Wie verstrickt war Ulli Blobel?: Die Liebe der Stasi zum Jazz
Ulli Blobel war ein wichtiger Akteur in der Jazzszene der DDR. Doch eine Stasi-Akte wirft einen dunklen Schatten auf sein musikalisches Vermächtnis.
Ulli Blobel ist in Jazzkreisen eine Legende. In Büchern und Feuilletons wird der 73-Jährige als zentrale Figur der DDR-Jazzgeschichte beschrieben, die nicht nur Generationen von ostdeutschen Jazzfans die Bewusstseinshorizonte erweitert hat, sondern mit der Jazzwerkstatt Peitz einen Ort des „Freiheitspathos“ und „Nonkonformismus“ verkörperte, wie die FAZ kürzlich schrieb; eine Anomalie der antiautoritären musikalischen und geistigen Freiheit mitten im repressiven Überwachungsstaat.
Dieses Jahr werden Blobel und die Jazzwerkstatt Peitz, die er zusammen mit Peter „Jimi“ Metag gründete, von der Deutschen Nationalbibliothek zum 35. Jubiläum der friedlichen Revolution geehrt, die Jazzwerkstatt habe „einen […] bislang nicht hinreichend gewürdigten Beitrag zur Geschichte des Jazz in der DDR geleistet“ und „das Potenzial von Instrumentalmusik als Medium des Widerstands gegen staatlich verordnete Kulturpraktiken und ideologische Beschränkungen aufgezeigt“, heißt es zur Begründung.
„Antiautoritär“, „geistige Freiheit“, „Widerstand“. Hehre Worte. Allein, es gibt da ein Problem: Es existiert nämlich eine umfangreiche Stasiakte mit dem Decknamen IM Thomas, die Ulli Blobel zugeschrieben wird, und sie erzählt eine andere Geschichte.
Bei so viel Berichterstattung und Dokumentation zur Jazzwerkstatt Peitz ist es kurios, dass dieser Teil der mit Ulli Blobel verbundenen biografischen Materialien in Deutschland bisher kaum mediale Erwähnung findet. Wenn überhaupt, dann wurde er nur in akademischen Journalen angesprochen, und zwar ausschließlich in Bezug auf ein Buch der in Westdeutschland geborenen und in den USA lebenden Musikwissenschaftlerin Helma Kaldewey.
Sie hat einen kleinen, aber wichtigen Teil ihres 2020 auf Englisch erschienenen Werks „A People’s Music: Jazz in East Germany, 1945–1990“ (Cambridge University Press) Blobels IM-Tätigkeit gewidmet.
Dutzende Berichte über die Jazzszene
Eine IM-Tätigkeit, die acht Jahre angedauert haben soll: von der eigenhändig geschriebenen Verpflichtungserklärung als IM Thomas im Jahre 1973 über Dutzende, zum Teil eigenhändig verfasste Berichte über die Jazzszene, etwa viele Westkontakte, bis zum Stasi-Abschlussbericht 1981. Zu diesem Zeitpunkt wurde die Zusammenarbeit aufgrund zunehmender Unzuverlässigkeit des IM Thomas beendet.
Laut Kaldewey war Blobels IM-Verpflichtung und langjährige Zusammenarbeit mit der Stasi nicht nur eine von vielen notwendigen Bedingungen in der Entstehung der Jazzwerkstatt Peitz, sondern stellte zudem die Basis der Freiheit dar, die Blobel in seiner außergewöhnlich internationalen Veranstaltertätigkeit genossen hat: „So klein seine Unterschrift auch war, dieser ‚Vertrag‘ gab Blobel einen Freibrief für seine großen Ambitionen und ermöglichte es ihm, im Laufe des nächsten Jahrzehnts ein beispielloses internationales Musikförderungsgeschäft aufzubauen, das die kleine Stadt Peitz zu einem Ort von legendärem Ruf in der Geschichte des DDR-Jazz machen sollte.“
Die akribisch recherchierte und international geschätzte Studie „A People’s Music“ nimmt die Akte von IM Thomas nicht als Hauptthema. „Es gibt viel interessantere Aspekte zum Thema Jazz in der DDR“, beantwortet Kaldewey eine E-Mail-Anfrage der taz. Da hat sie nicht unrecht. Und trotzdem spielt die Tätigkeit von IM Thomas eine wichtige Rolle in Kaldeweys Neudeutung im Narrativ über die Entwicklung der Beziehung des SED-Staats zum Jazz. Darüber hinaus stehen die Akte und die Thesen Kaldeweys auch zum Teil in starkem Kontrast zur bisherigen Rezeption von Blobel und der Jazzwerkstatt Peitz.
