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Weiterleben darf, wer rechtzeitig ausweicht

■ Medienwirksam erkundet Romano Prodi am „autofreien Tag“ seine neue Arbeitsstadt Brüssel

Das Leben für Fahrradfahrer in Brüssel ist abwechslungsreich. Bis zur letzten Minute bleibt offen, welcher Nationalität der Autofahrer ist, der einen auf die Hörner nimmt. Italiener, Portugiesen und Spanier zielen frontal auf den Mann oder die Frau. Sie gehen mit missionarischem Eifer daran, Brüssels Straßen von Radlern freizufegen. Wallonen und Franzosen dagegen sehen die Sache leidenschaftslos: Wer im Weg ist, muss weg, wer rechtzeitig ausweicht, darf weiterleben. Gelegentlich gerät man an einen Niederländer oder Angelsachsen. Man erkennt ihn daran, dass er die Verkehrsregeln auch auf Radfahrer anwendet.

Romano Prodi, der gestern Morgen medienwirksam seine neue Arbeitsstadt mit dem Rad erkundete, gönnte man solche Einblicke in die europäische Volksseele nicht. Von den mit radelnden Journalisten und auf Motorrollern vornweg brummenden Kamerateams abgesehen durfte er sich der Illusion hingeben, in einer menschenleeren Stadt zu arbeiten. Zwei Polizeifahrzeuge und eine Formation Weiße Mäuse fegten ihm den Radweg frei.

Dass Prodi ein Neuling in Brüssels Straßenschlacht ist, ließ sich schon am Outfit erkennen: Er blieb seinem blauen Standardanzug treu und trat ohne Regenmantel, Knieschoner und Helm an. Die begleitenden Beamten entwickelten zur Feier des Tages fantasievolle Lösungen. Spanier, Portugiesen und Italiener radelten im lässigen Landhausstil. Ältere Angelsachsen bevorzugten auch an diesem besonderen Morgen den gedeckt grauen Businessdress, die Socken aus feinem Garn weit über den Hosenaufschlag gezogen.

Bei Europas Bürgern scheint das Bewusstsein für die Verkehrsprobleme noch ausgeprägter zu sein als in der Brüsseler Kommission. In Umfragen sprechen sich in allen Mitgliedsländern mehr als 65 Prozent der Befragten dafür aus, das Fahrrad gegenüber dem Auto verkehrspolitisch zu bevorzugen. Nur die Portugiesen sind ehrlicher: Bei ihnen behauptet nur jeder Zweite, von fahrradfreundlichen Städten zu träumen.

Für alle, die angesichts der täglichen Dauer-Rushhour skeptisch bleiben, der Einsicht Taten folgen zu lassen, hält die neue EU-Broschüre „Vorwärts im Sattel“ eine Aufmunterung bereit: „Die positiven Wirkungen, die das Radfahren für Gesundheit und Lebensqualität hat, machen die durch Unfälle verlorenen Lebensjahre mehr als wett.“ Außerdem muss nicht jedes Zusammentreffen von Mensch und Maschine in der Katastrophe enden, wie man gerade in Belgien sehen kann. Am Wochenende wurde eine 13-jährige Radlerin in Lendelede auf dem Schulweg von einem Zehntonner überrollt. Außer einem gebrochenen Zeh und ein paar Schürfwunden blieb sie unverletzt. Na also.

Daniela Weingärtner, Brüssel

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