■ Westdeutschland führt Krieg, Ostdeutschland sehnt sich nach Frieden. Einige Thesen, warum der Kosovo-Krieg das Land spaltet: Friedlicher, sozialer, deutscher
Seit nunmehr zwei Monaten bombardiert die Nato unter Beteiligung der Bundeswehr Restjugoslawien. Gleichzeitig wird das Kosovo von der jugoslawischen Armee systematisch ethnisch gesäubert. Die Mehrheit der Westdeutschen unterstützt den Kurs der rot-grünen Bundesregierung, zwei Drittel der Ostdeutschen nicht. Das Land ist gespalten. Die Ostdeutschen präge die Erfahrung, „daß kriegerische Problemlösungen nur zur Problemverschärfung führen“, schrieb der Kultursoziologe Wolfgang Engler kürzlich an dieser Stelle und beschwor die kollektive Erfahrung der ehemaligen DDR-Bürger, daß es jenseits von Militäreinsätzen immer eine gewaltfreie Alternative gebe.
„Bist du für den Krieg oder für den Frieden?“, so lautete zu realsozialistischen Zeiten ein wichtiges Argument im politisch-ideologischen Kampf der SED. Natürlich bekannte sich der DDR-Bürger zum Frieden, schließlich sollte von deutschem Boden „nie wieder Krieg“, sondern immer nur Frieden ausgehen. Also wurden schon in den Kinderkrippen Friedenstauben gebastelt. In der Schule allerdings kamen bereits kleine Rechenaufgaben mit Panzern oder SS-20-Raketen hinzu, später ging es im Stechschritt die Karl-Marx-Allee hinauf.
Für die Ideologen des Marxismus-Leninismus bedeutete Frieden mehr als die Abwesenheit bewaffneter Auseinandersetzungen. Frieden war ein sozialistisches Heilsversprechen, ein hehres Ziel mit fast religiösem Charakter. Auf dem Weg zum Frieden, der ja auch der Weg zum Sozialismus war, war vieles erlaubt. Nicht nur Stacheldraht und Schießbefehl, sondern auch Waffenexporte und militärische Interventionen. Denn neben den reaktionären und ungerechten Kriegen des aggressiven Kapitalismus lehrte die Partei auch von den gerechten Kriegen und den revolutionären.
Die Parole „Nie wieder Krieg“ galt zwar für den imperialistischen Westen, für die Nato oder die BRD, nicht aber für die Helden der Sowjetunion beim Einmarsch in Afghanistan, nicht für die Panzer auf dem Prager Wenzelsplatz, nicht für die Freiheitskämpfer von Swapo oder FMLN.
Es gibt keine Umfragen darüber, wie viele DDR-Bürger solchen Parolen geglaubt haben. Anfang der siebziger Jahren aber, als die Systemzufriedenheit in der DDR für ein paar Jahre relativ hoch war, wäre für solche Bekenntnisse vermutlich sogar eine Mehrheit zusammengekommen. Am Ende der DDR haben selbst Stasi-Generäle diesen verlogenen Phrasen Erich Honeckers oder Kurt Hagers nicht mehr geglaubt, und so fiel das ganze marode Regime unter den Parolen „Wir sind das Volk“ und „Keine Gewalt“ in wenigen Wochen in sich zusammen. Befreit von realsozialistischer Propaganda, von Stasi-Repression und SED-Militarismus, wurden die Ostdeutschen quasi über Nacht scheinbar zu Pazifisten, die ihre Friedenssehnsucht nicht länger ideologisch verbrämen mußten.
„Gewaltfreiheit“ wurde zum Gründungsmythos der ostdeutschen Gesellschaft. Mit ihm können sich trotz gänzlich unterschiedlicher Biographien ehemalige DDR-Bürgerrechtler genauso identifizieren wie die Mitläufer des SED-Staates und selbst ehemalige NVA-Offiziere. Nicht die Erfahrungen des Faschismus, von Auschwitz und Dresden stehen also Pate, wenn die Ostdeutschen jetzt „Nie wieder Krieg“ skandieren, sondern der Wende-Herbst.
Zehn Jahre nach der Wende spaltet nicht nur der Kosovo-Krieg das Land, das vereinte Deutschland hat sich zu einer dualistischen Gesellschaft entwickelt. Es existieren zwei Teilgesellschaften, nicht nur mit einer unterschiedlichen Parteienlandschaft, sondern auch mit anderen Werten und historischen Erfahrungen sowie mit einer unterschiedlich geprägten öffentlichen Meinung. Viele Ostdeutsche mißtrauen der „bürgerlichen Demokratie“. Die individuellen westlichen Werte, wie Freiheit, Demokratie und Leistung, spielen in ihrem Wertehaushalt eine geringere Rollen als die kollektiven Werte Arbeit, Gleichheit oder Gerechtigkeit. Während sich nur eine Minderheit in den neuen Bundesländern mit den neuen gesellschaftlichen Verhältnissen arrangiert, hat eine Mehrheit die Wiedervereinigung als Anschluß erlebt. Sie verknüpft mit der Einheit, trotz aller ökonomischen Erfolge, überwiegend negative Erfahrungen, fühlt sich bevormundet, der eigenen Erfahrungen beraubt. Im vereinten Deutschland fühlen sie sich als Bürger zweiter Klasse und kompensieren dies dadurch, daß sie sich moralisch überhöhen, sich für friedlicher, sozialer und deutscher halten. Dafür brauchen sie die alte Idee des Nationalstaats als Projektionsfläche, die sich im Westen in der Auflösung befindet. Die Westdeutschen identifizieren sich bereits stärker mit Europa und betrachten Völkerrecht und Menschenrecht als gleichberechtigt konkurrierende Werte.