Deren kulturelle Bedeutung ist unbestritten. Vor dem Verbot durch den SED-Staat 1982 galt Peitz neun Jahre lang als Insel des progressiven Free Jazz und der improvisierten Musik in Osteuropa. Im tiefsten Brandenburg haben sowohl die wichtigsten Akteure der DDR-Jazzszene wie Günter „Baby“ Sommer, Ernst Ludwig Petrowsky, Conny Bauer und Uschi Brünning gespielt als auch radikale Westdeutsche wie Peter Kowald und Peter Brötzmann, die Briten Evan Parker und Paul Lovens, der südafrikanische Schlagzeuger Louis Moholo, der in Westberlin lebende schwedische Schlagzeuger Sven-Åke Johansson – und viele andere mehr.
Eine gut gepflegte Beziehung zur Stasi
Auch eigentlich verbotene deutsch-deutsche Kollaborationen, etwa das Sommer-Winter-Duo von Peter Kowald (West) und Schlagzeuger Gunter Sommer (Ost), kamen dort zustande. Unter den Ohren und Augen der Stasi. Unglaublich.
Gute 27 Jahre, nachdem er 1984 mit einem Ausreiseantrag die DDR für immer verließ, hat Ulli Blobel sein Festival 2011 zusammen mit dem Jazzwerkstatt-Mitgründer Peter Metag wieder ins Leben gerufen. 2023 hat es sein 50-jähriges Jubiläum gefeiert. Für die Ausgabe im August 2024 übernimmt Ulli Blobels Tochter Marie Blobel die Leitung und will die Jazzwerkstatt in die Zukunft lenken. Sie ist selbst eine bekannte Jazzkuratorin.
Doch das kulturpolitische und historische Vermächtnis ihres Vaters ist etwas trüber. Die Stasiakte des IM Thomas umfasst 1.128 Blätter, von denen etwas weniger als ein Viertel einzusehen sind und einiges geschwärzt bleibt. Die Akte zeugt nicht nur von einer langjährigen, gut gepflegten Beziehung zur Stasi, die durch regelmäßige Treffen und Berichte gehalten wird, sondern enthält auch Berichte von anderen IMs in der Jazzszene über Blobel. Überwachung der Überwachenden war für die Stasi ein wichtiger Kontrollmechanismus, um den Wahrheitsgehalt der Information zu überprüfen – und damit auch ihre Umgebung im Griff zu halten.
Worauf Kaldewey in ihrer Studie weniger eingeht: In anderen Teilen der Akte steht sehr wohl, dass IM Thomas seine Skrupel in der Personenbelastung abgelegt haben soll und intensiver an verschiedenen „Zielen“ arbeitete – darunter ein für die Stasi interessanter Westkontakt. In einem weiteren Bericht ist zudem die Belastung eines Veranstaltungskonkurrenten durch IM Thomas belegt.
So entsteht das Gesamtbild einer Person, die ihre engen Kontakte weitestgehend schützen will, aber gelegentlich Gegner und sonstige Hindernisse ins Auge fasst, etwa Störenfriede beim Festival und Rivalen im Kreis der Konzertveranstalter. Aber wie ist die Akte insgesamt zu bewerten?
Nur eine Phantasiegestalt?
