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Wenn die Zukunft sich kurz zeigtDie Vorahnung

Es gibt Momente, in denen wissen wir intuitiv, was passieren wird. Mir ging es so beim Verlust meiner geliebten langjährigen Handschuhe.

Die Sache mit der Glaskugel klappt eher nicht. Und dennoch gibt es manchmal situativ ein Wissen, was passieren wird Foto: dpa | Axel Heimken

I ch ahnte schon, dass ich sie verliere, bevor es geschah. Manchmal haben wir eine Vorahnung auf etwas, was geschehen wird, als würde die Zukunft sich kurz zeigen.

Es ist jetzt eine Woche her. Ich stehe an einem kalten Morgen am Bahnsteig. Während ich auf den Zug warte, betrachte ich meine Handschuhe. Für Minuten gebe ich ihnen die Aufmerksamkeit, die ich ihnen sonst nicht schenke.

Ich befühle und besehe sie genau: schwarze Handschuhe aus feinem Leder, innen mit Wolle gefüttert, mit dünnen Lederfransen am Bund, die sie etwas unkonventionell aussehen lassen. Obwohl sie so fein sind, wärmen sie gut und passen zu jedem Mantel. Ich hatte die Handschuhe vor 14 Jahren gekauft, im Angebot, am Gänsemarkt in Hamburg. In einem Laden, der mittlerweile geschlossen hat. Viele Menschen sagen mir, wie schön sie seien.

Ich denke daran, wie lange ich die Handschuhe schon habe, wie gut ich auf sie aufgepasst habe. Fast spüre ich eine Beziehung. Die Handschuhe wärmen mich, die vielen Bewegungen, mit denen ich sie durch das Leben trug, haben das anfangs steife Leder geschmeidig werden lassen.

Wie das vertraute Gesicht eines Freundes

Ich betrachte sie hier auf dem Bahnsteig wie das vertraute Gesicht eines Freundes, in dem einem auf neue Weise Schönheit auffällt. Doch mich beschleicht auch ein anderes, wehmütiges Gefühl. Schaue ich sie etwa so intensiv an, weil ich bald von ihnen Abschied nehme? Weil ich sie womöglich verliere? Es ist nur ein kurzer Gedanke, dem ich kaum Beachtung schenke und ich steige in die Bahn ein.

Als ich am Abend an einem anderen Bahnhof warte, fällt der erste Schnee dieses Winters. Ich höre eine Sprachnachricht ab, als der Zug einfährt und steige ein, ohne die Anzeige zu überprüfen. Im warmen Zug ziehe ich die Handschuhe aus. Dann schrecke ich auf, als wir in einen fremden Bahnhof einfahren. Ich muss in den falschen Zug gestiegen sein.

Schnell springe ich auf, um an diesem Bahnhof einen neuen Anschluss zu bekommen. Erst als ich schon weit in die Bahnhofshalle gelaufen bin, spüre ich: Etwas fehlt. Ich klopfe die Jackentaschen ab – leer. Ich öffne meinen Rucksack: nichts. Ich sehe, wie mich ein Mann beobachtet, während ich realisiere, dass ich meine Handschuhe verloren habe. Sein Blick auf diesen direkten Schrecken von mir ist mir unangenehm, zu intim. Ich laufe zurück bis zum Bahnsteig. Doch der Zug, in dem die Handschuhe liegen müssen, ist abgefahren.

Als ich beim Fundservice der Bahn anrufe, ist die Mitarbeiterin mitfühlend: „Das ist ja blöd, bei diesem Wetter Handschuhe zu verlieren. Sie werden bestimmt gefunden.“ Doch irgendwie glaube ich nicht daran, dass sie abgegeben werden, schön wie sie sind. Vielleicht lässt mich auch dieser Moment am Morgen zögern, als ich sie noch einmal so genau betrachtet habe, als würde ich Abschied nehmen. Warum heißt es eigentlich Vor-Ahnung? Es klingt wie ein tieferes Gefühl, der Ahnung sogar vor-ausgelagert, auf die Zukunft bezogen. Kann es sein, dass wir manchmal wirklich etwas darüber wissen, was noch kommt?

Schaue ich die Handschuhe etwa so intensiv an, weil ich bald von ihnen Abschied nehme?

Die Mitarbeiterin nimmt den Verlust auf, und ich beschreibe meine Handschuhe ein letztes Mal genau. Schließlich komme ich viel zu spät mit kalten, roten Händen zu Hause an.

Ein paar Tage später erreicht mich eine Mail der Bahn: „Wir konnten Ihren verlorenen Gegenstand bis heute nicht finden.“ Ich würde wieder Bescheid bekommen.

Ich stelle mir vor, wie nun eine andere Person meine Handschuhe trägt und ärgere mich. Ich versuche mich mit dem Gedanken zu beruhigen, dass nichts Materielles im Leben von Dauer ist. Was mich jedoch eigentlich tröstet ist diese Vorahnung, die ich hatte. Dass es vielleicht einfach diesen Moment gibt, an dem die unumstößliche Zeit gekommen ist, eine Beziehung zu einem Menschen, einem Ort oder einem Gegenstand loszulassen. Und dass die damit verbundene Wärme nicht fort ist. Sie ist nur woanders.

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Christa Pfafferott
Autorin
Christa Pfafferott schreibt die Kolumne "Zwischen Menschen" für die taz. Sie wurde zum Dr. phil. in art. an der Hochschule für bildende Künste in Hamburg promoviert. Sie hat zuvor Regie an der Filmakademie Baden-Württemberg studiert und die Henri-Nannen-Journalistenschule absolviert. Sie lebt als Autorin und Regisseurin in Hamburg.
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