Wiederentdeckung von Autor Tom Kromer: Unromantisch unterwegs
Tom Kromers Roman „Warten auf nichts“ von 1935 wird alle 30 Jahre wiederentdeckt. Er beschreibt die „Große Depression“ aus Perspektive der Ärmsten.
Tom Kromers einziger Roman „Warten auf nichts“ gehört zur geheimen Geschichte der amerikanischen Plebejerliteratur. Im Jahr 1935, inmitten der „Great Depression“, erstmals erschienen, wird er alle 30 Jahre wiederentdeckt, auch weil man in Kromer so etwas wie einen Ahnherren von ähnlich sozialrealistisch engagierten Autoren aus dem Armenhaus der USA, den Appalachen, ausmachen kann – von Breece D’J Pancake, Pinckney Benedict oder neuerdings Scott McClanahan. Aber zu einem größeren Lesepublikum dringt er nie wirklich durch. Das hat seine Gründe.
Tom Kromer war ein Linker qua Geburt. Sein Großvater gehört zu den geknechteten Bergwerkern West Virginias und stirbt bei einem Grubenunglück, sein Vater ist Glasbläser, erkrankt an Krebs und kann sich die Behandlung nicht leisten.
Tom ist 14, da erheben sich die Arbeiter gegen die Bergwerksgesellschaften – der Aufstand wird blutig niedergeschlagen. Er versucht diesem Milieu durch Bildung zu entkommen, arbeitet nachts in einer Glasfabrik, tagsüber bei einer Zeitung, um sich das College zu finanzieren. Aber den Abschluss schafft er so nicht.
Die Weltwirtschaftskrise zwingt ihn dann, als Hobo durchs Land zu ziehen. Kromer verdingt sich als Erntehelfer und Gelegenheitsarbeiter, nur gibt es immer weniger Gelegenheiten. Man lacht ihn aus, wenn er nach einem Job fragt.
Tom Kromer: „Warten auf nichts“. Aus dem Englischen von Stefan Schöberlein. Verlag Das Kulturelle Gedächtnis, Berlin 2023. 224 Seiten, 24 Euro.
Fünf Jahre lebt er auf der Straße, eine Weile sogar als Stricher und schreibt schließlich alles auf, um ein „Abbild des Elends, der Sinnlosigkeit und des zutiefst zerstörerischen Effekt dieses Lebens“ zu schaffen, wie er es später einmal formuliert. Genau das ist „Warten auf nichts“ geworden.
Fernab jeglicher Landstreicher-Romantik
Man merkt diesem Roman seine Leidensgrundierung an. Hier fehlt jede Landstreicher-Romantik, die bei Jack Kerouac Jahrzehnte später die Sehnsucht und Abenteuerlust von Generationen wecken wird.
Kromers Erzähler friert in zugigen Güterwägen, wird verprügelt, ausgeraubt, von der Polizei gedemütigt, und er sieht schreckliche Dinge – wie ein unerfahrener Hobo den Sprung auf den fahrenden Zug nicht packt oder eine vor Hunger verrückte junge Mutter ihr Baby im Park aussetzt. Er ist nicht auf der Straße, weil er das wahre, also idealisierte Amerika sucht, um darüber Romane zu schreiben, sondern weil er keine Wahl hat.
Dass er dann doch darüber schreibt, ist pure Selbstbehauptung – und Abrechnung. Die Gesellschaft soll sehen, was die Straße aus einem Menschen macht, der für einen Teller Suppe seine gesamte Würde zu opfern bereit ist. Beiläufig bestätigt er damit auch die alte Marx’sche Doktrin, wonach mit dem „Lumpenproletariat“ keine Revolution zu machen ist.
