Wildtiere im Wendland: „Wölfe brauchen keine Wildnis"
Seit elf Jahren leben Wölfe in Deutschland, jetzt etablieren sie sich in der Lüneburger Heide und dem Wendland. Wolfsberater Kenny Kenner hilft, sich an ihre Anwesenheit zu gewöhnen.
GÖHRDE taz | Der Wolfsberater hat einen Namen wie aus einem Kinder-Comic, er heißt Kenny Kenner und bleibt erstmal vor einem Kothaufen auf einer Weggabelung stehen. Die Losung ist viel zu klein für einen Wolf – sie stammt von einem Fuchs. Den aufmerksamen Augen Kenners ist sie trotzdem nicht entgangen und er weist seine Gäste, dreißig Leute in Wetterjacken und ein Dutzend Hunde, die einen Kreis um ihn und die Fuchsscheiße bilden, auf seinen Fund hin. Wölfe würden ihre Haufen ganz ähnlich dominant positionieren, weil sie damit ihr Revier markieren. Ihren Hinterlassenschaften begegne man häufig auf den Wegen der Menschen, erzählt der Wendländer, denn sie nutzten diese Infrastruktur. Allerdings mitten in der Nacht, um Energie zu sparen.
Es regnet an diesem Tag in der Göhrde und beim Spaziergang mit dem ausgebildeten Wolfsberater Kenner durch das hohe Gras bekommen alle nasse Füße. Kenner wohnt hier um die Ecke und hatte schon 2007 vermeintliche Wolfsspuren entdeckt, was zunächst niemand glauben konnte. Es war die Fährte der ersten das Wendland durchwandernden Wölfin, die sogleich erschossen wurde.
Kenny Kenner zieht sich seine Jack Wolfskin-Jacke zu und setzt die Kapuze auf. Zwei Ehepaare halten sich gegenseitig die Regenschirme, die Hundefreunde lauschen, wann und wo Wölfe auftauchen, ob sie „schon da seien“ und bleiben würden. Die Augen leuchten, die Neugier ist groß, der Wolf scheint ein besonderes Tier zu sein. Er füllt achtzig Seiten im „Handbuch des Aberglaubens“ und wird hierzulande von manchen Leuten euphorisch, von anderen skeptisch erwartet.
In letzter Zeit wurden im östlichen Wendland vermehrt Wölfe gesehen. Man vermutet, dass es sich um ein Paar handelt, das bleiben könnte. Fast alle zwei Wochen erfolge ein Hinweis und eigentlich warte man nur auf ein Bild aus der Fotofalle, die bis jetzt nur ein wolfsartiges Tier ohne Kopf abgelichtet habe, das nicht als Beleg verwertet werden kann, sagt Kenner. Da Wölfe um die fünfzig Kilometer in einer Nacht zurücklegen können, ist es nicht auszuschließen, dass sie sich auch in anderen Ecken des Areals aufhalten. Das Waldgebiet Göhrde frequentierten sie nachweislich zuletzt im März.
Wenn Markus Bathen vom Naturschutzbund Nabu erklärt, dass Wölfe sich bestens „einnischen“ in unserer Kulturlandschaft, dass sie unter Stromtrassen aufgrund des wegsamen Geländes wunderbar Strecke zurücklegen können und auch kein Problem mit lärmenden Braunkohleförderbändern haben, dann müssen die Göhrde und der Gartower Wald paradiesisch für diese Tiere sein. „Immer wenn ein Wolf irgendwo fotografiert wurde und das Bild in der Zeitung erschien, hatte ich am nächsten Tag zwanzig bis dreißig Anrufe von Menschen, die auch einen gesehen haben“, erzählt Kenner.
„Die Leute sehen Wölfe, weil sie welche sehen wollen“, sagt er. Kenner geht diesen Hinweisen nach, findet Fährten im Schnee, versucht auszuschließen, dass es sich dabei um einen von fünf Millionen deutschen Hunden handelt, hofft, dass es statt dessen einer von hundert deutschen Wölfen gewesen sein könnte, deren Reviere sich von Osten nach Westen ausbreiten.
Als Wolfsberater ist Kenner unterwegs, um Nutztierhaltern zu erklären, wie sie ihr Vieh am besten schützen können, dass Schafe zwar ins Beuteschema passen, aber eigentlich genug andere Beute vorhanden ist. Er erläutert, wie Zäune beschaffen sein und wie Herdenschutzhunde ausgebildet werden müssen. Menschen und Wölfe können friedlich koexistieren. Die Botschaft ist, dass der Wolf nur die Akzeptanz des Menschen braucht.
Kenner wird nicht müde zu betonen, dass Wölfe Wildtiere seien, und die Hunde der Gäste, die ab und zu Laute von sich geben, wirken mit einem Mal seltsam degeneriert in diesem Wald. Beinahe schleicht sich die Angst ein, dass der Wolf es sich anders überlegen könnte angesichts seiner übermäßig präsenten Vettern, der grellen Regenkleidung der Kinder und dem Jagdpächter in seinem Jeep, der den Weg der Gruppe kreuzt. Aber „Wölfe brauchen keine Wildnis, nur Ruhe für die Jungen und genug Nahrung“, die sie im deutschen Wildbestand aber ohne Probleme finden, sogar, wenn sie mit dem Jäger teilen müssen beziehungsweise dieser mit ihnen.
Als dann die Gruppe vom Weg abweicht und plötzlich im Feldsteingrundriss eines alten Schafstalls steht, herrscht kurz Stille, denn die Anwesenheit des Tieres wird realer. Die tiefer gelegten Feldsteine sind Zeugen des Vorhandenseins von Wölfen in früherer Zeit, in der die Schäfer wussten, dass die Tiere zuerst graben, um Hindernisse zu überwinden. Der nur in Resten greifbare Stall lässt spüren, wie lange es in diesem Wald keine Wölfe mehr gab.
Nun ist der Wolf zurück. Auf dem Truppenübungsplatz in Munster in der Lüneburger Heide entstand vergangene Woche ein Foto, das die Existenz von zwei Wölfen belegt. Kenny Kenner hat Grund zur Freude.
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