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Wider die Vergessenheit!

Die Diskussion um die Vergangenheiten von Außenminister Joschka Fischer und Umweltminister Jürgen Trittin leidet unter Gedächtnisschwäche. Tatsächlich gab es vor fünfundzwanzig Jahren genug Gründe, gegen die bleiernen Verhältnisse in Deutschland zu protestieren. Eine Erinnerung

von ROSEMARIE NÜNNING

Die militante Vergangenheit des heutigen Außenministers Joschka Fischer in jüngster Zeit vorgeführt zu bekommen, war schon interessant. Erhellend die Bilder der hemmungslos betriebenen Kahlschlagsanierung, von den Abrissbirnen gegen beste Wohnbausubstanz, um den gläsernen Türmen der Konzerne und Banken Platz zu machen – militant unterstützt, verteidigt, geschützt von Politik und Polizei.

Dieser Häuserkampf der frühen Siebzigerjahre ist an mir vorbeigegangen. Achtundsechzig reduzierte sich für mich lange Zeit auf den Protest einer „APO“ gegen den Besuch des sozialdemokratischen Bundespräsidenten Gustav Heinemann in Münster Ende der Sechzigerjahre. Das ist die außerparlamentarische Opposition, erklärte meine Mutter, womit ich nichts anfangen konnte.

Etwa in der Zeit traf ich auf eine Gruppe Studenten unterhalb des Turms der Lambertikirche mit den Eisenkäfigen, in denen einst die Leichen der Revolutionäre des Mittelalters, der Wiedertäufer, gefoltert, verstümmelt von den Schergen des Bischofs, ausgestellt worden waren, damit wieder Ordnung und Recht hergestellt sei. Die Studenten riefen Ho-Ho-Ho-Chi-Minh, was ich rätselhaft fand. In Erinnerung blieb diese Episode wohl nur, weil eine Studentin damals so geduldig versuchte, mir unbedeutendem Lehrling den Vietnamkrieg zu erklären, erfolglos.

Der „Fall“ Jürgen Trittin, die Auferstehung der Mescaleroaffaire, hat mich im Gegensatz zu Fischers Putzgruppenzeit nicht nur interessiert, sondern elektrisiert. 1977 schien sich alles, was es in den Jahren zuvor an gesellschaftlichen Auseinandersetzungen gegeben hatte, zu einem Konzentrat verdichtet zu haben, und am Ende stand eine Zäsur, durch die die „Gewaltfreien“ von den „Militanten“ geschieden waren, die Kritiker des bundesdeutschen Kapitalismus im Rahmen der FdGO, der freiheitlichen demokratischen Grundordnung, von denen geschieden, die diesen Frieden nicht schließen konnten.

Ein Jahr zuvor schrieb ich für mich: „So viel ist auf mich zugestürzt. Einladung zur Schulung bei einer trotzkistischen Gruppe, Marxismus, Pariser Kommune, Wolf Biermann, Hochschulpolitik, Satzungen, Programme . . .“ Es war die Zeit, da ich schließlich selbst in die Debatten und Aktionen der Bewegung gesogen worden war.

Wie diese Zeit jetzt diskutiert wird – es gab Exzesse auf beiden Seiten; wir glaubten damals, Gründe zu haben, gegen das „System“ sein zu müssen –, spricht von selbst erzeugter Gedächtnisschwäche.

Wieso überkommt die Ehemaligen nicht wieder dasselbe Gruseln, das wir damals empfanden? Darüber, wie in der Einkaufsstraße ein Büchertisch einer kommunistischen Gruppe von der Polizei gestürmt, das Häufchen Propagandisten unter Knüppeleinsatz rüde weggezerrt wurde – ohne ihnen auch nur eine Sekunde Zeit zu lassen, die Straße freiwillig zu räumen.

