Wiederentdeckter schwuler Klassiker: Immer schon da

Der Aufsatz „Für den Arsch“ aus den Blütejahren der Schwulenbewegung erläutert, dass auch anale Sexualität in die phallische Ordnung verstrickt ist

Nackter Männerhintern mit Ledergürtel, unter dem ein Smartphone klemmt

Warum nicht mal ein bisschen mehr Hintern wagen? CSD, 2019, Berlin Foto: dpa

Ein, so soll es scheinen, handgekrakelter Strich verdeckt den einen Namen und macht es möglich, einen anderen hinzuzufügen. Die Zwänge der Bürgerlichkeit, die in uns allen wohnen, verlangen nach eindeutiger Klassifizierung und Kanonisierung selbst des als subaltern und radikal Angekündigten.

Dass diese Zuschreibungsakte so deutlich (nämlich: auf dem Titelblatt) erkennbar gemacht werden, ist wiederum nur möglich, da es sich um den kleinen, gewissenhaften August Verlag handelt.

Der eine dieser Namen lautet Guy Hocquenghem und gehört dem bekanntesten Autor im Umfeld der französischen Schwulenbewegung der Siebziger. Dessen ebenfalls dieser Tage neu aufgelegtes Buch „Das homosexuelle Begehren“ stellte die selbst unter Linken angefeindeten Forderungen auf nach Befreiung und Zirkulation des ungebremsten, umherschweifenden Verlangens (statt phallischer Revolutionsapologetik).

Weil das von ähnlichen Gedanken ausgehende Traktat mit dem Titel „Les culs énergumènes“, zu Deutsch etwa: „Die energiereichen Arschlöcher“, erstmals 1973 in einer später als sittenwidrig beschlagnahmten und vernichteten Ausgabe der Zeitschrift Recherches erschienen war, in der zwar die Auto­r*in­nen­namen aufgeführt waren, darunter auch Hocquenghems, aber ohne Zuordnung zu ihren Beiträgen, gingen die Herausgeber der Neuauflage noch zu Anfang ihrer Arbeit davon aus, wie auch alle vor ihnen, Hocquenghem sei der Autor.

Christian Maurel: „Für den Arsch“. August Verlag, Berlin 2019, 144 Seiten, 14 Euro

Dabei handelt es sich in Wahrheit um den weniger bekannten Christian Maurel, wie der Didier-Eribon-Doktorant Antoine Idier kürzlich herausfand.

Der Text liest sich wie ein Kommentar auf Hocquenghems Hauptwerk. Dessen zentraler Gedanke, die gesellschaftliche Sexualität baue auf der Verfolgung der Homosexualität auf, wird jedoch weitergesponnen: Was folgt aus dieser Logik für die Subjektivität derer, die sich der heterosexuellen Ordnung scheinbar entziehen? „Wir sind die Bedrohung der verdrängten Homosexualität aller anderen, und ihre Reaktion darauf ist, was uns geformt hat.“

Scham und Fleischbeschau

Nichts mit der Befreiung also, auch für sie! Während Hocquenghem seine Leser*innen mit der Hoffnung entließ, eine irgendwie strömende und anale Homosexualität besitze an sich schon transformative Kraft, beleuchtet Maurel die Orte, an denen sich diese Hoffnung zerschlägt.

Dort trifft er auf schuldige, schamhafte Inszenierungen von Klassen- und „Rassen“-Zugehörigkeit, die die Anordnung der Sexualpartner bestimme (der reiche Franzosensohn lasse sich vom „Araber“ zum Ausgleich für dessen prekären Status penetrieren, aber bitte anonym und im Dunkeln); er trifft auf einen „Imperialismus der Jugend und des schönen Körpers“, der in Zeiten digitalisierter Fleischbeschau zu einer gigantischen Industrie angewachsen ist; auf jene „Bösartigkeit“ und Bindungsunfähigkeit, die die schwule Szene zu einem so zugigen Ort macht, noch heute; auf ihre die Homosexualität eigentlich verdrängende „Geometrie“, die die Sexualpartner „zitternd im Arschloch die Vagina“ suchen lasse.

Über Sex zu reden, ist im Zuge all der Anerkennungskämpfe in den Hintergrund getreten (ob ihre Vertreter*innen etwa marginalisierte Gruppen innerhalb der LGBTI* unterstützen oder aber sich im Namen einer bedrohten Männlichkeit gegen genau solche Forderungen abdichten wollen); darauf weist Peter Rehberg in seinem Nachwort hin.

Dabei befinden sich, das macht Maurel klar, viele Schwule trotz Coming-outs innerlich auf der Flucht vor der Ordnung. Der ordneten sie insgeheim doch wieder ihre Fantasien unter: „Wir lassen die Homosexualität exakt so ablaufen, wie Heterosexuelle sie sich vorstellen.“ Das heißt: Es gibt „aktiv“ und „passiv“, stark und schwach, maskulin und feminin. Klare Rollen, klare Sache.

Ein Verlangen, „das verschwendet und verschwindet“

Daher auch die Wut vieler Schwuler. Es ist wie mit Hase und Igel: „Ich bin schon da“, verkündet die heteronormative Ordnung zuverlässig nach jedem Versuch, aus ihr auszubrechen.

Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.

Also warum nicht mit ihr kuscheln? „Das Bürgertum lässt uns keine sechsunddreißig Wege in die Homosexualität, es lässt uns einen einzigen“, bemerkt Maurel treffend.

Im „Tonfall einer abgeklärten oder zynischen Tunte“ (Rehberg) leistet er seiner Skepsis zum Trotz die nötige Trauerarbeit, um von diesem Frust ausgehend den Boden für ein radikaleres Experiment vorzubereiten: „ein Verhältnis der Nicht-Konkurrenz und des Nicht-Eigentums“; ein Verlangen, „das sich endlich polymorph verausgabt, sich verschwendet und verschwindet“ und das in diesem Verschwinden Geschlechter, Macht und sicher geglaubte Kategorien mit sich reißt.

Dieser Weg des Sichverlierens führt, daran lässt der Autor keinen Zweifel, in und um und durch den Arsch. Ohne Garantie auf Erfolg.

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