Wiederentdeckung einer Malerin: Entsetzen und Verlassenheit
Die Expressionistin Else Herzter ist fast vergessen. Der Verein der Berliner Künstlerinnen 1867 zeigt ihr Frühwerk bis 23. Februar in Berlin.
Alles Leben scheint aus dem Mann gewichen zu sein. Er steht im Vordergrund des 1918 entstandenen Ölgemäldes „Die Mobilmachung“ von der deutschen Malerin Else Hertzer, das derzeit in den Ausstellungsräumen des Vereins Berliner Künstlerinnen 1867 e. V.(VdBK) zu sehen ist. Die Schultern hängen, das Gesicht ist gelblich-grün. Wo die Augen sein sollten, klaffen zwei schwarze Löcher.
Um den Mann herum beginnt alles zu schwanken, verliert seine Form: die Menschenmenge hinter ihm, die vierstöckigen Häuser, der Zeitungskiosk. In der linken Hand hält er ein gefaltetes Blatt Papier. Wahrscheinlich hat er soeben von seiner Einberufung erfahren. Mit dem Bescheid verliert die Welt um ihn herum ihre bisherige Bedeutung.
Es ist beeindruckend, wie Hertzer die existenzielle Bedrohung des Kriegs in diesem Bild expressionistisch verdichtet – ohne auf typische Insignien wie Uniformen, Waffen oder Verstümmelungen zurückzugreifen. Ein Meisterwerk, das mit den weltberühmten expressionistischen Arbeiten ihrer Berliner Künstlerzeitgenossen mühelos mithalten kann.
Einziges Problem: Niemand kennt das Bild. Und seine Malerin. Hertzers Oeuvre umfasst 215 Öl- und Temperabilder, 318 Aquarelle sowie zahlreiche Zeichnungen, Holzschnitte, Kaltnadelradierungen und Schablonendrucke. Nichts davon ist in einem deutschen Museum zu sehen. Es finden sich kaum Texte oder sonstige Zeugnisse über sie. Hertzer geriet in Vergessenheit. Wie so viele Malerinnen ihrer Zeit.
„Kraftvoll expressionistisch – Else Hertzer“ im Projektraum des Vereins der Berliner Künstlerinnen 1867, Eisenacher Str. 118 in Berlin Schöneberg, Do.–Sa. 16–19 Uhr, bis 23. Februar
Mühevolle Suche nach privaten Besitzern
Die Ausstellung „kraftvoll-expressionistisch Else Hertzer“ in dem vor einem Jahr eröffneten Schöneberger Projektraum des VdBK will ihrem Werk eine neue Öffentlichkeit geben. Kuratiert wurde sie von der Künstlerin Sabine Herrmann, die bis 2023 im Vorstand des VdBKs war, und dem Else-Hertzer-Kenner und Autor Mathias Tietke.
Ein Jahr lang hätten sie an der Ausstellung gearbeitet, sagt Sabine Herrmann. In mühevoller Recherchearbeit habe Mathias Tietke private Leihgeber ausfindig gemacht. Gezeigt werden insgesamt 34 frühe Arbeiten von Hertzer, von 1917 bis 1930. Darunter Großstadtszenen, Landschaftsmotive, Stillleben, Portraits, sozialkritische und politische Arbeiten.
Viel sei über Else Hertzer, die lange Jahre Mitglied im VdBK war, nicht bekannt, sagt Herrmann. Sie habe kein Tagebuch geführt, keine Lebenserinnerungen aufgeschrieben. Sie habe nur Kunst gemacht.
Hätte Mathias Tietke nicht so hartnäckig recherchiert, wüssten sie zum Beispiel nicht, dass Hertzer mit immerhin 17 Werken auf Ausstellungen der Berliner Secession vertreten gewesen war. Die Berliner Künstlergruppe gilt als Keimzelle der Moderne, in ihren Ausstellungen gezeigt zu werden, kam einem künstlerischen Ritterschlag gleich. Dennoch fehlt Hertzers Name in allen nachträglich erstellten Listen der dort vertretenen Künstler.
Immerhin, es gibt eine Notiz von Eberhard Roters, dem Gründungsdirektor der Berlinischen Galerie, über die Malerin. Auf einer Karteikarte vermerkte er 1990, dass ihre Freundschaft mit dem Expressionisten Karl Schmidt-Rottluff an ihrem Stil erkennbar sei. Vor allem in den „kraftvollen expressionistischen Aquarellen der zwanziger Jahre“.
Drei einsame Gestalten
Ein gutes Beispiel dafür ist das Aquarell „Vorstadthäuser“ von 1919. Fast ganz in schwarzgrauen Tönen gehalten, ragt im Zentrum des Bildes ein einzelnes, um einen halboffenen Innenhof gebautes Mietshaus auf. „Wie ein Grabstein“, sagt Herrmann, der die Bewunderung für Hertzers Bilder deutlich anzumerken ist. Die schwarzen Fensterhöhlen blicken alle in den engen Hof und lassen die dunklen Wohnungen dahinter erahnen. Die Bäume vor dem Haus sind schwarz und kahl, genau wie die drei einsamen Gestalten dazwischen. Eingerahmt wird das Haus von den rauchenden Schornsteinen mehrerer Fabrikgebäude. So müssen sich die Menschen gefühlt haben, die damals am Rande der Gesellschaft lebten.
Einen ähnlich scharfen Blick für gesellschaftliche Dynamiken offenbart Hertzers Ölgemälde „Kapp-Putsch“ von 1920. Es zeigt in groben Pinselstrichen eine Momentaufnahme des konterrevolutionären Putschversuchs, der die Weimarer Republik beenden sollte. Die Geschwindigkeit, mit der ein Auto angesaust kommt, lässt es zu lang und schmal aussehen. Die nur angedeuteten Insassen werden in ihre Sitze gedrückt, die vorne am Auto befestigte, rote Fahne flattert im Fahrtwind. Die Scheinwerfer spucken das Licht in gelb-weiß-roten Strichen aus. Das Auto erinnere dadurch an „ein feuerspeiendes Ungeheuer“, sagt Herrmann.
In der Ausstellung wird ein Faksimiledruck des Bildes gezeigt. Das Original steht im Depot der Berlinischen Galerie. Die Leihkosten konnte sich der VdBK nicht leisten. Da mache die Berlinische Galerie leider keinen Unterschied zwischen staatlichen Museen und privaten Vereinen, sagt Herrmann.
Die Berlinische Galerie besitzt drei Bilder von Hertzer. Alle drei verstauben dort bisher im Depot. Eines davon soll nun ab März 2025 in der Dauerausstellung zum 50-jährigen Jubiläum der Institution gezeigt werden. Immerhin. Ein Anfang.
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