Weihnachten auf St. Pauli: Heilige Scheiße
Zu Weihnachten sind in Hamburgs St. Pauli die mütterlichen Huren ausgebucht. Und zwei Mädchen suchen ein Glas Rotkohl.
Meine erste eigene Wohnung war 42 Quadratmeter groß und lag im vierten Stock eines runtergekommenen Altbaus in Hamburg-St. Pauli. Meine Mutter wohnte in der Nähe, sie sollte als Vormund den Mietvertrag unterschreiben, denn ich war erst 17 Jahre alt, aber ich war zu faul, zu ihr rüberzugehen, und fälschte die Unterschrift.
Man sieht es gleich, das ist nicht die Schrift einer Erwachsenen. Aber es war eine perfekte Fälschung, denn meine Mutter hat eine sehr kindliche Schrift, obwohl sie achtzehn Jahre älter ist als ich. Sie versicherte mir seit Beginn meiner Periode regelmäßig: „Kind, du kannst immer zu mir kommen, auch wenn du in der Schule eine sechs schreibst oder schwanger wirst, wir schaffen das!“
Es gibt kaum ein besseres Verhütungsmittel, als eine Mutter zu haben, die babysüchtig ist. Sie verkannte mich total. Ich war eine gute Schülerin und wollte studieren und auf keinen Fall so werden wie sie. Ich war zunächst bei meinem Vater aufgewachsen, einem strengen Mann, der von Arbeit, Hygiene und Ordnung besessen war. Angeblich hatte Mama ihn deshalb verlassen, und ich erinnere mich, dass es oft Streit gab, wenn sie Teppichfransen kämmen, Messingelefanten putzen oder Schränke auswischen sollte.
Irgendwann war sie weg, und ich wuchs zusammen mit meinem Bruder beim Vater auf. Und ähnlich wie sie, war auch er uninteressiert an meiner Schule und Ausbildung. Eines Tages erkannte ich, dass ich unter seiner Obhut nur ein „gutes pakistanisches Mädchen“ werden würde. Deshalb zog ich zu meiner Mutter nach St. Pauli, die dort mit einem weiteren Kind, das sie von einem türkischen Mann bekommen hatte, lebte.
Frei, verzaubert, gefährlich
Die Jahre in St. Pauli waren dann plötzlich sehr frei, wie verzaubert, auch gefährlich. Wer zu lange in St. Pauli bleibt, kriegt irgendwann mit einem fetten Edding (eine Hamburger Firma) ein großes, verschmiertes Tattoo ins Gesicht gezeichnet: Lebenskotze. Mit einem hübschen Anker durch Nase und Stirnlappen. Richtig gemütlich ist es nirgends in der Welt, aber St. Pauli ist raffiniert darin, gemütlich-ungemütlich zu sein.
Einer der sinnbildlichsten Orte in meiner neuen Nachbarschaft hieß dann auch Zur gemütlichen Tankstelle, aber unter den Ironikern hieß der Laden in der Hein-Hoyer-Straße einfach nur„ Zur Ungemütlichen“. Da gab es eine dekorative Trinkerclique, die 24/7 auf einem rustikalen Eckbänkchen saß, während der Wirt aus großem Sortiment Schnoopkram (Hamburgisch für Süssigkeiten) verkaufte, das als Mischsortiment in durchsichtigen Tütchen verpackt war.
Der schönste Mann ist der Heiamann
Beispielweise zehn Mäuse, Lakritze und Gummischnuller zu einer Mark. Die ganze Tütchenpracht hatte er auf blendend weißen Tiefkühltruhen arrangiert. Nie erfuhr man, wer oder was sich in den Tiefkühltruhen befand. Gleich neben der Ungemütlichen arbeitete ein kleiner Schuster mit einer schief sitzenden schwarzen Perücke, was aussah, als hätte er einen Feudel (Hamburgisch für Wischmopp) auf dem Kopf.
Holte man die neu besohlten Schuhe bei ihm ab, rief er: "Der schönste Mann ist der Heiamann! Der schönste Mann ist der Heiamann!" Er erklärte mir - da war ich gerade neu im Revier und mit den Gepflogenheiten noch nicht vertraut - was es mit dem Heiamann auf sich hat: Der Heiamann war der Betrag, den es kostete, mit einer Nutte "Heia" zu machen (Hamburgisch für "zu schlafen"). Dieser Schuster assoziierte den "Heiamann" Mitte der 1980er Jahre noch mit fünf Mark, was wohl bedeutete, dass seine aktive Zeit damals schon lange zurückgelegen haben muss.
