Uniformierte chinesische Studenten stehen stramm

Keine Soldaten sonder Studenten: Zeremonie am Märtyrer-Denkmal am Loushanguan-Pass Foto: Fabian Kretschmer

Wie Chinas KP Geschichte inszeniert:Helden für heute

Die Studentin Xie Shixue wandelt auf den Spuren Mao Zedongs – zu Fuß und per App. Sein „langer Marsch“ gilt als Mythos der Volks­republik.

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18.12.2019, 15:07  Uhr

Es ist ein feuchtkühler Wintermorgen am Loushanguan-Park. Ein steinerner Obelisk mit goldenem Hammer und Sichel ragt an dem bewaldeten Berghang hervor, der von dicken Nebelschwaden umhüllt wird. Im Februar 1935 bezwangen Mao Zedong und seine Truppen beim Langen Marsch diesen unwirtlichen Gebirgspass in der südchinesischen Provinz Gui­zhou.

Knapp 85 Jahre später marschieren trotz des Nieselregens rund 60 Studenten der Universität Südwestchinas, allesamt in himmelblauer Militäruniform gekleidet, mit demonstrativem Elan die Stufen zum historischen Gedenkort hinauf. Wo einst Mao seine Macht innerhalb der Kommunistischen Partei gefestigt hatte, entdeckt nun die Jugend Chinas den zentralen Heldenmythos des Landes erneut für sich.

„Wir sind alle Mitglieder der Kommunistischen Partei“, sagt die Psychologiestudentin Xie Shixue, die ohne zu überlegen Mao als ihr politisches Vorbild nennt. „Früher konnten wir den Langen Marsch nur im Klassenzimmer studieren. Seit 2013 gehen wir mit unseren Kommilitonen jeden Monat auf Exkursionen und laden Referenten zu Vorträgen ein“, sagt die 25-Jährige.

Dann zückt sie ihr Smartphone: „Auch haben wir eigene Apps, mit denen wir lernen, das Wissen über den Langen Marsch in unserem Alltag anzuwenden“, sagt sie, während ihre Kameraden gerade für ein Gruppenfoto die Flagge der Volksrepublik China ausbreiten.

Das Heldenmythos wird wieder aufgewärmt

Der Lange Marsch gilt als der zentrale Heldenmythos der Volksrepublik Chinas. Seit Amtsantritt des Präsidenten Xi Jinping im Jahr 2013 wird jenes Geschichtskapitel wieder hervorgekehrt: Das Fernsehprogramm ist voll von historischen Seifenopern aus jener Zeit, viele Restaurants sind im Stile der Roten Armee dekoriert. Auch in seinen Reden bedient sich Präsident Xi wiederholt dieser historischen Metapher: Im Mai dieses Jahres rief er etwa die Bevölkerung dazu auf, sich auf einen „neuen langen Marsch“ vorzubereiten – angesichts des eskalierenden Handelskonflikts mit der US-Regierung. Auf die heutige Zeit umgemünzt bedeute er für die Volksrepublik, sich wirtschaftlich von der Technologie der USA unabhängig zu machen. Wann immer es darum geht, an den Patriotismus zu appellieren oder sich für eine entbehrungsreiche Periode zu wappnen, muss der Lange Marsch herhalten.

Als militärischer Rückzug lässt sich jene Periode aus dem Jahr 1934 beschreiben, bei der die Rote Armee 12.500 Kilometer durch die unzugänglichen Provinzen im Hinterland gezogen ist – stets auf der Flucht vor der von Chang Kai-shek geführten Kuomintang.

Obelisk

Das Märtyrer-Denkmal erinnert an die Toten des Langen Marschs von 1934/35 Foto: Fabian Kretschmer

Für Peking ist der Lange Marsch eine absolute Siegesgeschichte, vergleichbar mit David gegen Goliath: die 87.000 Soldaten der Roten Armee – primitiv ausgebildet, doch dem Geiste der Revolution in sich tragend – konnten sich der 400.000 starken Kuomintang widersetzen. Dass diese zu jener Zeit ihre besten Truppen in den Kampf gegen die japanischen Streitkräfte schickten, wird in der Geschichtsschreibung Chinas unter den Teppich gekehrt.

Um sich der internationalen Presse zu erklären, hat das staatliche Informationsamt in Peking zu einer Pressereise auf den Spuren des Langen Marschs geladen. Wer mit der Regierung durch die Provinzen tourt, nimmt an einem strikt durchorganisierten Kulturprogramm teil: Fünf Flüge durch drei Zeitzonen, ein gutes Dutzend Museen und Gedenkhallen, stets in Begleitung örtlicher Journalisten, Parteikader und Forscher. Die dicht getaktete Terminhetzerei hat natürlich auch Kalkül: Zu sehen bekommen die Korrespondenten nur, was in die chinesischen Agenda passt.

