetzen. So können wir die Geschwindigkeit des gesamten Schienensystems steigern.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Geschasste UN-Sonderberaterin
Sie weigerte sich, Israel „Genozid“ vorzuwerfen
Prognose zu Zielen für Verkehrswende
2030 werden vier Millionen E-Autos fehlen
Fake News liegen im Trend
Lügen mutiert zur Machtstrategie Nummer eins
Mord an UnitedHealthcare-CEO in New York
Mörder-Model Mangione
Vertrauensfrage von Scholz
Der AfD ist nicht zu trauen
Partei stellt Wahlprogramm vor
Linke will Lebenshaltungskosten für viele senken