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„Wenn ich durch London laufe, sehe ich Geschichte“

Michael Moorcock kennt man hierzulande eher als Fantasy-Autor der „Elric“-Saga. Jetzt bietet die erste deutsche Übersetzung seines Opus magnum „Mutter London“ Gelegenheit, einen großen britischen Gesellschafts­romancier neu zu entdecken. Ein Gespräch über die Psychogeografie der Metropole

Briten in einem Luftschutzbunker während der deutschen Bombenangriffe auf London, Oktober 1940 Foto: Zoltan Glass//Hulton Archive/getty images

Interview Julian Weber

taz: Herr Moorcock, auf dem Cover Ihres Romans „Mutter London“ ist die Kathedrale Saint Paul’ s abgebildet. Ihr Fundament ist der Rumpf einer Rakete. Die Protagonisten des Romans umkreisen dieses Wahrzeichen. In einer Fußnote wird erwähnt, sie bewegen sich auf „peripatetische Weise“ durch die Stadt. Können Sie das bitte erläutern.

Michael Moorcock: Die Handlung ist kreisförmig angelegt. Das Buch hat keine lineare Struktur, immer wieder gibt es ausufernde Szenen, in denen Saint Paul’s Orientierung bietet. Während des Blitzkrieges, 1940/41, hatte die Kathedrale in der Stadtmitte besondere Bedeutung, weil sie trotz des deutschen Bombardements unversehrt blieb. Saint Paul’s wurde so zum Symbol der britischen Standhaftigkeit. Mein Werk ist eine Liebeserklärung an meine Heimatstadt. Der Blitz war ein besonders dramatischer Moment ihrer wechselhaften Geschichte.

taz: Sie erlebten den Zweiten Weltkrieg als Kleinkind. Haben Sie noch Erinnerungen daran? Am 29. Dezember 1940 gab es ein besonders brutalen Bombenangriff mit vielen Opfern im East End und gravierenden Zerstörungen.

Moorcock: Meine Mutter wurde damals evakuiert, sie ging zu entfernten Verwandten nach Wales, aber hielt es nicht lange dort aus. Wir lebten im Süden Londons, der nicht so stark betroffen war wie das East End, das in der Flugschneise lag. Ich kann mich vage an das Leuchten von Flakfeuern erinnern und an die Suchscheinwerfer, die den Himmel nach deutschen Kampfflugzeugen absuchten. Ich erinnere mich, wie wir auf der Straße gespielt haben und nach Granatsplittern suchten, anstatt in die U-Bahn zu gehen, die Schutz bot. Wir Kinder verspürten keine Angst, unsere Eltern dagegen umso mehr. Es war eine seltsame Zeit.

taz: Was hatten Sie früher für ein Bild von Deutschland? Wie ist es heute?

Moorcock: Mein Lektor wollte den Roman „Blitz“ nennen, das habe ich ihm ausgeredet. Mir ging es schon seit meiner Jugend darum, Animositäten zwischen England und Deutschland keine neue Nahrung zu geben. Ich hatte in der Kindheit einen österreichischen Mentor, Ernst Jellinek. Er flüchtete vor den Nazis nach England. Jellinek und sein Bruder verhalfen weiteren Emigranten zur Flucht. Eigentlich war er Geschäftsmann, aber mit einer philosophischen Ader. Er vermittelte mir breites Allgemeinwissen. Jellinek und mit ihm die deutschsprachige Kultur waren also grundlegend für meine Entwicklung. Vielleicht hat es auch damit zu tun, dass ich eine deutsche Patentochter habe. Als überzeugter Europäer war ich von der Brexit-Entscheidung übrigens bitter enttäuscht.

taz: Viertel, Straßen und Be­woh­ne­r:in­nen sind in „Mutter London“ in ihrer Vielfalt anschaulich beschrieben. Heute würde man wahrscheinlich „Psychogeografie“ zu Ihrem Ansatz sagen …

Moorcock: London wirkt auf mich wie ein eigenes Land, und wenn ich durch die Straßen laufe, sehe ich automatisch ihre Geschichte. Ich wollte schon in den 1960ern über die Stadt-Mythologie schreiben, aber ich hatte noch nicht die schriftstellerischen Fähigkeiten. „Mutter London“ war auch Ergebnis einer Therapie, denn in den frühen 1980er Jahren begann ich eine vierteilige SciFi-Romanserie um Colonel Pyat. Darin habe ich mich mit den Folgen von Antisemitismus und Holocaust beschäftigt. Die Recherchen hatten mich derart verstört, dass ich mich in „Mutter London“ unbedingt der hellen Seite der menschlichen Psyche widmen wollte.

taz: Obwohl Ihre Protagonisten in der Handlung von „Mutter London“ auf dem Zeitstrahl vor und zurück gehen, eint sie die Erfahrungen im Blitz. Einige von ihnen leiden an einem Zustand, den man heute posttraumatische Störung nennt, hervorgerufen durch Bombenexplosionen.

Moorcock: Unaufgearbeitete Traumata sind Teil der Handlung. Mich hat beim Schreiben interessiert, was bei Menschen Stress hervorruft, in welche Geisteszustände sie durch Kriegsverheerungen gebracht wurden.

taz: Was wurde daraus nach Kriegsende?

