Welzer und Friedmann „Zeitenwende“: A Song for Europe
Pandemie, Hass und Klimawandel, die Probleme sind so viele, dass unsere Autoren von einer Zeitenwende sprechen. Ein Vorabdruck
Michel Friedman: Meine Biografie ist europäisch. Meine Eltern kamen aus Polen. Ich bin in Paris geboren, ich lebe in Deutschland. Zudem bin ich jüdisch, was in Europa nicht gerade ein einfaches Thema ist und in Deutschland erst recht nicht. Ich kann auf diesem Kontinent nur leben, weil es die europäische Idee gibt und solange es sie geben wird. Sie ist die einzige Chance für uns alle, in Freiheit und Frieden zu leben. Nichts Selbstverständliches. Vielleicht ist das eines der größten Probleme, dass auch junge Menschen den Wert von Freiheit und Frieden als etwas Selbstverständliches empfinden. Zur Erinnerung: Nur eine Minderheit genießt diese Privilegien auf dieser Welt. Zur Erinnerung: Auf diesem Kontinent Europa leben immer noch Millionen Menschen in Unfreiheit, in Diktatur. Mit dem Brexit erleben wir alle zum ersten Mal wieder, dass es nicht selbstverständlich ist, grenzenlos in Europa studieren, reisen, arbeiten, leben zu können. Während der Pandemie erlebten wir, dass Grenzenlosigkeit innerhalb Europas nichts Selbstverständliches ist. Plötzlich waren sie wieder da. Grenzen. Nationale Grenzen. Geschlossene Grenzen. Umso mehr gilt es, die europäische Idee zu stärken. Dafür zu werben, dass Inklusion statt Exklusion die Zukunft bedeutet.
Harald Welzer: Die Werbung gibt es ja, aber der Zustand war mal besser. Die generationell gelebte Erfahrung ist da. Trotzdem gibt es diesen Erosionsprozess und als Allerschlimmstes die Renationalisierung. Ich fand das wirklich erschreckend, wie in der Pandemie als erstes die Grenzen zugegangen sind. Um etwas Positives zu sagen: Interessant war die unmittelbare Erfahrung der Bewohner der Grenzregionen, die gesagt haben: Ihr habt doch wohl einen Schaden, diese Grenzen erstens zugemacht zu haben und zweitens sie auch noch ewig geschlossen zu lassen! Wo das als gelebter Raum ohne Grenzen, als tiefe gemeinsame Lebenserfahrung existiert.
Die Grenzregionen sind die Regionen, in denen Europa als Idee eine Realität ist. Das Narrativ ist nicht nur eine Erzählung, sondern gelebte Erfahrung.
Eben, und da ist ja auch viel Kraft drin. Aber was machen wir denn nun mit diesem Europa?
Wir bauen es aus. Wir bauen es auf. Wir lassen uns nicht entmutigen. Und ja, wahrscheinlich braucht es in Deutschland endlich eine Partei, die als Kernidee Europa repräsentiert wie die SPD die soziale Gerechtigkeit oder die Grünen das Umweltthema.
Ja, aber jetzt haben wir einen heißen Punkt. Den Punkt hast du eben indirekt formuliert: Sie spielen Europa nicht als Modernisierungsvorhaben, als Weiterentwicklungs-Vorhaben, weil sie Schiss haben, dass ihnen das bei den Wählern keine Punkte bringt. Das gilt für die Öko-Thematik genauso. Worauf ich hinaus will mit dieser Zusammenfassung: Im Grunde heißt es doch, dass wir auf der parteipolitischen Ebene und auf der Ebene der politischen Debatten keine Zukunftsthemen haben und sie politisch demzufolge auch nicht gespielt werden. Das ist ja immer derselbe Befund, an den wir kommen.
Das wäre die fatalistische Sicht. Meine Perspektive ist, dass Politik und Gesellschaft dynamisch sind und dass Bewegungen wie Pulse of Europe und Fridays for Future bewiesen haben, dass es in der Bevölkerung Unterstützung für die Themen gibt.
Mir ging es darum, das analytisch noch einmal klarzuziehen, dass es bei allen Themen um den Kristallisationskern freiheitliche Demokratie, demokratischer Rechtsstaat, Menschenrechts-Regime geht, dass wir bei jeder Facette, die wir diskutieren, auf denselben Punkt kommen: Es gibt ein Modernisierungsdefizit.
Michel Friedman ist Philosoph, Jurist und Direktor des Center for Applied European Studies (CAES) in Frankfurt am Main, Autor und Moderator.
Harald Welzer ist Soziologe und Direktor von FUTURZWEI/Stiftung Zukunftsfähigkeit, er lehrt an verschiedenen Universitäten und ist Herausgeber von taz FUTURZWEI. Magazin für Zukunft und Politik.
Im Zusammenhang mit Europa ist mir dieser Begriff zu harmlos. Wir befinden uns in einem „crucial moment“, vielleicht sogar an einem „point of no return“. Eine weitere Entdemokratisierung und Renationalisierung insbesondere von den großen Mitgliedsstaaten wie Frankreich würde das Projekt existenziell gefährden. Andererseits ist diese Analyse hochmotivierend, um die EU in die andere Richtung zu bewegen, die seit ihrer Gründung angelegt ist: Abbau von Grenzen.
