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Willkommenskultur auf dem LandFremdeln im Gemeinschaftshaus

Zwei Jahre lang begleitete die Göttinger Werkgruppe2 ein deutsch-syrisches Liebespaar in der Provinz und bastelte daraus Dokutheater. Nun zieht „Im Dorf“ durch die Dörfer.

Am Ende scheitert ihre Liebe an den Umständen: Asan (Ahmad Kiki) und Beate (Elisabeth-Marie Leistikow). Foto: Anton Säckl

Göttingen taz | Raus aus Göttingen, hinein ins sanft auf- und abwellende Eichsfeld, dorthin, wo einst Sackgassendörfer an der Westseite der DDR-Grenze und ihre Ost-Pendants in der 5-Kilometer-Sperrzone vor sich hin darbten. Heute schlängelt sich der ehemalige Todes- als schmucker Grünstreifen durch den ländlichen Raum. Genau dort versucht das freie Theater Werkgruppe2 prototypisch die Gefühlslage der Nation zu dokumentieren – inklusive Denkbewegungen und -verweigerungen.

Als Mikrokosmos haben die Göttinger ein Thüringer Dorf auserkoren, dessen Namen die Theatermacher*innen allerdings nicht verraten – das hatten sie allen Bewohner*innen in dieser Oase für xenophobe Menschen versprochen: keine Moschee weit und breit, nirgendwo eine Unterkunft für Migrant*innen. Willkommenskultur scheint dort überflüssig, denn Fremde sind bisher nur einmal zugezogen – aus dem Nachbardorf. Und jetzt das: Die Tochter des Gastwirts kommt mit einem syrischen Kurden heim und ist schwanger. Während ihres Jobs in einer Nordhausener Unterkunft für Geflüchtete verliebten sich die beiden.

In den vergangenen zwei Jahre interviewten Regisseurin Julia Roesler und Dramaturgin Silke Merzhäuser das Paar immer wieder, um etwas vom Wandel ihrer Beziehung unter der besonderen sozialen Kontrolle in der Provinz zu erfahren. Inklusive der Einflüsterungen einiger Dorfbewohner, die ebenfalls interviewt wurden. 600 Seiten O-Ton-Abschriften sind so zusammengekommen, konzentriert auf 30 Textseiten kommen sie nun zu Gehör – der Authentizität zuliebe mit allen Halbsätzen, Versprechern, Ääähhs und kraus im Nichts verknoteten Formulierungen.

Meist in direkter Publikumsansprache sprechen Profischauspieler*innen, obwohl mit der Übersetzung in szenisches Spiel noch viel mehr zu erzählen wäre. Aber es gibt Musik: Jazzsängerin Esra Dalfidan interpretiert DDR-Schlager und kurdische Lieder, Uli Genenger perkussioniert einen sanften Soundtrack unter die Szenen von „Im Dorf“. Die Produktion tourt durch Gasthäuser und Gemeindesäle der ländlichen Region, um deren Bedeutung als Orte der Selbstverständigung zu stärken.

Ein- und Unterordnen

Heute in Gellierhausen. Etwa 400 Einwohner. Nichts außer der Bushaltestelle „Ortsmitte“ weist auf eine solche hin. Gülleduft liegt in der Luft, durchzogen von Aromen faulender Äpfel. Idyllisch gemeinte Vorgärten im Landhausstil und kantige Neubaumoderne der Zugezogenen wechseln sich ab mit Fachwerknostalgie und dahinbröckelnden Nebenerwerbshöfen. Auf dem Weg zum Friedhof ist das ehemalige Raiffeisengebäude zum Dorfgemeinschaftshaus umgebaut worden. Es verströmt schlichten Mehrzweckhallencharme, besitzt eine breite Theke, eine kleine Bühne und Seniorenheimmobiliar. Familienfeste werden dort gefeiert, Schützen treffen sich zum Katerfrühstück, Spiele- und Bastelnachmittage sowie Tanzabende finden statt. Und heute also Theater. 40 Besucher kommen, Alterschnitt: über 60.

„Hallo, ich bin Beate.“ Beiläufig findet Elisabeth-Marie Leistikow zu ihrer Rolle und liebkost den Zwei-Tage-Bart Asans, gespielt von dem 2015 aus Damaskus geflüchteten Mimen Ahmad Kiki. Bald kleben Lippen gierig an Lippen, „Kein Wunder“ glitzert es silbern dazu vom Bühnenaufsteller. Denn das bedingungslose Aufeinanderzu folgt ja keiner Magie, sondern nachvollziehbaren Kriterien. Mit Asan könne sie sich so gut unterhalten, ist Beates Argument, später fügt sie noch seine Ehrlichkeit hinzu. Mehr ist aber leider nicht zu erfahren, warum sie diese Herausforderung wählt.