Zu Weihnachten ist es ganz besonders schwer, den Modus Operandi von St. Pauli zu verstehen, denn da kommen nur ganz wenige Besucher, es lärmt kaum, und man könnte meinen, das wäre die natürlich friedvolle Stimmung, die allem stets unterliegt. Die Matrosen sitzen Heiligabend auf hoher See vor ihren Radios, hören im Rundfunk die Weihnachtsgrüße der Angehörigen, so herzergreifend mit sentimentalen Männerchorwerken versetzt, dass es dem härtesten Freier die Auslagen in der Herbertstraße vermiest.
Die Nutten, allein unter sich, packen derweil Päckchen mit Diddlmäusen und Kuschelhasen für ihre grenzdebilen Kinder, um die sie sich sonst einen Scheiß scheren. Zur Weihnacht kocht im sankt-paulianischen Gemüt ein besonders schleimiger Sud, der den Körper fast auf menschliche Temperatur bringt.
Stollen für den Scrooge
Falls aber ein Nuttenfingernagel beim Einpacken der Geschenke abbricht, ergeht ein Orkan an Verwünschungen über die Diddlmaus, und es zeigt sich, wie schwarz die Milieuseele wirklich ist. Touristengruppen und einheimische Kegelklubs sind Heiligabend auch nicht unterwegs, und die netten zugezogenen Studenten, die gelegentlich den Bioladen frequentieren, wenn bei Penny die Schlangen zu lang sind, befinden sich bereits sicher daheim im Hessischen oder Sauerländischen, solide Geschenke vor sich.
Auch keine einsamen Hamburger Notare, Reeder, Kaufmänner und Herrenausstatter sind zu sehen, wie sie im Staubmantel die Reeperbahn hoch und runter schlendern. Und wenn doch der eine oder andere auftaucht, schwimmt in seinen Augen ein ganz großer Schluck Wasser. Es ist meist warm, Heiligabend in Hamburg, viel zu warm, selbst im Staubmantel.
Mütterliche Huren, wofür sich dickbusige ältere Damen gern ausgeben, sind seit Monaten ausgebucht. Wohin also mit der Not der einsamen Herrenausstatter und Notare? Vielleicht setzt sich der eine oder andere noch fix in den Schnellbus, der von der Reeperbahn abgeht, und ihn in weniger als fünfundzwanzig Minuten in Bramfeld ausspuckt, wo ärmere Angehörige noch ein Stück Stollen für den Scrooge übrig gelassen haben.
Santa Maria, Insel die aus Träumen geboren
Die Kirche? Ja, die Kirche. Das bisschen bürgerliche Krume wird besinnlich eingestimmt. Meine Mutter arbeitete in der Friedenskirche Altona im Gemeindesekretariat, wenn sie nicht gerade in einem ihrer vielen Schwangerschaftsurlaube war. Die echten sankt-paulianischen Weihnachtslieder erklingen aus den Eckkneipen: Und darum liebe ich euch beide; Santa Maria, Insel die aus Träumen geboren; Verdammt ich lieb dich, ich lieb dich nicht.
Und wie arg die Fenster der Kleinbürgerwohnungen blinken und leuchten. Es sind Warnblinker: Wenn du meine Dogge nicht überall hinscheißen lässt, dann zerfleischt sie dich. Wenn du meinen Spasti-Sohn nicht ganz schnell ohne Zeugnis von der Schule entlässt, du Scheißgesamtschullehrer, dann hätte ich mich sehr in dir getäuscht. Wenn du mir blöd kommst, dann wirst du schon sehen.
Zugegeben, das Ausgehen liebte ich sehr, und es hätte mich beinahe fertig- und alle gemacht. Als ich schließlich, mit einem 2,0-Abitur in der Tasche, auf die Universität der Handelsstadt Hamburg ging, welch passend profaner Name für eine profane Universität, studierte ich im Hauptfach Ausgehen und in den Nebenfächern Ausschlafen und Rumhängen. Die Seminare hießen Kaiserkeller, Im Eimer, Mary Lou, La Paloma, Orkan, Tiefenrausch, Heinz Karmers, Schilleroper, Mutter.
Waschen, waschen, waschen
Obwohl ich damals kaum Alkohol trank, hatte es mich fast blöd gemacht, das ständige Ausgehen, denn Ausgehen war mein Wald, meine Wiese, mein Bächlein. Wer war schuld daran? St. Pauli war schuld daran. Mein Vater hatte mich gewarnt, als ich aus seinem Hoheitsgebiet östlich der Alster zur Mutter westlich der Alster floh: Ich würde als Nutte enden!