Diese Form von Staatlichkeit, wie sie die liberale Demokratie westlichen Typs repräsentiert, basiert nun mal auf der Idee, dass es eine Zukunft gibt und dass diese Zukunft besser sein kann als die Gegenwart und dass die Aufgabe von Politik darin besteht, diese bessere Zukunft zu gestalten. Das hört sich trivial an, ist aber historisch keine Selbstverständlichkeit. Jetzt buchstabieren wir alle Themen durch und sagen: Ja, ein neues Naturverhältnis wäre ein Zukunftsprojekt, klar. Und eine wichtigere Rolle für die Jugend, natürlich, und eine egalitäre Konzeption von Bildung, sowieso. Europa wäre ein Zukunftsprojekt, ja, ganz zweifellos. Es gibt aber niemanden, der wirklich…
Niemanden? Stimmt nicht. Und noch ein Hinweis: Die Europäische Union ist nicht Europa. Und Europa ist nicht die Europäische Union. Schade.
Aber lass mich doch mal den Gedanken fertigmachen. Der Gedanke, den ich versuche zu finden: Was ist das Gemeinsame unserer unterschiedlichen Themen? Was taucht als gemeinsame Problematik auf? Als gemeinsame Problematik taucht auf, dass das alles zukunftsvergessen ist. Das taucht bei der Klimathematik auf. Das taucht bei Europa auf. Das taucht bei allem auf, was wir diskutieren, bei der Bildungsthematik ganz genauso. Bildung ist eklatant zukunftsbezogen, sonst bräuchte man sie ja nicht.
Geschichtliche Zeitabläufe funktionieren nach einer anderen Zeitrechnung. Hunderte Jahre Identitätsbildungen prägen das kulturelle Gedächtnis und das nationale Gedächtnis. Im Rahmen dieser Erinnerungsarbeit ist Demokratie eine junge Idee. Europa erst ein Kleinkind. Der Euro und Schengen sowieso. Die Rückschläge bedeuten nicht, dass das Projekt keine Zukunft hat, sondern zeigen, wie fragil das Neue ist, wie lange es braucht, um Identität zu dynamisieren, und wie rustikal und tiefetabliert das Alte ist. Dass sich daraus Rückschläge ergeben, gehört zu historischen Modernisierungsprozessen. Dass deswegen der europäische Prozess nicht zukunftsfähig ist, ist daraus nicht herzuleiten.
Ich empfehle von meiner Playlist: Roxy Music, Song for Europe, 1973.
Der hier abgedruckte Beitrag ist ein Vorabdruck aus dem Buch „Zeitenwende. Der Angriff auf Demokratie und Menschenwürde“, das am 1. Oktober 2020 im Verlag Kiepenheuer & Witsch (Köln, 288 S., 22 Euro) erschienen ist.
Noch einmal: In kürzester Zeit sind 27 Nationen mit über 400 Millionen Menschen zu einer politischen Einheit zusammengewachsen. Trotz unterschiedlicher Sprachen, trotz unterschiedlicher Kultur und obwohl sie Kriegsgegner waren.
Optimismus ist Mangel an Information, hat Heiner Müller gesagt.
Ja. Das stimmt. Trotz allem: Ich bin ein realistischer Optimist.
Aber alles das, was du sagst, so richtig es ist, ist es ja nicht einschlägig für die Fragestellung, die ich gegen erbitterte Widerstände von deiner Seite aus hier zu erarbeiten versuche. Bei mir scheint es mittlerweile nach all dem, was wir diskutiert haben, auf der Hand zu liegen: dass wir das ganze Projekt, über das wir nachdenken, an jeder Stelle als Modernisierungs-Projekt verstehen und definieren müssen und dass das Problem, was dem entgegensteht, eine restaurative Tendenz in allen Ländern ist, eine Anti-Modernisierungs-Haltung, eine Konservierungs-Haltung, ein Festhalten am Status quo. Das ist der gordische Knoten.
Die Auseinandersetzung zwischen Modernisieren und Restaurieren, zwischen reaktionären und progressiven Konzepten ist ein ununterbrochener historisch-politischer Prozess. Eine nie aufhörende Auseinandersetzung. All das, was wir diskutieren, weist eher darauf hin, dass wir uns mehr anstrengen müssen, mehr werben müssen, für das, wofür wir stehen. Kann es sein, dass die letzten Jahre davon geprägt waren, dass politische Debatten primär pragmatisch waren und dabei vergessen wurde, auf welchem politiktheoretischen Fundament wir diese Gesellschaften entwickeln wollen? Dass die Korrelation zwischen Freiheit und Verantwortung nicht deutlich genug verhandelt wurde? Dass wir Demokratie als selbstverständlich empfunden haben? Und dass wir die Gegner der Demokratie nicht ernst genug genommen haben, weil es bedeutet hätte, sich anzustrengen, sich selbst zu hinterfragen, Antworten für sich selbst zu finden, um Antworten für andere entwickeln zu können? Wahrscheinlich haben wir auch den Frieden als selbstverständlich empfunden, obwohl mitten in Europa, in der Ukraine, Krieg ist, obwohl Teile des Kontinents Europas nicht in Frieden leben. Kann es sein, dass uns primär Wachstum und Wohlstand interessierten? Das wäre dann zu wenig gewesen.
Okay. Aber dann lass es doch mal als These so stehen. Es besteht ein ganz starkes Defizit an Zukunftspolitik.
Und an Modernisierungspolitik.
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