Weird-Folk-Duo "Coco Rosie": Mama kauft dir ein Glasauge
Mit "Grey Oceans" veröffentlichen Coco Rosie ein gigantisch beseeltes Kammerfolkalbum. Sie klirren, klimpern und klampfen auf Kinderspielzeug und Alltagsgegenständen.
Die moderne Elfe hat ihre Flügel an einem sicheren Ort verstaut und bewegt sich geschmeidig und unauffällig in der Menschenwelt. Sie trägt Filzschlapphut und Trainingshosen, ist von kleinem, aber anmutigem Wuchs und singt gerne in der Badewanne - wegen der Akustik. Eine von ihnen ist Sierra Casady. Die 28-jährige US-Amerikanerin erschafft gemeinsam mit ihrer jüngeren Schwester Bianca als CocoRosie seit sieben Jahren atmosphärischen Folk auf Kinderspielzeug und Alltagsgegenständen.
Da klirrt, klimpert und klampft es, die Musik ist ein wilder Mix aus elektronischen Beats und spirituellen Gesängen, Wiegenliedern und Stimmenverzerrern, Jazz, Bossa-Nova, Chansons und Gospel-Elementen. "Weird Folk", nennen das einige, "Freak Folk" die anderen. Sierra überlegt und nestelt in ihren dunklen Haaren. "Wir machen spirituellen Pop", sagt sie.
In der Tat erinnern viele der Lieder auf ihrem neuen Album "Grey Oceans" an Beschwörungsformeln, religiöse Gesänge und sakrale Musik. "Wir hatten so lange Zeit keine Ahnung, dass Religion überhaupt existiert", erzählt Sierra. Bei den Casadys zu Hause wurden höchstens Séancen abgehalten - also ein ganz anderes, esoterisches Verständnis von Spiritualität. "Deshalb finden wir das Thema natürlich interessant." Und da es zu ihrem Konzept gehört, Tabus zu brechen, lassen CocoRosie im ersten Song die Dreifaltigkeit weinen - ein so absurder wie fulminanter Einstieg.
Das wunderbarste und tragischste Songgedicht des CocoRosie-Albums: "If the sun decides to rise / without its colours in your eyes / it matters not / a heart of mine / prefers the darkness"
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Ein weiteres Lied erinnert an ein Rezitativ, bei dem sich über der quäkenden Stimme von Bianca Sierras operngeschultes Trällern unter einer imaginären Kirchenkuppel in die Höhe schraubt. Das Spiel mit Metaphern und Gegensätzen beherrschen die Casady-Schwestern sowieso. Da werden naiv gehauchte Lieder mit düsteren Splatter-Texten kombiniert und Liebeskummergedichte mit fröhlichem Ragtime-Gedudel.
Die Zeilen "Baby girl / don't cry / Momma's gonna buy you a glass eye" sind Teil eines harmlosen Wiegenlieds; das kindliche "Hopscotch" (Himmel-und-Hölle-Hüpfspiel) wirkt wie aus einem Charlie-Chaplin-Slapstickfilm entrissen, dabei enthält es das wunderbarste und tragischste Gedicht des Albums: "If the sun decides to rise / without its colours in your eyes / it matters not / a heart of mine / prefers the darkness." Außerdem tanzen Feen zu Elektroklängen, Tote werden mit glockenheller Stimme zu Grabe gelassen und Elfen weben Perücken aus Wimpern.
Die Unregelmäßigkeiten, die auf dem Debütalbum "La Maison de mon Rêve" beim Zuhörer Herzrhythmusstörungen verursachten, sind mittlerweile verschwunden. Vielleicht liegt es daran, dass Gaël Rakotondrabe seine Pianistenhände im Spiel hatte. Der Jazzvirtuose aus Paris hat CocoRosie schon vorher auf und neben der Bühne begleitet, nun aber auch intensiv beim Entwickeln der Songs mitgewirkt - und wird von den Schwestern mittlerweile als vollwertiges drittes Bandmitglied akzeptiert.
Dabei ist es offenbar nicht einfach, mit dem Duo zu arbeiten, "weil wir nicht viel Raum für Kompromisse haben." Sierra nagt an ihrer Unterlippe. "Gaël sind wir hingegen blind gefolgt. Er war für alle Experimente bereit." Womöglich hat auch er sich, wie zuvor schon Antony Hegarty von Antony and the Johnsons, auf ein Dreiecksverhältnis mit den zauberhaften Schwestern eingelassen. Denn plötzlich kichert Sierra: "Die meiste Zeit haben wir ihn allerdings abgefüllt." Wahrscheinlich mit Blütennektar.
Während Bianca - die Wilde, die Künstlerin, die Poetin - bei CocoRosie die Songtexte schreibt, ist Sierra ruhiger und in sich gekehrter. Sie wählt ihre Worte mit Bedacht: "In meiner Familie war ich ein Außenseiter. Es wurde nicht besonders viel Notiz von mir genommen." Deshalb ist sie alleine durch die Wälder gestreift, hat Tiere gejagt und kaum geredet. Stattdessen ohne Unterlass gesungen, wie es sich gehört für ein Elfenkind. "Erst durch die Musik habe ich einen Weg entdeckt, mich auszudrücken."
All das klingt natürlich reichlich pathetisch. Wenn es etwas an CocoRosie gibt, das nervt, ist es diese Geschichte ihrer Kindheit. Sie klingt wie eine gut durchdachte PR-Story, oder - gnädiger - wie ein Märchen: Die Mutter Künstlerin, der Vater vom Stamm der Cherokee mit Hang zum Schamanismus, immer on the road, die Kinder im Gepäck. Die Großfamilie - der Vater hat mit drei verschiedenen Frauen jeweils vier Kinder - tingelt durch die USA und lebt in Hippie-Kommunen.
Die Kinder besuchen Waldorfschulen, es gibt weder Plastikspielzeuge noch Fernseher, "ihr Deutschen könnt das doch ganz gut nachvollziehen", sagt Sierra. "Ich kann mich dankbar schätzen, dass ich so aufgewachsen bin". Bis heute sind die beiden Schwestern naturverbunden. "Wenn wir mit dem Tourbus unterwegs sind, halten wir manchmal an und laufen so lange, bis wir keine Gebäude mehr sehen. Und dann machen wir ein Feuer."
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