„Der Grund unserer Reise ist es, mehr über die Kommunistische Partei und die Geschichte Chinas zu erfahren. Jede Frage, die Sie haben, können Sie uns stellen“, sagt Xi Yanchun, Vize-Leiterin der Pressestelle des Informationsamts, während der Reisebus unter der prallen Sonne der südchinesischen Jiangxi-Provinz zum ersten Termin brettert. „Hier hat der Lange Marsch seinen Anfang genommen, viele hochrangige Regierungsbeamte warten bereits auf die Ankunft unserer Medien-Freunde“, sagt Frau Xi mit euphorischem Lächeln.

Im Huangsha-Dorf begrüßt der lokale Parteisekretär, ein jovialer Mann in brauner Lederjacke, die Medien-Delegation. Er erzählt von den 43 Familien im Dorf, die damals in ärmlichen Hütten hausten. Insgesamt 70 Männer unter ihnen schlossen sich dem Langen Marsch der roten Armee an. Zurückgekehrt ist keiner von ihnen. Für das Märtyrertum jedes Verstorbenen wurde eine Kiefer gepflanzt, mittlerweile ragen die 70 Bäume am umliegenden Berghang in den Himmel.

Der Parteikader im Dorf Huangsha

„Noch vor Kurzem haben die meisten Menschen in Hütten gewohnt“

Das Leben der Dorfbewohner hat sich dank der Regierung grundlegend verbessert, erzählt der Parteikader: „Noch vor wenigen Jahren haben die meisten Einwohner noch in einfachen Hütten gewohnt – ohne fließend Wasser, ordentliche Betten, geschweige denn Klimaanlage.“ Längst sind die Dorfbewohner aus Huangsha in moderne vierstöckige Apartmenthäuser umgezogen. Die historischen Hütten stehen nur noch für die Touristen, um jene entbehrungsreiche Zeit in Erinnerung zu halten.

Zu Recht preist die Regierung mit großen Stolz den wirtschaftlichen Aufstieg der Volksrepublik Chinas an, die jedes Jahr Millionen aus der Armut hievt. Wenn es jedoch um die historische Geschichte der Kommunistischen Partei geht, dann nimmt die Parteipropaganda zuweilen überhand: In einem Gedenkmuseum erzählt eine Reiseleiterin die Geschichte eines Soldaten der Roten Armee, der eine weinende Gemüseverkäuferin am Straßenrand erblickt. Die Schmach der Frau besteht aus einer Handvoll gefälschter Münzen, die ihr unwissentlich untergejubelt wurden. Der Soldat fasst sich ans Herz und tauscht ihr Falschgeld gegen seine eigenen Scheine ein. Später werden ihm jene Münzen, gelagert in seiner linken Brusttasche, mehrfach von den Maschinengewehrsalven der Kuomintang retten. Hinter einer Glasvitrine ist nun jene zerschossene Soldatenuniform zu besichtigen – und soll für bare Münze genommen werden.

Chinesische Studenten in Uniform

„Wir sind alle Kommunisten“: Studentin Xie Shixue steht auf Mao Foto: Fabian Kretschmer

In Schanghai oder Peking würden solche Pathos-triefenden Geschichten wohl vornehmlich höhnendes Gelächter hervorrufen. Letztendlich offenbart sich bei der Reise durch das ländliche China eine riesige Kluft – zwischen Jung und Alt, den wohlhabenden Metropolen der Ostküste und dem unterentwickelten Hinterland. Wer sich bei der urbanen Jugend nach dem Langen Marsch erkundet, erntet oftmals ahnungsloses Achselzucken, nicht selten gar höhnisches Gespött. Für die konsumorientierten Millennials aus Peking und Schanghai sind die Ideologie-Kurse an den Universitäten ein notwendiges Übel und die geschwurbelten Reden über die Parteigeschichte entstammen einer weit entfernten Vergangenheit. Ihre Lebensrealität ähnelt vielmehr denen anderer Großstädter internationaler Metropolen: Sie sorgen sich um die steigenden Mieten, den Konkurrenzdruck am Arbeitsmarkt und die Verwirklichung individueller Lebensentwürfe. Aufgewachsen in materieller Sicherheit, ist ihnen die entbehrungsreiche Zeit der Elterngeneration fremd.

