Weltwirtschaftsforum in Davos: Gaucks Mahnung an Osteuropa
Die Flüchtlingskrise ist auch bei den Mächtigen in Davos das Topthema. Der Bundespräsident nutzt seine Bühne dort.
Bundespräsident Joachim Gauck kann die Mächtigen nicht wirklich beruhigen, und er will das auch nicht. Keine andere Rede wurde am Mittwoch, dem Eröffnungstag des Weltwirtschaftsforums, mit so viel Spannung erwartet wie die von Gauck – auch nicht die von US-Vizepräsident Joe Biden ein paar Stunden später.
Gauck nutzt die Gelegenheit und liest vor allem den Partnern in der Europäischen Union die Leviten. Wollen wir wirklich, dass Europa zusammenbricht, fragt er – gar nicht rhetorisch, sondern bitterernst. „Niemand, wirklich niemand kann das wollen.“
Und der Mann aus der ehemaligen DDR nimmt sich vor allem die mittelosteuropäischen Länder vor, die bisher jede Solidarität mit Deutschland in der Flüchtlingskrise verweigern. Er könne, so Gauck, „nur schwer verstehen“, warum ausgerechnet diese Länder Solidarität mit Verfolgten verweigerten, wo sie doch selbst Solidarität erfahren haben.
Seine klare, teils ärgerlich klingende Mahnung an europäische Partner, die Bundesrepublik nicht im Regen stehen zu lassen, dürfte für jede Menge Gesprächsstoff in den kommenden Davoser Politikrunden gesorgt haben. Ebenso seine Forderung nach Begrenzungsstrategien im Umgang mit dem Flüchtlingsandrang und seine Warnung vor eine „Re-Nationalisierung“ in Europa.
Merkel hatte dankend abgelehnt
Viele WEF-Teilnehmer hatten sich beim Thema Flüchtlingspolitik Kanzlerin Angela Merkel als Hauptrednerin gewünscht. Mit Enttäuschung nahm man zunächst zur Kenntnis, dass die vom Time-Magazin zur „Person des Jahres“ 2015 gekürte, mutmaßlich einflussreichste Politikerin zumindest Europas bereits im November die Einladung von WEF-Chef Klaus Schwab dankend abgelehnt hatte.
Aber Gauck bleibt bei seinem Auftritt in Davos nichts schuldig. Nach fast vier Jahren im Amt und ein gutes Jahr vor der nächsten Wahl eines Bundespräsidenten weiß er, dass der Flüchtlingszuzug sein großes Thema bleiben wird. Und so nimmt er sich auch die hektische, von Verunsicherung und Ängsten, aber auch von demagogischen Zuspitzungen geprägte Debatte in Deutschland vor.
Ja, es gehört zu verantwortungsvollem Regierungshandeln, Begrenzungsstrategien zu entwickeln, sagt er. Eine solche Strategie könne moralisch und politisch geboten sein. Ein halbes Dutzend Mal spricht Gauck von „Begrenzung“ oder „Begrenzungsstrategie“. Die Kanzlerin hat das Wort bisher nicht in den Mund genommen, sie spricht lieber von Reduzierung – auch deshalb, damit niemand in der bayerischen CSU dies mit einer „Obergrenze“ verwechselt – wie sie am Dienstag in Österreich beschlossen wurde. Auch Gauck nennt das O-Wort nicht.
„Recht und Ordnung“
Die Rede in Davos kann auch als Forderung an die deutsche Politik gelesen werden, nun endlich zu handeln. Es gebe nach den jüngsten Ereignissen in deutschen Städten auch die „Furcht, dass der Staat nicht mehr immer und überall imstande ist, Recht und Ordnung zu wahren“. Diese Verunsicherungen und Sorgen forderten „überzeugende Antworten des demokratischen Rechtsstaates“.
Klar macht Gauck aber auch das Grundsätzliche: Die Aufnahme Verfolgter sei ein Gebot humanitärer Verantwortung. Dies sei durch die Genfer Flüchtlingskonvention und in Deutschland durch das Recht auf Asyl im Grundgesetz abgesichert. Die Offenheit im Sommer und Herbst 2015 sei aber vor allem ein Bekenntnis gewesen „zu einem Land, dass nach seinem tiefen Fall offen, solidarisch, aber nie mehr fremdenfeindlich oder gar rassistisch sein will“.
Von Davos aus wird Deutschland wieder einmal in einer internationalen Schlüsselrolle gesehen. Die großen Erwartungen von Wirtschaft und Politik bringt die Financial Times am Mittwoch so auf den Punkt: Allein Deutschland könne „die Spannungen in Europa zähmen“. Aber schaffen die das, fragen sich viele. In deutscher Sprache ist bei Diskussionsforen und Cocktailpartys Merkels wohl berühmtester Satz zu hören, gelegentlich in abgewandelter Form. „So, you are German?“, fragt ein amerikanischer Reporter und fügt radebrechend hinzu: „Schoffen we das?“
40.000 mal Danke!
40.000 Menschen beteiligen sich bei taz zahl ich – weil unabhängiger, kritischer Journalismus in diesen Zeiten gebraucht wird. Weil es die taz braucht. Dafür möchten wir uns herzlich bedanken! Ihre Solidarität sorgt dafür, dass taz.de für alle frei zugänglich bleibt. Denn wir verstehen Journalismus nicht nur als Ware, sondern als öffentliches Gut. Was uns besonders macht? Sie, unsere Leser*innen. Sie wissen: Zahlen muss niemand, aber guter Journalismus hat seinen Preis. Und immer mehr machen mit und entscheiden sich für eine freiwillige Unterstützung der taz! Dieser Schub trägt uns gemeinsam in die Zukunft. Wir suchen auch weiterhin Unterstützung: suchen wir auch weiterhin Ihre Unterstützung. Setzen auch Sie jetzt ein Zeichen für kritischen Journalismus – schon mit 5 Euro im Monat! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Tabubruch der CDU
Einst eine Partei mit Werten
Trump und die Ukraine
Europa hat die Ukraine verraten
Social-Media-Star im Bundestagswahlkampf
Wie ein Phoenix aus der roten Asche
Krieg und Rüstung
Klingelnde Kassen
Gerhart Baum ist tot
Die FDP verliert ihr sozialliberales Gewissen
Mitarbeiter des Monats
Wenn’s gut werden muss