„Eine Pennerrevolution kannst du mit einem Sack Backwaren aufhalten“, schreibt der Erzähler. „Ich habe gesehen, wie ein einziger Bulle hundert Penner aus einem Wagen rausgeprügelt hat. Wenn ein Penner nichts im Bauch hat, hat er auch keinen Mumm etwas anzufangen. Und wenn der Magen mal nicht schmerzt, dann sieht er den Sinn darin nicht. Was soll ein Penner Krawall schlagen, wenn sein Bauch schön voll ist?“
Held ohne Entwicklungskurve
Diese Apathie macht die Lektüre auch noch ein knappes Jahrhundert später zu einer desillusionierenden Angelegenheit. Sie zeigt sich auch in der völligen Entwicklungslosigkeit des Antihelden. Zu Beginn des Romans irrt der durch die Nacht auf der Suche nach einer Bleibe und einer warmen Mahlzeit, und nur sein letztes bisschen Gewissen hält ihn davon ab, einen Passanten zu überfallen.
Im zwölften und letzten Kapitel liegt er in einer überfüllten Obdachlosenmission. Keiner kann schlafen, weil sie gerade einen der ihren rausgetragen haben. „Ich weiß schon, was die denken. Die denken, dass der Penner auf der Trage gar nicht irgendein Penner ist, sondern sie selbst … So wird es auch mit ihnen zu Ende gehen. Denen ist klar, dass das so kommen wird. Man kann nicht ewig Müll fressen und nachts fast erfrieren. […] Wir alle verfolgen mit großen Augen die Schatten, die an der Decke tanzen. Wir beobachten das Neonflackern der Werbetafel, auf der Jesus Saves steht.“
Der kann nicht helfen, und auch sonst keiner. Wer einmal in diesem Kreislauf steckt, entkommt ihm nicht – das ist der Subtext des Romans. Und das will damals keiner lesen. „Warten auf nichts“ bekommt durchaus positive Kritiken, die Kromer mit Ernest Hemingway und Maxim Gorki vergleichen, aber das bürgerliche Publikum leidet unter Abstiegsängsten in jenen Jahren, die will es nicht noch schüren mit einem Roman, der in plastischen Bildern die dräuende Zukunft vorwegnimmt und sie mit schierer Hoffnungslosigkeit würzt.
Ungeschönter Naturalismus
Kromer hat den Misserfolg vorausgesehen – und der Wahrhaftigkeit halber in Kauf genommen. Das offenbart sein kaum verstecktes Selbstporträt. Sein Alter Ego heißt Karl, ist ein Freund des Erzählers und hat immer Hunger, weil „keiner das Zeug kaufen will, das er schreibt. Er schreibt von verhungernden Babys und Kerlen, die sich auf der Straße herumtreiben, immer auf der Suche nach Arbeit. Den Leuten gefällt sowas nicht. Denn in Karls Geschichten kannst du das Schreien der Säuglinge hören. Da kannst du den Hunger in den Augen der Männer sehen. Karl wird immer hungern. Er wird die Dinge immer so beschreiben, dass du sie beim Lesen vor dir siehst.“
Das ist Kromers poetologisches Programm. Er beschreibt es so wenig gewählt wie möglich, damit es auch seine Leute verstehen, die neben ihm in der Schlange vor der Essensausgabe angestanden, den Missionsfraß runtergeschlungen und danach eine nicht zu Ende gerauchte Kippe aus der Gosse geklaubt haben.
Es ist dieser ungeschönte Naturalismus, der ihn zwar beim Publikum scheitern lässt – ihm aber auch wenigstens ein Stückchen Würde zurückgibt. Da ist eben doch eine Sache, die sich nicht der nächsten „Penne“ oder „Fütterung“ unterordnet – die Literatur.
Kromers Roman starrt vor Dreck, ist auch sprachlich kontaminiert von der Straße – Stefan Schöberlein übersetzt diesen historischen Soziolekt eher zurückhaltend und erspart dem Leser damit die eine oder andere Peinlichkeit –, aber ästhetisch lässt sich der Autor nicht korrumpieren.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Lohneinbußen für Volkswagen-Manager
Der Witz des VW-Vorstands
Anschlag in Magdeburg
Vorsicht mit psychopathologischen Deutungen
Insolventer Flugtaxi-Entwickler
Lilium findet doch noch Käufer
Polizeigewalt gegen Geflüchtete
An der Hamburger Hafenkante sitzt die Dienstwaffe locker
Preise fürs Parken in der Schweiz
Fettes Auto, fette Gebühr
Rekordhoch beim Kirchenasyl – ein FAQ
Der Staat, die Kirchen und das Asyl