Moorcock: Unmittelbar nach 1945 wurde vieles verdrängt. Zugleich war eine Aufbruchstimmung spürbar, neue Impulse kamen auch durch Flüchtlinge, die dauerhaft in England geblieben sind. Es gab damals eine Willkommenskultur in London mit viel Idealismus. Xenophobie gab es dagegen kaum. Ein positives Ergebnis der Kriegswirren war, dass bereits im Juli 1945 eine Labor-Regierung ins Unterhaus gewählt wurde, und mit ihr kam progressive linke Politik, obwohl die Angst vor dem sowjetischen Einfluss bereits grassierte. So kam es zur bezahlbaren Gesundheitsversorgung durch die Einführung des NHS, Bildung wurde kostenfrei. Dieses Momentum ging erst mit dem Thatcherismus zu Ende.

taz: Als „Mother London“ 1988 in Großbritannien publiziert wurde, lag der Thatcherismus in den letzten Zuckungen. Warum spukt dessen Austeritätspolitik bis heute durch England?

Foto: Xavier Lambours

Michael Moorcock, geboren 1939 in London. Herausgeber des SciFi-Magazins „New Worlds“ (1964–1971). Autor von mehr als 100 Science-Fiction- und Fantasy-Romanen, darunter „Elric“ und „Die Jerry-Cornelius-Chroniken“.

Moorcock: Thatcherismus hat viele Spuren hinterlassen, auch in „Mutter London“. Als ich das Buch zwischen 1985 und 1986 geschrieben habe, fühlte sich das Alltagsleben immer noch liberal an. Die extreme Rechte war damals unbedeutend und hatte keine Durchsetzungskraft. Aber das hat sich gewandelt.

taz: Es gab auch in Großbritannien immer Rassismus, gerade gegen Schwarze.

Moorcock: Nach 1945, als die Windrush-Generation aus der Karibik ins Land geholt wurde, weil Manpower fehlte, gab es ein gewisses Maß an Rassismus, aber er war nicht vorherrschend. Struktureller Rassismus kam erst mit dem Thatcherismus auf. Die Brexiteers behaupteten ja, Minderheiten würden der weißen Bevölkerung die Jobs wegnehmen, wegen ihnen gäbe es überhaupt eine Rezession. Ich möchte Frau Thatcher nicht stärker dämonisieren als nötig, aber der Humus für die Xenophobie, wie er sich dann im Brexit Bahn gebrochen hatte, wurde schon im Thatcherismus ausgesät.

taz: Ihr schottischer Kollege James Kelman hat postuliert, dass die britische Arbeiterklasse bis in die 1980er Jahre in der Literatur eine Randerscheinung blieb. „Man konnte sie wahrnehmen, aber erfuhr nie, was sie umtrieb.“ Mit „Mutter London“ ist Ihnen ein klassenübergreifendes Porträt der Gesellschaft geglückt, in dem Menschen aller Schichten miteinander im Alltag agieren. Hat James Kelman also unrecht?

Moorcock: In einem Punkt stimme ich ihm zu: Die Arbeiterklasse blieb in der britischen Literatur über lange Zeit marginalisiert. Sie spielte auch keine Rolle im öffentlichen Diskurs über Literatur. Nur wenn man wusste, wo man nachschaute, konnte man über sie lesen. Zum Beispiel bei J. B. Priestley, der sie feierte. Es gibt sogar jüdische Working-Class-Romane aus dem East End, sie erschienen allerdings halt nur bei kleinen Verlagen. Wenn Sie auf meine eigene Stellung im Literaturbetrieb ansprechen, hat Kelman vielleicht einen wunden Punkt getroffen, über den ich so noch nie nachgedacht habe. Als „Mutter London“ veröffentlicht wurde, hatte ich schon einen Ruf und einige Preise gewonnen. Die Autorin Angela Carter schrieb eine hervorragende Rezension im Guardian, das Signal für andere britische Intellektuelle, den Moorcock mal auszuchecken. Zuvor galt ich als Trivialschriftsteller von Science-Fiction – obwohl ich beim renommierten Verlag Secker & Warburg publizierte. Mein Lektor war ein Kosmopolit, dem daran gelegen war, Literatur mit internationalem Flair zu veröffentlichen.

Arbeiter spielten keine Rolle in der britischen Literatur

taz: Können Sie bitte Ihre Herkunft charakterisieren?

Moorcock: Meine Familie zählte zum Kleinbürgertum, es gab Handwerker, mein Vater war Ingenieur, einer meiner Onkel brachte es bis zum Assistenten bei Churchill, ein Cousin arbeitete im Außenministerium und wurde später Diplomat. Ich hatte das Glück, dass ich eine Eliteschule besuchen konnte und so erschien ich als kultivierte, wohlerzogene Upperclass-Type.

taz: Mit der Ankunft von Teenagern und Popmusik in den 1950ern schien es, als seien Klassengrenzen in England durchlässiger. Massenkultur war für alle zugänglich. Sie haben schon als Teenager Science-Fiction-Magazine herausgegeben und zu den Hippiezeiten ab den 1960ern dann Songtexte für Bands wie Hawkwind und Blue Oyster Cult geschrieben. Was ist von diesen Utopien übrig?

Moorcock: Mir lag viel daran, das kulturelle Potenzial von Rock ’n’ Roll weiter zu entwickeln. Das ist mein Ideal aus den 1960ern. Wenn Sie so wollen, ist der Versuch, Science-Fiction-Elemente in schöne Literatur einzuschmuggeln, ähnlich gelagert. Die Euphorie der Hippiezeit war spätestens mit Margret Thatchers Wahlsieg 1979 verflogen. Dann wurden Klassengrenzen wieder zementiert. Vorher wollten die Reichen unbedingt Rock ’n’ Roll sein und rauchten ein bisschen Dope. Wenn man mich 1977 gefragt hat, wie sich London entwickelt, dann habe ich geantwortet, das Leben wird immer angenehmer. Ab 1983 wurde es leider schlimmer.

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