Über die sozialdemokratische Landesregierung, die im Benennungskampf um die junge Oldenburger Universität mit drei Hundertschaften Polizisten den „illegal“ angebrachten Namen Carl von Ossietzky, Herausgeber der Weltbühne, Friedensnobelpreisträger, Opfer der Nazis, beseitigen ließ.

Darüber, dass Kommilitonen auf der Autobahn von Polizisten mit vorgehaltener Maschinenpistole gefilzt wurden – sie fuhren ein altes, bunt bemaltes Auto und hatten lange Haare. An der holländischen Grenze gerieten Leute als mögliche „Sympathisanten“ in die Mangel, weil sie den Spiegel in ihrem Wagen liegen hatten. Über Rasterfahndung und Soziogramme – wer fährt wo mit wem. Die Exzesse waren Routine.

Verantwortlich für sie war unter anderen Horst Herold, als Chef des Bundeskriminalamts in Wiesbaden Kontrollfreak, dessen Visionen nur vom allseits gespeicherten Menschen bis zur Polizei der Zukunft als einer „höherstufigen, gesellschaftssanitären“ Einrichtung reichten. Verantwortlich auch Siegfried Buback als Generalbundesanwalt. Massenmedien sollten „Mittler zwischen den Sicherheitsbehörden und den Bürgern unseres Landes“ sein, war Teil seiner Vision.

Also wurde auch die Durchsuchung linker Buchläden und Druckereien nach inkriminierten Texten durch Polizeigroßaufgebote Routine – nach Texten von marginalen Gruppen wie der Roten Armee Fraktion, die in den Bücherregalen unzähliger Wohngemeinschaften standen und in universitären Politikseminaren seziert wurden. Ihre Kapitalismuskritik wurde geteilt von den unterschiedlichsten Richtungen – maoistisch, trotzkistisch, thalheimeristisch, guevaristisch –, abgelehnt wurde aber die daraus abgeleitete terroristische „Praxis“.

„Staat ist Repression“, hatte die Frankfurter Allgemeine Zeitung proklamiert. Das war eine Aufforderung. Der sozialdemokratische Bundeskanzler Helmut Schmidt forderte, Menschen in die „Löcher der Mäuse und Ratten“ zurückzuschicken, er sprach von der Linken, nicht den Nazis. Die „wehrhafte Demokratie“ zeigte ihre Zähne und übertraf unsere Phantasien bei weitem.

Der Verfassungsschutz schnüffelte der „Gesinnung“ Hunderttausender hinterher, um ein paar hundert „Staatsfeinde“ im öffentlichen Dienst ausfindig zu machen – den Oberlokomotivführer, den Friedhofsgärtner. Das Wort berufsverbot ging wie blitzkrieg auf Deutsch in die englische Sprache ein.

Ein Willi Geiger, der einst lobte, wie „mit einem Schlag“ der „übermächtige und kulturzersetzende Einfluss der jüdischen Rasse auf dem Gebiet der Presse beseitigt“ wurde, gehörte zu den Bundesverfassungsrichtern, die 1975 das Berufsverbotsurteil sprachen.

Ein Jahr später forderte der Kanzler der Universität Münster Professoren auf, bei Inquisitionsverfahren für künftige Assistenten mitzuspielen: „Ich bitte Sie im Interesse des Bewerbers und des Fachbereichs, ein Bild der Persönlichkeit Herrn . . . zu entwerfen und insbesondere darauf einzugehen, ob der Bewerber für die freiheitliche demokratische Grundordnung eintreten wird“ und hierzu auch „Fakten aus seinem außerdienstlichen Verhalten anzugeben“.

Die Studentenvereinigung der CDU schlug in diesem Klima ihre Schlacht gegen die linken Studentenausschüsse. Zehntausende Mark „Ordnungsgelder“ wurden nach Klagen des Rings christlich-demokratischer Studenten (RCDS) von den Asten verlangt, um ihnen die Wahrnehmung des politischen Mandats, Infos zur Pinochetdiktatur in Chile, Solidaritätserklärungen zur Revolution in Portugal, Diskussionen über die Arbeiterkommissionen in Spanien oder auch nur Kritik am Gesundheitswesen, auszutreiben.