Asan ist zwar 20 Jahre alt, gab sich für die Schutzprivilegien geflüchteter Minderjähriger aber als solcher aus, was kein Amt je überprüft hat. So gilt er offiziell als 17-Jähriger und Beate muss sich wegen sexuellen Missbrauchs Schutzbefohlener verantworten. Ihr Arbeitsvertrag wird nicht verlängert, das Paar flüchtet zu Beates Eltern ins Dorfgasthaus, hilft dort mit. Aber nach anfänglicher Neugier und höflicher Gastfreundschaft gehen Nachbarn auf Konfrontationskurs, schneiden das Paar, kritisieren mangelnde Integration, womit mal Ein-, mal Unterordnen gemeint ist.

Willkommenskultur scheint überflüssig, denn Fremde sind bisher nur einmal zugezogen – aus dem Nachbardorf

„Dieses Dorf ist eigentlich nur scheiße“, wird Asan später sagen. Textauswahl und Inszenierung schlagen sich auf seine Seite und versuchen, das zu beweisen. Die Interviewerinnen scheinen vor Ort stets so lange nachgefragt zu haben, bis es aus den Gesprächspartnern heraussprudelt, was sie angesichts des Neubürgers bewegt. Der Bürgermeister jubelt, wie das Dorf nach der Wende wieder flott gemacht wurde, jetzt gebe es 55 Prozent CDU-Wähler, trautes Vereinsleben, keine Arbeitslosen – da würden Flüchtlinge nur stören.

Ein Korn fürs Publikum

Der katholische Pastor fühlt sich von Asan in seiner Panik vor dem Islam bestärkt, obwohl der überhaupt kein praktizierender Moslem ist. Keckes Rassist*innen- und Neonazi-Geschwätz zeichneten die Autorinnen auf, als sie einen Abend lang mit den letzten Stammgästen des Gasthofs gesoffen haben. „Eine üble Stimmung zwischen Anmache und politischer Provokation“, sagt Roesler. Die beiden Darsteller*innen spielen nun all diese Figuren mit grotesken Kostümen – fette Wampe, aufgemalte Modeschäbigkeit – und Masken dermaßen karikierend, als wollten sie sich für die mangelnde Empathie gegenüber den Protagonist*innen rächen.

Nur Beates Vater wird differenzierter dargestellt und berichtet, einst „Ausländer“ grundsätzlich, dann aber nur die abgelehnt zu haben, die sich nicht benehmen können. Mit Asan sei er auf langen Harzwanderungen sogar warm geworden. Kiki spielt die Rolle mit einnehmender Freundlichkeit, gewinnt das Publikum, indem er eine Runde Korn ausgibt. Neigt aber zu Unbeherrschtheiten – als Beate die Schwangerschaft verkündet.

Für die folgenden Probleme sind Kompromisse gefragt. Das Kind wird getauft, darf aber kein Schwein essen. Final öffnet sich Asan und berichtet vom Krieg, vom Verlust der Heimat, Traumatisierungen in der kurdischen Armee und die Not, mit all seinem westlichen Tun im Widerspruch zu den familiären Traditionen der Eltern zu stehen. Man erfährt von der wachsenden Sehnsucht, die Familie nachzuholen – und der schwindenden Kraft, mit dem fremdelnden bis feindlichen Umfeld umgehen zu können.

Nächste Aufführungen

Do, 18. 10., Wehnde, Wehnder Warte Wolff

Fr/Sa, 19./20. 10., Lenglern, Landgasthaus Fricke

Do, 25. 10., Gladebeck, Gasthaus Zum Krug

Fr, 26. 10., Siemerode, Gemeindesaal

Sa/So, 27./28. 10., Rüdershausen, Mehrzweckhalle

Sa, 3. 11., Ecklingerode, Dorfgemeinschaftshaus

So, 4. 11., Ferna, Zum Dorfkrug

Do, 15. 11., Jützenbach, Dorfgemeinschaftshaus

Fr/Sa, 16./17. 11., Nesselröden, Gasthaus Schenke

Infos: werkgruppe2.de

Auch die Paarbindungsenergien scheinen schließlich aufgebraucht. Beate malt sich das Leben als Alleinerziehende aus und starrt ins Leere. Es sieht nach Trennung aus. So wird aus der Integrationsdoku das Drama einer die Alltagsrealität übertrumpfenden, ihren Gesetzen dann aber doch erliegenden Liebe. Das Private scheitert als Politikum, bei diesem künstlerisch überzeugenden Abstecher in die Provinz.

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