„Wer ein IM Thomas war, weiß ich nicht. Ich vermute, es war eine Phantasiegestalt der Stasi selbst. Werbungen für den Staatssicherheitsdienst, über Musiker, über Personen im Publikum oder über ausländische Kontakte zu berichten, lehnte ich immer mit Nachdruck ab“, schrieb Ulli Blobel vor Kurzem in einem offenen Brief an das renommierte Magazin German Studies Review der Johns Hopkins University, nachdem eine deutschsprachige Rezension des Buchs „A People’s Music“ erschienen war, die teils online einzusehen ist.
Vom Buch selbst hält Ulli Blobel offensichtlich auch nicht viel: „Im Übrigen erscheint mir die wissenschaftliche Erkenntnis auf sehr niedrigem Niveau, auf dem eines Vorabiturienten zu liegen.“
An einem sonnigen Frühlingstag sitzt Ulli Blobel neben Tochter Marie Blobel auf seinem Balkon in Berlin-Tiergarten und schüttelt den Kopf. Die Musik von US-Saxofonist Lee Konitz fließt sanft aus der Stereoanlage im Wohnzimmer und vermischt sich mit Vogelgezwitscher. „Ich kenne ja alle Leute in der Aktenbehörde, und ich habe gesagt, wenn es was Interessantes gibt, schickt’s mir doch mal“, sagt er betont lässig.
In den Dokumenten, die Blobel angeblich zugeschickt bekommen hat, sieht er viele Lügen und Ausgedachtes – nur den Abschlussbericht über seine Unzuverlässigkeit als Informationsquelle, den wertet er positiv. Vehement leugnet Blobel nicht nur die Echtheit der angeblich eigenhändig geschriebenen Verpflichtungserklärung, sondern auch, dass er überhaupt jemals unter dem Decknamen IM Thomas für die Stasi tätig gewesen sei.
Auf dem Balkon holt er gegen Kaldewey aus: „Das ist ein sehr schlechtes Buch, sehr schlecht recherchiert. Was sie da von mir schreibt, kann nur jemand schreiben, der nicht aus dem Osten kommt. Denn wer im Osten was aufgebaut hat oder was Kulturelles gemacht hat, musste mit dem Staatsapparat zusammenarbeiten.“
Peitz als oppositioneller Ort
Blobel gibt zwar zu, sich mit der Stasi getroffen zu haben, um Konzerte durchführen zu können – mindestens hundert Mal, schätzt er. An seinem antiautoritären Ruf und der bisherigen Lesart der Jazzwerkstatt Peitz als eines oppositionellen Orts hält er mit Nachdruck fest. „Die Legende sagt ja oft: Peitz ist verboten worden wegen der Musik. Die Jazzwerkstatt ist nicht verboten worden wegen der Musik, sondern wegen uns. Weil wir nicht einzufangen waren.“
Durch einen Anwalt teilt Blobel der taz später mit, dass er zu keiner Zeit eine Verpflichtungserklärung abgegeben habe. Die wohl in seiner Stasiakte befindliche Verpflichtungserklärung sei nicht durch ihn verfasst worden; er habe zu DDR-Zeiten keine Konkurrenten sowie Veranstalter für die Stasi ausgespäht und sich so keinen entsprechenden Wettbewerbsvorteil verschafft. Richtig sei nur, dass es damals notwendig war, als Künstler mit der Stasi zusammenzuarbeiten.
Diese Zusammenarbeit habe er zu keiner Zeit zur Vorteilsverschaffung gegenüber Konkurrenten oder anderen Künstlern missbraucht. Vielmehr sei sie für ihn ein notwendiges Übel gewesen. Er sei von der Staatssicherheit dazu aufgefordert worden, habe es jedoch nicht getan.
Blobel legt weiter Wert darauf, dass er nicht geäußert habe, dass seine Akte der Stasi gefälscht sei. Da er den gesamten Inhalt der Akte gar nicht kenne, könne er hierzu keine Stellung nehmen. Er bestreite nicht, mit der Stasi zusammengearbeitet zu haben. Er stehe zu seiner Zusammenarbeit mit der Staatssicherheit und begründet diese mit der Notwendigkeit, dass Veranstalter stets mit den entsprechenden Behörden eines Landes, in dem sie wirken, zusammenarbeiten müssten. So sei es auch in der DDR gewesen, in der er als Veranstalter tätig war und darum notwendigerweise auch mit der Staatssicherheit zusammenarbeiten musste. So weit die Anwaltspost.
