Wiedersehen eines Stadtteils: Erinnerung an die Insel
Der Hamburger Hafen schluckt einen Stadtteil nach dem anderen. Die ehemaligen Bewohner des Stadtteils Neuhof treffen sich alle zwei Jahre, um zu schnacken. Auch noch 40 Jahre, nachdem das Arbeiterviertel auf der Elbinsel ausgelöscht wurde, kommt jeder Fünfte.
Frage: "Wie gehts Dir?" Antwort: "Wo ist Gerda?" Und: "Hallo Gerda!" Frage: "Ist Rudi auch da?" Frage: "Bist Du allein gekommen?" Antwort: "Nee."
Vor ein paar Tagen trafen sich die Neuhofer im Bürgerhaus in Hamburg-Wilhelmsburg. Zum siebten Mal. Wie das manchmal so ist: Ein Ende war der Anfang. Nach der Beerdigung eines Schulfreunds im Jahr 1996 saßen sie so zusammen, die Neuhofer, und als alle aufgestanden waren, um sich zu verabschieden, sagte einer - heute weiß keiner mehr, wer das war - : "Wir müssen uns öfter sehen." Alle nickten und die Rahns, Elke und Klaus, nahmen die Sache in die Hand. Er Schiffsführer, sie Verlagskauffrau.
Zum ersten Treffen, dachten die Rahns, kommen 20, 30. "Erzählt es weiter", sagten sie allen Neuhofern, die sie trafen. Es kamen über 100. Und zwei Jahre später ein paar mehr. 2008 waren es 600 und dieses Mal, bei denkbar schlechtem Wetter, an die 500. Wenn ein Hamburger Stadtteil wie Neuhof der Hafenerweiterung und der Brücke über den Köhlbrand zum Opfer fällt, dann hört vieles auf. Aber nicht alles. Manches fängt an.
Mal sehen, ob das die Altenwerder und die Moorburger, wenn es Moorburg mal nicht mehr gibt, auch hinkriegen. "Wann ham sie angefangen, Altenwerder platt zu machen?", fragt Klaus Rahn seine Frau.
"Die Neuhofer", sagen die Neuhofer, "sind ein besonderer Menschenschlag." Als Insel entstanden bei der Cäcilienflut 1412, als der Gorrieswärder, die eine große Insel in der Elbe, in mehrere kleine Inseln auseinander gerissen wurde, wie wir sie heute kennen, unter anderem Finkenwerder, Altenwerder und Neuhof. Besiedelt ist Neuhof seit etwa 1650, von Milch- und Gemüsebauern. Bei der Belagerung Hamburgs durch die Heere Napoléons im Jahr 1813 wurden die Bewohner vertrieben, 1825 lebten wieder 400 Fischer, Milchbauern, Schiffszimmerer, Handwerke und Tagelöhner mit ihren Familien dort.
seit etwa 1650 war Neuhof von Milch- und Gemüsebauern besiedelt
1813 vertrieben napoleonische Truppen die Bewohner
1825 lebten wieder 400 Fischer, Milchbauern, Schiffszimmerer, Handwerke und Tagelöhner mit ihren Familien dort
1888 nahm die Schiffswerft Oelkers die Arbeit auf
1908 wurde Neuhof nach Wilhelmsburg eingemeindet
Zwischen 1911 und 1914 entstanden 84 Mietshäuser
ab 1906 wurde die Vulkanwerft am Rosskanal gebaut
1937 kam Neuhof mit Harburg-Wilhelmsburg zu Hamburg
von 1970 bis 1974 wurde die Köhlbrandbrücke gebaut
1979 wurde das Wohnviertel abgerissen ROR
Als der Hamburger Freihafen entstand, begann Neuhofs Boom. Der hatte mit den großen Werften zu tun: 1888 nahm die Schiffswerft Oelkers die Arbeit auf. Ab 1906 wurde die Vulkanwerft am Rosskanal gebaut, "der Vulkan", wie die Neuhofer sagen. Zwischen 1911 und 1914 baute die Neuhöfer Wohnstättengesellschaft 84 vierstöckige Wohnhäuser mit 966 Wohnungen für 3.000 Bewohner. Viele kamen aus Stettin, wo es keine Arbeit gab, nach Neuhof. Auch Klaus Rahns Großeltern. Die Meisterwohnungen in den Blocks hatten das Badezimmer in der Wohnung, die Arbeiterwohnungen die Toilette auf halber Treppe.
Die Nazis hatten es auf Neuhof nicht so leicht wie in anderen Stadtteilen Hamburgs. Seit 1937 kam Neuhof mit Harburg-Wilhelmsburg im Rahmen des Groß-Hamburg-Gesetzes zur gefräßigen Hansestadt. Mancher, der partout kein Parteigenosse werden wollte, wurde von der SA gepresst.