Für den Großteil der Bevölkerung jedoch speist sich die eigene Identität aus den heroischen Geschichten der ersten Parteigeneration: Sie war es, die den Grundstein im Befreiungskampf gegen die korrupte Kuomintang geführt hat. Sie war es, die das Land befreit, die Großgrundbesitzer enteignet und das moderne China gegründet hat. Viele sind der Kommunistischen Partei dankbar, innerhalb weniger Jahrzehnte der bitteren Armut entflohen zu sein.

Zwei Flugstunden westlich in der Provinz Gui­zhou: Vor einer Freilichttribüne führen die Dorfbewohner Loushanguans mit viel Pyrotechnik und orchestraler Musikuntermalung den historischen Kampf zwischen den „barbarischen“ Kuo­mintang und der revolutionären Roten Armee auf. Die meisten Zuschauer blicken jedoch mehr auf ihr Smartphone-Display als auf das dargebotene Schauspiel. „Roter Tourismus“ nennt sich das staatlich initiierte Programm, mit dem die Regierung einerseits die ideologische Bildung seiner Bevölkerung auf Vordermann bringen und gleichzeitig abgelegene Landstriche entwickeln will.

Jia Shi, Bauer in Shaanxi

„Der Zukunft, die mir noch bleibt, blicke ich mit Freude entgegen“

Unter Präsident Xi erfährt der Rote Tourismus eine Aufwertung: Die Jugend des Landes soll die Parteigeschichte für sich entdecken.

Der 56-jährige Kunsthandwerker Ma Yi, ein kleingewachsener Mann mit Camouflage-Kappe auf der Stirn, zählt zu den Nutznießern jener Entwicklung. Nur einen Steinwurf von der Freiluftshow entfernt, führt er einen Betrieb für gewebte Stühle und Möbel. Dass Herr Ma mittlerweile erfolgreicher Unternehmer mit einem Jahresumsatz von umgerechnet rund 500.000 Euro ist, zählt zu den Erfolgsgeschichten des modernen Chinas.

Der Unternehmer mit Mao im Blick

Der Sohn einer Bauernfamilie zog als junger Mann in die Industriestadt Guangzhou, um in Fabriken als Arbeitsmigrant seinen Lebensunterhalt zu bestreiten. Aufgrund der massiven Infrastruktur-Investitionen in seinem Heimatdorf kamen jedoch immer mehr kaufkräftige Touristen. Ma Yi sah damals seine Chance gekommen: Mit seinem Ersparten zog er zu seiner Familie zurück und wechselte ins Unternehmertum. Seit 2017 verkauft er seine Möbel zudem über Taobao, der E-Commerce-Plattform des Internetriesen Alibaba, in alle Teile Chinas. Bezahlt wird ausschließlich digital – per Smartphone-App. „Vor zehn Jahren bin ich wie viele andere Arbeitsmigranten in meine Heimat zurückgekehrt. Mittlerweile sind die meisten meiner Bekannten von früher Chefs von kleineren Unternehmen“, sagt er. Sein einst abgeschiedenes Heimatdorf weist mittlerweile alle Bequemlichkeiten des modernen Lebens auf: stabile Stromversorgung, gute Straßenanbindungen und schnelles Internet.

Mit dem Flugzeug geht es weiter nach Yan’an in die Provinz Shaanxi: trockene Berghänge in ausgewaschenen Ockertönen dominieren die Landschaft, beißender Wind peitscht durch die Felder. An einer verlassenen Landstraße muss man schon genau Ausschau halten, um das unscheinbare Steinmonument zu sehen, an der Mao Zedong einst seine „Schneefeld-Rede“ gehalten hat. Hier, am Ende einer 12.500 Kilometer langen Odyssee, hat der Revolutionär den Langen Marsch für beendet erklärt. Nur rund 5.000 Anhänger der Roten Armee haben ihn überlebt. Doch in der Abgeschiedenheit der Shaanxi-Provinz formierten sich die Kommunisten neu – um schließlich das chinesische Volk nach Jahrzehnten der Bürgerkriegs hinter sich zu vereinen.

Jia Shi, ein 83-jähriger Bauer mit tiefen Furchen im Gesicht, lebt seit mehreren Generationen in jener Ödnis. Sein Großvater, so erzählt er bei warmen Wasser in seinem unverputzten Haus, habe Maos Rede noch persönlich erlebt. Der Aufstieg Chinas ist an ihm vorbeigezogen, die Hauptstadt Peking hat er nie betreten. Und doch blickt Jia Shi mit Stolz auf sein Leben zurück; seine sieben Kinder und fünf Enkelkinder. Was für ihn der lange Marsch bedeute? Die entbehrungsreiche Zeit während seiner Jugend, der ständige Hunger und die Kälte. „Mein Leiden gehört jedoch längst der Vergangenheit an. Der Zukunft, die mir noch bleibt, blicke ich mit Freude entgegen.“

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