Ende der finanziellen Autonomie
Laut den Berichten in der Akte von IM Thomas – und somit der Interpretation Kaldeweys – hat sich Ulli Blobel aus Wut 1981 entschieden, mit der Stasi nicht mehr zu kooperieren, weil sie ihm verwehrte, zu zwei Konzerten in den Westen zu reisen. Die Folge war laut Kaldewey die Beendigung der finanziellen und organisatorischen Autonomie durch die Stasi. Es folgte ein Audit wegen verschiedenster Arten von Betrug im Bezug auf die Finanzen seiner Veranstaltungen – Praktiken, die in der Akte von IM Thomas gut belegt werden und von der Stasi zunächst toleriert wurden, bis IM Thomas sich nicht mehr kooperativ zeigte.
Dieser Erklärung verweigert sich Blobel. „Jimi Metag und ich waren nie in einer Gewerkschaft oder in irgendeiner politischen Vereinigung. Niemals. Und die konnten uns einfach keine Befehle geben. Und deswegen ist es verboten worden, als es zu groß wurde – und als die Friedensbewegung in Ostberlin aufkam, Schwerter zu Pflugscharen, in dieser Bewegung waren wir aktiv! Und das war der Stasi suspekt. Und deswegen wurde es verboten.“
Wie wahrscheinlich ist es, dass wichtige Teile der Stasiakte von IM Thomas verfälscht wurden? „Null Prozent. Punkt.“ Das sagt der aus Ostberlin stammende DDR-Historiker und Jazzfan Ilko-Sascha Kowalczuk, ohne zu zögern. Kowalczuk war über viele Jahre Projektleiter in der Forschungsabteilung der Stasiunterlagenbehörde.
Er hat nach eigenen Angaben Tausende Akten eingesehen und auch eine Studie über angeblich gefälschte MfS-Akten durchgeführt. Diese hat ergeben, dass nur ganz wenige IM-Akten, weniger als ein Dutzend von Hunderttausenden, gefälscht worden waren. Und die hat die Stasi alle selbst enttarnt.
Gefälschte Akten führten zur Entlassung
Stasiakten waren als Arbeitsunterlagen der Mitarbeiter und für die Arbeit angelegt, nicht für nachträgliche Forschungen. Daher war die Stasi daran interessiert, dass sie realistisch und möglichst wahrheitsgetreu geführt wurden. Unentwegt überprüften Vorgesetzte die Aktenführung. Niemand ist so intensiv überwacht worden von der Stasi wie Stasimitarbeiter selbst, sagt Kowalczuk. 24 Stunden jeden Tag ihr ganzes Leben. Lügen wurden streng bestraft; gefälschte Akten konnten zur Entlassung führen. Verlässliche Information und die Ausnutzung dieser zu Kontrollzwecken war das Kerngeschäft.
