„Werbeverbot“ für Abtreibungen: Von der Angeklagten zur Aktivistin
Kristina Hänel wurde in zweiter Instanz schuldiggesprochen, „Werbung“ für Abtreibungen zu machen. Sie will Rechtssicherheit.
Doch die Situation, die durch den Paragrafen 219a des Strafgesetzbuchs geschaffen wird, der „Werbung“ für Schwangerschaftsabbrüche verbietet, sei diskriminierend, sagt Hänel. Dadurch, dass Frauen sich nicht frei über ihre medizinischen Möglichkeiten informieren können, sei „die Würde der Frau eklatant verletzt“. Hänel will gar keinen Freispruch – sondern bis vor das Bundesverfassungsgericht ziehen, um den Paragrafen 219a abzuschaffen.
Am Freitag kommt die Allgemeinärztin Hänel diesem Ziel einen Schritt näher: Sie wird in zweiter Instanz verurteilt, weil sie auf ihrer Website sachlich darüber informiert, dass sie neben Lungenfunktionsuntersuchungen und Blutegeltherapien auch Schwangerschaftsabbrüche vornimmt.
„Sie müssen das Urteil tragen wie einen Ehrentitel im Kampf für ein besseres Gesetz“, sagt der Vorsitzende Richter Johannes Nink anerkennend zu Hänel. Nink macht während der freundlich und bisweilen heiter geführten Verhandlung mehrfach deutlich, Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit des Paragrafen zu haben.
Das Problem ist viel größer
Vor knapp einem Jahr wollte Hänel noch einen Freispruch erreichen, doch als die Allgemeinärztin im November 2017 zum ersten Mal zu einer Strafe von 6.000 Euro verurteilt wurde, wandelte sich die Angeklagte zur Aktivistin – und zur Frontfrau der bundesdeutschen Anti-219a-Bewegung.
In unzähligen Zeitungen im In- und Ausland, darunter im Guardian und in der New York Times, erscheinen Artikel über Hänel, Tausende Mails gehen bei ihr ein, von PatientInnen, UnterstützerInnen, auch Hasspost ist darunter. „Vor einem Jahr wusste ich noch nicht, dass es nicht nur in Gießen kaum noch ÄrztInnen gibt, die Abbrüche anbieten“, sagt Hänel. „Heute weiß ich: Das Problem ist viel größer – und wir Angeklagte sind nur die Spitze des Eisbergs.“
Denn der Druck auf ÄrztInnen wächst: Am Mittwoch verglich der Papst bei seiner Generalaudienz in Rom Abtreibung mit Auftragsmord. Zudem bekommen AbtreibungsgegnerInnen auch durch das Erstarken rechter Parteien Rückenwind, die im Bereich sexueller und reproduktiver Rechte ähnlich rückwärtsgewandte und restriktive Positionen vertreten.
Dabei gibt ihnen der Paragraf 219a ein Werkzeug in die Hand, um ÄrztInnen systematisch einzuschüchtern: Die Zahl der Ermittlungsverfahren wegen des Paragrafen ist in den vergangenen Jahren deutlich gestiegen. Waren es von 2010 bis 2014 maximal 14 ÄrztInnen jährlich, gegen die ermittelt wurde, lag die Zahl 2015 bei 27 und 2016 schon bei 35 Fällen.
Zwei Männer sind ganz vorn dabei, wenn es darum geht, anzuzeigen – die beiden, die auch Kristina Hänel vor Gericht gebracht haben. Einer der beiden, Klaus Günter Annen, betreibt eine Website namens „babykaust“, auf der er Abtreibungen mit dem Holocaust gleichsetzt, Hänel als „Tötungsspezialistin“ diffamiert und mehr als 170 von ihm angezeigte ÄrztInnen auflistet.
Grüne Halstücher als Symbol der Solidarität
Durch die Norm des Paragrafen 219a, zumindest durch seinen Missbrauch, werde das gesellschaftliche Klima „notorisch vergiftetet“, sagt Hänels Anwalt Karlheinz Merkel am Freitag vor Gericht. Rund 70 Menschen haben im größten Saal des Gießener Landgerichts Platz gefunden, mehrheitlich Frauen. Einige, wie die beiden ebenfalls angeklagten Kasseler ÄrztInnen Nora Szász und Natascha Nicklaus, deren Verfahren im Januar neu aufgerollt wird, tragen grüne Halstücher – das Symbol der Solidarität mit den argentinischen Protesten gegen das dortige Verbot von Schwangerschaftsabbrüchen.