Der RCDS war es dann ja auch, der sich der „klammheimlichen Freude“ des „Mescalero“ über den Mord an Siegfried Buback begierig annahm und sie verkürzt und sinnentstellt der bundesdeutschen Presse andiente. Die Sympathisantenjagd wurde zugespitzt, der Kreis der Verdächtigen auf Heinrich Böll bis zu Willy Brandt und sogar Helmut Schmidt ausgeweitet, um der „Verwischung von Verantwortlichkeiten“ zu begegnen, wie Heiner Geißler als CDU-Generalsekretär zur Zeit der Entführung Hanns-Martin Schleyers sagte. Schleyer, das war der Chef des Industriellenverbandes, der einstige Beauftragte des terroristischen SS-Sicherheitsdienstes an der Universität Heidelberg, im Namen der Industrie in den Osten des Nazigroßreiches geschickt.

In die Knie gezwungen werden sollte 1977 nicht nur eine winzige linke terroristische Vereinigung, deren Verzweiflungstaten aus dem Pessimismus, dem Unglauben an die Möglichkeit einer politischen Massenbewegung geboren waren. Sie diente nur als Vorwand. Gemeint war eine breit gestreute Linke, die zwar von der Arbeiterbewegung weitgehend isoliert war, aber immer noch eine hör- und sichtbare kritische Gegenöffentlichkeit bildete: Die Professoren, wie jene zehn von der Oldenburger Universität, welche die Buback-Dokumentation mit herausgegeben hatten, später Demutsbekundungen gegenüber ihrem Landesherrn unterzeichneten und so auch ihre ursprüngliche Absicht, die Meinungsfreiheit zu verteidigen, aufgaben.

Gemeint waren die Linken in den Gewerkschaften, die in Scharen ausgeschlossen wurden. Und schließlich die Atomgegner, die außerparlamentarische Bewegung von 1977, die Zäune niederriss und Bauplätze besetzte.

Mitten im Deutschen Herbst feierten wir wenigstens diesen Sieg, als wir trotz des bürgerkriegsähnlichen Einsatzes von Medien, Bundesgrenzschutz und Polizei am frühen Morgen erschöpft auf dem Pflaster des Marktplatzes von Kalkar lagerten und dann zu Zehntausenden gegen den Schnellen Brüter demonstrierten.

Am Ende dieses Jahrzehnts schlossen eine Freundin und ich unser Graphikstudium mit einer Plakatserie zu „Kapital und Faschismus“ ab. In eines montierten wir ein Gedicht Yaak Karsunkes vor die Silhouette Duisburger Zechen: „Weiterhin spielt Kapital die erste Geige / Politiker stoßen ins Horn / die Unternehmer haun auf die Pauke / dass vom Schellenbaum klirrend / der Sozialklimbim abfällt / (den Arbeitern bringt man die Flötentöne noch bei) / Wann endlich wird das Publikum pfeifen?“

In den späten Siebzigerjahren wurde uns eine Lehre in „wehrhafter Demokratie“ erteilt, die in das Heute reicht. Die Prügel für Außenminister Joschka Fischer und Umweltminister Jürgen Trittin sind nicht nur rückwärtsgewandte Abrechnung. Getroffen werden sollen die Proteste gegen Castortransporte, neue Nazis, die neoliberale Globalisierung mit der rasanten Beseitigung des „Sozialklimbims“ – das ferne Gestern, ganz nah.

ROSEMARIE NÜNNING, 49, Korrektorin in der taz, empfiehlt den Ehemaligen zur Auffrischung der Erinnerung, den Neuen, um einen Geschmack von der Zeit zu bekommen, Sebastian Coblers „Die Gefahr geht von den Menschen aus. Der vorverlegte Staatsschutz“ von 1978. Es ist nur noch antiquarisch erhältlich

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