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Widerstand in BelarusDemokratie im Hinterhof

Seit Monaten demonstrieren die Belaruss*innen gegen ihren Präsidenten und für einen Neuanfang im Land. Sie haben alle überrascht – auch sich selbst.

Belaruss*innen demonstrieren gegen die Amtseinführung von Präsident Alexander Lukaschenko am 23. September 2020 Foto: Natalia Fedosenko/Tass via imago

Berlin taz | Sie sind aufgestanden und haben schon jetzt Geschichte geschrieben: Abertausende Belaruss*innen, die in diesem Jahr angetreten sind, sich ihres Präsidenten zu entledigen. „Ich habe mich in die Menschen meines Landes verliebt“, hat Swetlana Alexijewitsch, belarussische Literaturnobelpreisträgerin von 2015, im Sommer dazu gesagt.

Dieses Gefühl teilt Alexander Lukaschenko nicht. Beim Anblick seiner Landsleute sieht er rot, genauer gesagt Weiß-Rot, und da liegt das Problem. Diese Farben – auf der Staatsfahne der 1918 gegründeten ersten unabhängigen belarussischen Volksrepublik verewigt – sind das Symbol des Widerstandes gegen den Dauerherrscher schlechthin.

Der 9. August, Tag der diesjährigen belarussischen Präsidentenwahl, half der Opposition. Die Wahl will Lukaschenko mit angeblich über 80 Prozent (!) der Stimmen gewonnen haben. Doch diese dreiste Lüge ist selbst den mit Wahlfälschungen bestens vertrauten Belaruss*innen zu viel: Sie ziehen auf die Straßen, zeigen Flagge, und das nun schon seit über vier Monaten.

Und sie nehmen es mit Humor: „Präsident Donald Trump ruft vor der US-Wahl bei Lukaschenko an und bittet ihn, sich Lidia Jermoschina (Vorsitzende der belarussischen Zen­tralen Wahlkommission; Anm. d. Red.) ausleihen zu dürfen. Lukaschenko stimmt zu. Einige Zeit später meldet sich Trump erneut. Er weint und bittet Lukaschenko, Jermoschina wieder zurückzunehmen. Der Mann aus Minsk fragt: ‚Na, haben sie dich gewählt?‘ ‚Sie haben gewählt – dich!‘, lautet die Antwort.“

Brutale Misshandlungen

Leider ist Lukaschenko für derlei Anekdoten nicht empfänglich. Auf die Proteste antwortet das Regime mit Gewalt. Das Wort awtosak (deutsch: gepanzerter Mannschaftswagen der Polizei) ist zum Synonym für brutale Misshandlungen und Folter festgenommener Demonstrant*innen geworden.

Die Verlosung

Die taz hat die belarussische Oppositionspolitikerin Swetlana Tichanowskaja in Berlin getroffen. Das ganze Gespräch unter: https://taz.de/Opposition-in-Belarus/!5733819/Für taz-LeserInnen hat sie 10 Neujahrskarten mit mit guten Wünschen unterschrieben. Wir verlosen diese Karten. Zur Teilnahme an der Verlosung schicken Sie uns bis zum 3. Januar eine e-mail mit dem Betreff „Belarus“ und Ihrer Adresse an aus_sek@taz.de

Der Rechtsweg ist ausgeschlossen.

Doch die Menschen lassen sich nicht länger einschüchtern. Die Oppositionsbewegung verstetigt sich, was wohl auch die Be­la­rus­s*in­nen selbst überrascht. Angehörige vieler Berufs- und Altersgruppen sind beteiligt, und das nicht nur in der Hauptstadt Minsk: Schü­ler*in­nen, Studierende, Künst­ler*in­nen, Ärz­t*in­nen, IT-Leute, Ar­bei­te­r*in­nen, Sportler*innen und Rentner*innen.

Mindestens genauso vielfältig und kreativ sind die Formen des Protestes. Längst braucht es nicht mehr nur die Straße, um Gesicht und Haltung zu zeigen. Die Eroberung des öffentlichen Raums findet in den Innen- und Hinterhöfen von realsozialistischen Plattenbauten statt.

Den Anfang macht der Minsker Häuserkomplex Kaskad. Dort taucht im Spätsommer eine Wandmalerei mit dem Konterfeis zweier DJs auf, die den Protestsong „Peremen“ (Veränderungen) aus der Zeit der Perestroika öffentlich zu Gehör gebracht hatten. Hinzu kommen weiß-rote Bändchen, die von Windböen erfasst wie kleine Fähnchen aussehen, sowie gleichfarbige Flaggen.

Unterhosen in Weiß-Rot

Werden die ver­femten Insignien von der Staatsmacht entfernt, was regelmäßig geschieht, antworten die Anwohner*innen prompt: Anstelle der demontierten Fahnen flattern auf den Balkons an Wäscheleinen Handtücher oder Unterhosen in Weiß-Rot.

So wird der „Platz der Veränderungen“, der viele Nachahmer gefunden hat, immer wieder aufs Neue zu einer Bühne: um die Staatsmacht vorzuführen, aber auch für Konzerte und andere Veranstaltungen.

Und es ist gleichzeitig ein Ort der Begegnungen entstanden – für ­Menschen, die sich kennen lernen, vernetzen und dem Wort Nachbarschaftshilfe eine ganz neue Bedeutung verleihen: nämlich dann, wenn sie Fremden, die ihren Häschern zu entkommen suchen, die Türen öffnen und diese vor Misshandlung oder noch Schlimmerem bewahren. Dabei eint alle nicht nur der Wunsch nach Wandel, sondern auch der Slogan „My razem!“ (Wir sind zusammen), der ihnen ungeahnte Stärke verleiht.

Übrigens: In Belarus beginne das neue Jahr nicht am 1. Januar um 0.00 Uhr, sondern am 31. Dezember um 23.34 Uhr, witzeln die Belaruss*innen. 23.34 ist der Paragraf eines Gesetzes, das Verstöße gegen die öffentliche Ordnung oder die Durchführung von Massenaktionen sanktioniert.

Doch kein Witz ohne ein Körnchen Wahrheit: In Belarus ticken die Uhren seit diesem Jahr wirklich anders. Das wird bleiben – egal wie das Kräftemessen mit dem Regime von Alexander Lukaschenko ausgeht. Als Vorgeschmack auf das, was noch kommen könnte, ließen am vergangenen Wochenende Lukaschenko-Gegner*innen vielerorts weiße und rote Luftballons in den Himmel aufsteigen. Ob es genau 99 waren, ist nicht überliefert. Wahrscheinlich waren es eher mehr.

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