In den 50ern war die Welt in Neuhof dann wieder in Ordnung. Zur Bundestagswahl stand auf dem Schwarzen Brett in der Nippoldstraße einfach nur: "Am Sonntag wählen!" Mehr musste man den Malochern von der Elbe nicht sagen. "Es wussten alle, welche Partei sie wählen mussten", sagt Klaus Rahn. "Einen Kommunisten hatten wir", wendet Elke ein. "Ja", sagt Klaus, "aber der war in Ordnung."
Bei der Sturmflut 1962 "ist viel kaputt gegangen", erinnert sich Rahn. Vielleicht auch die Gewissheit, dass Neuhof bleibt. Im Jahr 1970 begann der Bau der Köhlbrandbrücke, die 120 Millionen Mark kostete. Die Brücke verbindet seit 1974 das Hafengebiet von Wilhelmsburg mit der A 7. Die Brücke geht über einen Arm der Süderelbe, der hier 325 Meter breit ist und Köhlbrand heißt.
"Als mit dem Bau der Brücke begonnen wurde wusste jeder, was das bedeutet", sagt Klaus Rahn, 73, "es gab keine rechtlichen Möglichkeiten dagegen etwas zu machen." Neuhof war als Hafenerweiterungsgebiet ausgewiesen. "Jeder, der hinzog, wusste: Es ist nicht auf Dauer." Alteingesessene Neuhofer zogen weg, Ersatzwohnungen wurden zur Verfügung gestellt. "Der Baulärm war unmenschlich", sagt Rahn, aber es haben auch noch Leute auf Neuhof gewohnt, als die Brücke 53 Meter über Neuhof fertig war. Die Sturmflut 1976 hinterließ unbewohnbare Parterrewohnungen, viele Geschäfte machten dicht. Der Hamburger Senat beschloss, Neuhof, das im Flächennutzungsplan des Jahres 1973 als Industriegebiet ausgewiesen war, als Wohngebiet aufzugeben. Im Jahr 1979 wurde das Wohnviertel abgerissen. Nur ein Haus blieb stehen: Nippoldstraße 113. Heute wird Neuhof von einer Ölmühle beherrscht.
Neuhofer wohnen in Harburg, Wilhelmsburg, Seevetal, Richtung Winsen an der Luhe, in San Francisco und Kanada. Die in der Nähe geblieben sind, treffen sich jeden zweiten Sonntag im Café "Pianola" von Willi Adomeit am Wilhemsburger Vogelhüttendeich, zum Jazzfrühschoppen. Der Wirt hatte in Neuhof die Gaststätte "Adomeit", in der den Neuhofern erklärt wurde, dass Essig ist mit ihrem Stadtteil. Alle zwei Jahre ist das große Treffen im Bürgerhaus. Da kommt jeder Fünfte, der in den siebziger Jahren auf Neuhof gewohnt hat. Bei den Treffen gibt es kein Programm. "Das Programm sind die Leute", sagt Klaus Rahn, "sonst passiert hier nichts." Außer, dass man sich gegenseitig erzählt, was in den vergangenen zwei Jahren passiert ist, bevor man sich das erzählt, was vor dreißig, vierzig Jahren passiert ist.
Das Treffen kommt zustande, weil Elke Rahn die Adressen fast aller Neuhofer hat. Eine Dokumentation der Geschichte Neuhofs mit Fotoalbum hat sie auch. Und die Hoffnung, alles mal in einer Ausstellung zu zeigen.
Frage: "Sag mal, wer ist das?" Antwort: "Ja. Das sag ich Dir." Frage: "Ja?" Antwort: "Ja. Da war ich zwei, drei." Antwort: "Ja." Frage: "Wo ist eigentlich Blondie?"
So sitzen die Neuhofer im Bürgerhaus in Wilhelmsburg und reden. Die Damen trinken ein Gläschen Wein, die Herren Pils. Und dann ist es so, als ob Neuhof für diesen Abend wieder steht.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Interner Zwist bei Springer
Musk spaltet die „Welt“
Nach dem Anschlag von Magdeburg
Wenn Warnungen verhallen
Deutsche Konjunkturflaute
Schwarze Nullkommanull
Psychiater über Kinder und Mediennutzung
„Die Dinos bleiben schon lange im Schrank“
Kaputte Untersee-Datenkabel in Ostsee
Marineaufgebot gegen Saboteure
Verbotskultur auf Social Media
Jugendschutz ohne Jugend