Moderne Westerncomics: Kostümthriller und Antihelden voller Neurosen
„Haciendado – Blutige Ehre“ und „Texas Kid, mein Bruder“ – lange als Pferdeoper verspottet, bietet das Westerngenre auch anspruchsvolle Graphic Novels.
Seit einiger Zeit erscheinen mehr Westerncomics auf dem deutschen Markt als je zuvor. So populär wie Fantasy, Horror und Science-Fiction ist das auch liebevoll als „Pferdeoper“ verspottete Genre zwar nach wie vor nicht; im Vergleich zu früheren Jahrzehnten kann man aber geradezu von einer Schwemme reden.
Deren Ursache lässt sich nicht mit letzter Sicherheit bestimmen. Auffällig ist jedoch, dass die meisten Westerncomics aus Frankreich stammen. Dort kamen mit „Leutnant Blueberry“, „Comanche“ und „Jonathan Cartland“ ab den 1960ern ungewöhnlich gute Westernserien heraus. Dass diese nun abgeschlossen und damit historisch geworden sind, hat für die Comicszene jenseits des Rheins vermutlich eine befreiende Wirkung.
Ebenso reizvoll wie schwierig bleibt aber die Aufgabe, einem – nimmt man die Filmgeschichte hinzu – 120 Jahre alten Genre noch etwas Neues abzugewinnen. Philippe Thirault und Gilles Mezzomo versuchen dies, indem sie ihren Comic in Mexiko ansiedeln und auf den sonst obligatorischen „Gringo“ als Hauptfigur verzichten: In „Haciendado – Blut und Ehre“ treten ausschließlich Einheimische und Native Americans auf.
Ausgesetzt in der Wüste
Diego, Sohn des Großgrundbesitzers Don Armando, wird verdächtigt, den Sohn eines Alcalden getötet und eine junge Frau aus gutem Hause brutal vergewaltigt zu haben. Um die Ehre seiner Familie wiederherzustellen, wird er daraufhin von seinem Vater verstoßen und in der glühend heißen, von kriegerischen Apachen durchstreiften Sonora-Wüste ausgesetzt, mit minimaler Aussicht aufs Überleben.
„Haciendado“ ist eine Graphic Novel, in der es keine Helden gibt. Alle Figuren, gleich welchen Stands und welcher Hautfarbe, so stellt sich heraus, sind bereit, sich unrecht, betrügerisch oder grausam-verbrecherisch zu verhalten. In dieser finsteren Unbarmherzigkeit geht der Comic über das für Spätwestern übliche Maß hinaus und hat fast etwas von einem Kostümthriller an sich.
An Wirkung verliert er jedoch nicht nur durch Mezzomos teils etwas ungeschickte Zeichnungen, sondern auch dadurch, dass es der Handlung in einem entscheidenden Punkt an Logik gebricht: Dass ein so reicher und mächtiger Mann wie Don Armando ohne jegliche Überprüfung sofort bereit ist, an die Schuld seines Sohnes zu glauben, ist sehr unglaubwürdig.
Noch weiter vom Standard-Western entfernen sich Igor Kordey und Darko Macan. Das aus Kroatien stammende und international publizierende Duo ist mit der Serie „Marshal Bass“ bekannt geworden, deren Titelfigur ein afroamerikanischer Gesetzeshüter im Wilden Westen ist.
Mit „Texas Kid“ stoßen die beiden jetzt in den Bereich der Metafiktion vor. Radovan Brandt ist ein junger Zeichner, der anspruchsvolle, betont künstlerische Comics macht, mit Antihelden „voller Neurosen und Zweifel“. Damit hat er einigen Erfolg, wird allerdings von seinem Vater Tomislav in den Schatten gestellt, den zahllose Fans für seine Westernserie „Texas Kid“ verehren.
Dieser Cowboy ist ein klassischer Heroe: Er hat etwas von Tom Mix, von Harry Carey und auch vom jungen John Wayne. Dann aber passiert das Unglaubliche: Kurz bevor auf einem Comicfestival der 50. Jahrestag seiner Erfindung gefeiert werden soll, klingelt Kid plötzlich leibhaftig an der Haustür der Brandts und fragt nach seinem Schöpfer.
Wie sich herausstellt, agiert Kid genau so, wie man es aus seinen Comics kennt: Er ist ein unfehlbarer Schütze, reitet ein feuriges schwarzes Ross, das nicht zufällig den Namen „Lucky“ trägt, und ist jederzeit zu selbstloser Hilfe bereit, egal in welche Gefahr ihn dies bringen mag.
Das Gewehr aus der Wohnung holen
Der Haken an der Sache: Hatte Radovan zuvor schon genug Probleme mit seinem dominanten, kaltherzigen Vater, sieht er sich nun in Gestalt von Kid einem He-Man gegenüber, der permanent und mit schamlosem Vergnügen seine Virilität demonstriert. Darüber hinaus demütigt Kid Tomislavs Ehefrau, die schon seit Langem stumm unter ihrem Ehemann leidet. Als er schließlich noch Radovan die Freundin ausspannt, sieht dieser rot und holt sich aus der Wohnung eines befreundeten Hobbyjägers ein Gewehr mit Zielfernrohr.
Für das Auftauchen von Texas Kid liefert der Comic weder eine rationale noch eine fantastische Erklärung. Der Cowboy wird nicht als Imagination Tomislavs oder Radovans entlarvt, er kommt auch nicht aus einer Parallelwelt. Er ist einfach da.
Am Ende bleibt daher alles offen. Der Konflikt wird nicht gelöst, sondern unter metafiktionalen Vorzeichen weiter gesteigert. Dieser Verschachtelung von Fiktion und Wirklichkeit entsprechen die Inserts, die Igor Kordey gerne verwendet: kleine Panels, die in große eingefügt sind.
Der Einfluss des Fantasyzeichners Richard Corben („DEN“), der in „Marshall Bass“ sehr deutlich ist, findet sich hier kaum noch. Kordey verzichtet auch auf Farbe; am grafisch stärksten sind die Passagen, in denen er auf harte, eventuell durch Schraffuren ergänzte Schwarz-Weiß-Kontraste setzt.
Philippe Thirault (Text), Gilles Mezzomo (Zeichnungen): „Haciendado – Blutige Ehre“. Aus dem Französischen von Harald Sachse. Splitter Verlag, Bielefeld 2024, 88 Seiten, 22 Euro
Igor Kordey (Text und Zeichnungen): „Texas Kid, mein Bruder“. Nach einer Kurzgeschichte von Darko Macan. Aus dem Englischen von Henrieke Markert. Avant-Verlag, Berlin 2024, 224 Seiten, 26 Euro
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