Der Staat schütze die Meinungsfreiheit von Männern wie Annen – nicht aber die ÄrztInnen, sagt Verteidiger Merkel. Auch deshalb hat Hänels erste Verurteilung eine Debatte ausgelöst: Müssen ÄrztInnen, die Schwangerschaftsabbrüche durchführen, mit dem Risiko leben, kriminalisiert zu werden? Müssen sich Frauen, die ungewollt schwanger sind, Informationen über die Möglichkeit zu Abbrüchen hinter verschlossenen Türen suchen? Und: Soll der Paragraf 219a durch das Parlament geändert oder abgeschafft werden?
SPD-Fraktionssprecher Fechner
Noch Anfang des Jahres sah es so aus, als sei die parlamentarische Abschaffung des 219a ein Selbstläufer. Grüne, Linke, FDP und SPD brachten Gesetzentwürfe zur Abschaffung oder zumindest Änderung ein. Doch nach langem Herumlavieren kassierte die SPD ihren Entwurf im März, um den gerade erst besiegelten Koalitionsfrieden mit der Union nicht zu gefährden.
Seitdem hofft die Partei auf einen Kompromiss, den Justizministerin Katarina Barley, Familienministerin Franziska Giffey (beide SPD), Gesundheitsminister Jens Spahn und Kanzleramtschef Helge Braun (beide CDU) derzeit aushandeln. Andernfalls, so der SPD-Vorstand, müsse in Gesprächen mit „reformwilligen Fraktionen beziehungsweise Abgeordneten“ nach einer Lösung gesucht, also fraktionsübergreifend abgestimmt werden.
Doch die Union mauert: „Der Paragraf 219a StGB gehört für uns unverzichtbar zum Schutzkonzept, mit dem die Grundrechte des Ungeborenen gewahrt werden“, so die rechtspolitische Sprecherin der Unionsfraktion im Bundestag, Elisabeth Winkelmeier-Becker, gegenüber der taz am Wochenende. „Eine Streichung oder Änderung des Paragrafen lehnen wir deshalb ab.“ Auch die Konrad-Adenauer-Stiftung veröffentlichte am Montag eine sechsseitige Analyse, die zeigen soll, warum eine Einschränkung des Paragrafen „weder geboten noch sinnvoll“ sei.
Die Opposition hält die Debatte am Laufen
„Wenn man die eine oder andere Aussage aus der Union hört, gibt es Anlass, pessimistisch zu sein“, räumt auch der rechtspolitische Sprecher der SPD-Fraktion, Johannes Fechner, auf Anfrage ein. Der Straftatbestand des 219a müsse reduziert, besser abgeschafft werden. Zugleich pocht Fechner auf den Zeitplan: „Frau Merkel hat uns einen Vorschlag zugesagt“, sagte er, „und wir erwarten ihn im Oktober.“
Die Opposition hält derweil die Debatte am Laufen: Am Donnerstag soll der Paragraf auf Initiative von Grünen und Linkspartei erneut im Plenum diskutiert werden. „Wir sehen in den Prozessen, wie groß die Notwendigkeit ist, eine politische Entscheidung zu treffen“, sagte die frauenpolitische Sprecherin der Grünen-Fraktion, Ulle Schauws, der taz am wochenende. Auch die frauenpolitische Sprecherin der Linksfraktion, Cornelia Möhring, äußerte sich: „Die nötige Mehrheit im Parlament, um den Paragrafen 219a zu streichen, hängt nur an der SPD. Sie muss endlich handeln.“
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.
Im Gießener Gerichtssaal kämpft Kristina Hänel am Freitag auf anderem Weg für dasselbe Ziel. Zwar folgt Richter Nink dem Antrag der Verteidigung nicht, das Verfahren auszusetzen und direkt dem Bundesverfassungsgericht vorzulegen. Er sehe das Landgericht schlicht nicht als die Instanz, diese Entscheidung zu treffen, macht Nink deutlich. Hänels Anwalt Karlheinz Merkel kündigt direkt nach dem Urteil an, in Revision zu gehen.
Als Kristina Hänel aus dem Gerichtsgebäude in die Herbstsonne tritt, wird sie mit lang anhaltendem Applaus von Unterstützerinnen empfangen. Sie lächelt, als sie die Stufen des Landgerichts hinabgeht.
In ihrer Brust, sagt sie, schlügen zwei Herzen: „Ich bin keine Verbrecherin und möchte deshalb auch nicht verurteilt werden.“ Dennoch stehe sie hier für die „vielen tausend Frauen“, die durch den Paragrafen 219a darin beeinträchtigt werden, Informationen zu Schwangerschaftsabbrüchen zu finden. Auf welchem Weg der Paragraf geändert oder abgeschafft werde, sei ihr egal. Hierauf aber besteht sie: „Ich will Rechtssicherheit für ÄrztInnen und für Frauen.“
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