Im Fall der Akte über IM Thomas erklärt Kowalczuk das so: „Bei dieser Akte war der Zeitraum viel zu lang, über den sie angeblich gefälscht worden wäre. Berichte und Überwachungsstruktur der Stasi sprechen dem ganz eindeutig entgegen. Es gibt auch keine internen Widersprüche. Das ist von Blobel eine Schutzbehauptung, eine unsinnige zumal. Es ist eine typische Akte aus dem Kulturbereich, wo ein IM zeitweise mit der Stasi redet in der Hoffnung, für seine Arbeit oder seine Projekte Unterstützung von der Stasi zu erhalten.“
Diese Einschätzung stützt die Forschungsergebnisse Kaldeweys, in denen Blobel nicht als böser Agent, sondern als Opportunist auftaucht. So ist aus der Perspektive Kowalczuks Ulli Blobels Dementi von zentralen Aspekten der Akte nicht verständlich: „Das ist keine Akte eines IM, der unentwegt moralisch zu verurteilende Arbeit geleistet hat. Er hätte die Wahrheit sagen können, und niemand würde es ihm übel nehmen – klar mussten solche Sachen wie in Peitz auf allen Ebenen abgesichert werden. Aber jetzt glaube ich Blobel gar nichts mehr. Er schadet nicht nur sich – völlig unnötig –, sondern auch dem Ruf von Peitz! Free Jazz liebte ich in der DDR, weil er der perfekte Ruf nach Freiheit, der ideale Ausdruck von Freiheit in der Diktatur war. Und nun das!“
Das Vermächtnis der Musik
„Ich kenne andere antiautoritäre Leute, die auch für die Stasi gearbeitet haben oder Verpflichtungserklärungen unterschrieben haben“, sagt Thomas Krüger im Café des Charlottenburger Literaturhauses. Der langjährige Blobel-Vertraute und Präsident der Bundeszentrale für politische Bildung, die den ersten Teil der von Ulli Blobel herausgegebenen Bücherreihe „Woodstock am Karpfenteich“ publiziert hat, wirkt gelassen, obwohl er weder die Stasiakte von Ulli Blobel noch den Inhalt von „A People’s Music“ kennt.
Er sagt jedoch, dass diese nicht zwingend mit dem bisherigen Ruf des Festivals und seinem ehemaligen Leiter unvereinbar seien. Eine historische Umdeutung der Jazzwerkstatt Peitz und der Arbeit von Ulli Blobel aufgrund der neuen Erkenntnisse? Die sieht Krüger eher skeptisch.
Wichtig bleiben für ihn die historische Einzigartigkeit, Erlebnisse von Zuschauern und das Vermächtnis der Musik, die bei der Jazzwerkstatt Peitz gespielt wurde – unabhängig von einer möglichen IM-Tätigkeit Ulli Blobels: „Das, was dort erlebt worden ist von den Leuten, die Musik, die dort gespielt worden ist, bleibt von so einem Vorwurf – ob es nun wahr ist oder nicht wahr – unberührt.“
Das stimmt. Was aber nicht unberührt bleibt, ist die größere Geschichte drumherum – ein Vermächtnis, zu dem die Bundeszentrale für politische Bildung maßgeblich beigetragen hat. Deshalb wirkt Krügers anfängliches Desinteresse an einer Ergänzung der bisherigen historischen Dokumentation der Jazzwerkstatt Peitz so verwunderlich. So sieht er keine Notwendigkeit einer zusätzlichen medialen Kontextualisierung auf der Website der Bundeszentrale oder gar einer Änderung zum ersten Band von „Woodstock am Karpfenteich“ angesichts des Inhalts der Stasiakte von IM Thomas.
Auch die Forschungsergebnisse von „A People’s Music“ scheinen Krüger egal zu sein. Kaldeweys Buch werde „nicht so richtig ernst genommen. Aber ich kann’s schlecht beurteilen, ich habe es nicht gelesen.“ Teil eins von „Woodstock am Karpfenteich“ sei eh vergriffen, eine Neuauflage nicht geplant. Nur wenn er valide, überprüfbare Ergebnisse zu dem Thema hätte, würde er gern mit Ulli Blobel ein Interview führen – idealerweise zusammen mit einem Zeitgeschichtler, denn „das gehört zur Seriosität dazu, um nicht drum herumzureden“.
Chancen vor Gericht gleich null
Ulli Blobel hat nun angekündigt, eine grafologische Überprüfung der aus der Akte von IM Thomas stammenden Verpflichtungserklärung durchführen zu lassen, um zu beweisen, dass es nicht seine Handschrift sei. Dies wäre aber nicht der einzige eigenhändig verfasste Bericht in seiner Akte.
Die meisten stammen aus Teil zwei der Akte, dem Berichtsteil, zu dem Blobel, weil er von der Behörde als Mitarbeiter der Stasi eingestuft wurde, laut Stasiunterlagengesetz der Zugang streng untersagt wird, um eventuelle Opfer zu schützen. Er darf nur in Teil eins, die von der Stasi geführte Personalakte, Einsicht nehmen. Aber es steht ihm natürlich frei, mithilfe eines Rechtsanwalts gegen die Einstufung als IM zu klagen.