Genau darauf zielt der Menschenrechtsdiskurs, mit dem die Bundesregierung den Einsatz im Kosovo moralisch zu legitimieren versucht. Aber dieser erreicht die Ostdeutschen nicht. Die Diskussionen über universell gültige Minderheitenrechte und über eine Welt-Bürgergesellschaft sind in der ostdeutschen Gesellschaft, selbst unter ostdeutschen Intellektuellen, weit weniger verankert als im Westen. Dies zeigt sich nicht zuletzt daran, wie gleichgültig und teilnahmslos der Osten der dort grassierenden rassistischen Gewalt begegnet. Dem Engagement für individuelle und universelle Menschenrechte im Westen wurde schon zu DDR-Zeiten auf diplomatischem Parkett das völkerrechtliche Prinzip der „Nichteinmischung in innere Angelegenheiten“ entgegengehalten. Ein Argument, das jetzt wiederkehrt, wenn vom innerjugoslawischen Konflikt gesprochen wird.
Kein Wunder also, daß alle Versuche von Fischer, Scharping oder Schröder, die Zustimmung zu ihrer Politik zu organisieren, im Osten scheitern. Sie haben keine Möglichkeit, in den im Osten bekannten Kategorien vom gerechten und ungerechten Krieg von Frieden und Gewaltfreiheit zu argumentieren. Bis zur Unerträglichkeit bemühen sie dagegen historische Vergleiche, sprechen von serbischen KZs, Deportationen und Völkermord. Doch alle diese Diskurse knüpfen an die westdeutschen Debatten der siebziger und achtziger Jahre an.
Die Menschenrechte, der Schutz ethnischer Minderheiten, die kulturelle Selbstbestimmung prägten über Jahrzehnte die Debatten der undogmatischen westdeutschen Linken. Schritt für Schritt wurde selbst in der westdeutschen Friedensbewegung so der zunächst noch dominierende antiimperialistische Diskurs abgelöst.
An die in diesen Debatten politisch sozialisierte Wählerbasis richten sich derzeit alle Appelle der rot-grünen Bundesregierung. Zwischen Moral und Recht, zwischen Pazifismus und Verantwortung hin und her gerissen, quälen sich die so Angesprochenen mehrheitlich zur Zustimmung zum Krieg.
Die Ostdeutschen haben diese Diskurse der westdeutschen Zivilgesellschaft in den letzten zehn Jahren nicht nachvollzogen. Sie identifizieren sich nicht mit den aus dem Westen importierten Institutionen, es ist nicht ihr Rechtsstaat. Es ist auch nicht ihre Nato, also ist es auch nicht ihr Krieg. Statt die zum Teil sehr differenzierten Debatten etwa bei den Grünen oder in manchen Tages- und Wochenzeitungen nachzuvollziehen, werden die Grünen als „Kriegstreiber“, die Medien als „gleichgeschaltet“ denunziert. Eher als der westdeutschen veröffentlichten Meinung glauben viele ehemalige DDR-Bürger angesichts des Kosovo-Krieges nachträglich der einfachen Sicht auf die kapitalistische Welt, die ihnen beispielsweise im SED-Parteilehrjahr vermittelt wurde.
Die PDS bedient dieses Weltbild prächtig. „Frieden“ – ein einziges Wort in großen Lettern schreibt die Partei auf ihre Wahlplakate im Europawahlkampf und stimuliert so den quasi-religiösen Glauben der Ostdeutschen an Frieden und Sozialismus. Wenn Gregor Gysi von der Kanzel des Bundestages den Angriffskrieg geißelt, dann verstehen die Ostdeutschen die Botschaft. Denn sie haben in der DDR gelernt: Angriffskrieg führt das Kapital, und Angriffskriege sind ungerecht. Ein Blick auf die Börsenkurse reicht, um sich bestätigt zu fühlen. Gepaart mit dem gewaltfreien ostdeutschen Gründungsmythos entsteht so eine neue kollektive ostdeutsche Identität. Der Krieg im Kosovo ist nicht ihr Krieg, warum sollten sie denn auch dafür sein, wenn der Westen ihn führt. Christoph Seils
Frieden war mehr als die Abwesenheit bewaffneter Auseinandersetzungen
Gewaltfreiheit wurde zum Gründungsmythos der ostdeutschen Gesellschaft
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