Nach Kowalczuks Dafürhalten stehen Blobels Chancen, damit vor Gericht zu gewinnen, bei null. Nichtsdestotrotz scheint die Neudeutung der Ereignisse in der Jazzwerkstatt Peitz von 1973 bis 1981 durch „A People’s Music“ nicht in allen Punkten den bisherigen Perspektiven zu widersprechen. Vor allem die historische Bedeutung der Musik, die dort in jenen Jahren live gespielt wurde, und ihr anhaltender Einfluss auf eine Generation ostdeutscher Musiker und Zuhörer:innen ist unbestreitbar. Ulli Blobel hat für den Jazz in der DDR zweifelsohne Wichtiges geleistet. Und im Westen auch. Aber das ist nicht die ganze Geschichte.
Nicht schwarzweiß, sondern grau
Ulli Blobel war sicher nicht der einzige IM-Verdächtige in der DDR-Jazzszene. Es gab andere, sie sind in Helma Kaldeweys Buch gut dokumentiert. Dazu gehörte zum Beispiel der Musikmanager Werner Sellhorn mit seiner langjährigen Tätigkeit unter dem Decknamen IM Zirkel. Auch Schlagzeuger Günter „Baby“ Sommer wurde eine nicht besonders belastende Tätigkeit während seiner Studienzeit zwischen 1964 und 1968 als IM Gunther Sander nachgewiesen.
In der Tat war Ulli Blobel nicht mal der einzige IM-Verdächtige in seiner Familie: Mitte der 1990er wurde durch Recherchen des Schriftstellers Joachim Walter bekannt, dass Blobels Schwiegervater, Reclam-Verleger Hans Marquardt, als IMB (die zweithöchste Stufe der Kollaboration) für die Stasi gearbeitet hat und dabei unter anderem Franz Fühmann und Günter Grass ausspähte. Nach Walter schloss diese Tatsache die vielen wichtigen kulturellen Leistungen von Marquardt – wozu auch die maßgebliche Erweiterung der Universalbibliothek gehört – nicht aus.
Und es gibt auch Beispiele berühmter Musiker, deren Verdienste aufgrund einer IM-Tätigkeit nicht vernichtet wurden, etwa Peter „Cäsar“ Gläser von der Klaus Renft Combo und Peter Meyer von den Puhdys. Nur das Bild ihrer Vergangenheit wurde dadurch komplexer. Und grauer.
Die DDR war bekanntlich in vieler Hinsicht grau, ihre Geschichte auch – wie Ilko-Sascha Kowalczuk und Thomas Krüger mehrfach betonen. Dies könnte zur Jazzwerkstatt Peitz von Journalisten, Musikhistorikern und staatlichen Institutionen besser reflektiert werden – vor allem aber von der Bundeszentrale für politische Bildung und der Deutschen Nationalbibliothek.
Letztere wird Ulli Blobel anlässlich der Übergabe des Jazzwerkstatt-Peitz-Archivs im September ehren. Das wäre doch die perfekte Gelegenheit, ein historisch akkurates Bild des Festivals in den vielen subtilen grauen Schattierungen zu malen statt in Schwarz-Weiß. Oder gar in Schwarz-Rot-Gold.
Das hat die Geschichte der Jazzwerkstatt Peitz verdient, aber auch ihre Zukunft, die jetzt in den Händen von Marie Blobel liegt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Kampf gegen die Klimakrise
Eine Hoffnung, die nicht glitzert
Müntefering und die K-Frage bei der SPD
Pistorius statt Scholz!
Zweite Woche der UN-Klimakonferenz
Habeck wirbt für den weltweiten Ausbau des Emissionshandels
Krieg in der Ukraine
Biden erlaubt Raketenangriffe mit größerer Reichweite
Angeblich zu „woke“ Videospiele
Gamer:innen gegen Gendergaga
Haldenwang über Wechsel in die Politik
„Ich habe mir nichts vorzuwerfen“