Aber das war Quatsch. Ich war keine Nutte, ich war eine Romantikerin, die nie eine Rechnung aufmachte. Ich wollte einen Popstar heiraten. Davon liefen auf dem Kiez einige herum. Nick Cave und den Schlagzeuger von den Toten Hosen hab ich mal getroffen. Aber solche Popstars meine ich nicht, sondern solche im Selbstbausatz. Wenn man sie fand, musste man sie wie ein Goldwäscher aus dem Schlamm holen und waschen, waschen, waschen.
Eine absolute Sackgasse für junge Mädchen, aber es gab genug Deerns (Hamburgisch für Mädchen), die sich darauf einliessen. Und wie sie wuschen. Im Laufe des Grundstudiums erkannte ich die Gefahr, die St. Pauli für mich bedeutete. Auch die Vereinsamung in einer 42-Quadratmeter-Wohnung wurde ein Problem für mich. Ich wurde sonderlich und spielte stundenlang Tetris auf meinem 386er.
Ich musste da weg und ging da weg. Gründete mit meiner Freundin Natascha eine Wohngemeinschaft mit Katze.
Aber an einen Heiligabend in St. Pauli erinnere ich mich gut, es war das erste Weihnachten in den eigenen vier Wänden. Ich war allein. Was hätte ich tun können, wohin gehen? Zu Mama und ihren zwei kleinen Kindern, die sie mittlerweile hatte? Sie war die Erste, die mit diesem Fensterlichtwahnsinn-Blink-Blink angefangen hatte, wenigstens im Schmidt-Rottluff-Weg, der gerade neu gebaut worden war und von der Friedenskirche abging, das kann ich mit Sicherheit behaupten. Damals hatte sie gerade ein neues Baby bekommen. Das Mädchen mit den zwei verschnörkelten Vornamen wurde sechzehn Tage vor Heiligabend geboren.
Orgeln, orgeln, orgeln
Ich hatte das Kind noch nicht gesehen. Ich verdrehte nur die Augen. Der Kindsvater und sein Schäferhund waren schon über alle Berge, und meine Mutter war, wie ich gehört hatte, seit der Geburt depressiv. Auch ihr Antrag auf eine neue Waschmaschine war vom Sozialamt St. Pauli-Nord trotz „eilt sehr“ noch nicht behandelt worden. Dieses Elend wollte ich mir nicht antun. Zu meinem Vater mochte ich auch nicht gehen, der wollte an diesen Tagen niemanden sehen, schon gar nicht seinen Bastard, der Schweinefleisch aß. Ich konnte auch nicht zu meinen Onkel Johannes, der sonst immer die Rettung verkörperte und im gleichen Haus wie ich lebte. Weil er aber Kirchenmusiker von Beruf war und Heiligabend seinen stressigsten Arbeitstag im Jahr hatte, ging das nicht. Familiengottesdienst, Chor, Mitternachtsmesse, orgeln, orgeln, orgeln.
Es war wohl das Jahr, in dem mich der Weihnachtsmann komplett abgeschrieben hatte. Ich vergammelte vor dem Nachtspeicherofen, drehte das Gebläse auf maximal und stierte vor mich hin. Ausgehen war auch sinnlos. Alle Popstarprojektionsflächen waren bei ihren gesunden Familien außerhalb des Kotze-Sperma-Döner-Gettos im Hessischen oder Sauerländischen. Da klingelte es an die Tür. Wer störte meine Solitüde? Die Gegensprechanlage funktionierte natürlich nicht. Immerhin hatte mir meine besorgte Tante Christiane einen Spion in die Tür einbauen lassen. Ich schaute durch. Jemand kam all die Treppen bis in den vierten Stock hinauf. Es war meine Freundin Natascha, mit der ich zur Schule ging.
„Natascha, was machst du denn hier?“ Richtig überrascht war ich nicht. Nataschas Eltern waren Kommunisten (Hamburgisch für Eppendorfer mit Automarke Lada) und lehnten Weihnachten grundsätzlich als Hohefest des Kapitalismus ab. Deshalb gab es an den Weihnachtstagen bei den erklärten Feinschmeckern nichts Leckeres zu essen. Nataschas Mutter, eine Krankenschwester, ließ sich Weihnachten freiwillig zur Abendschicht einteilen. Es war also nur logisch, dass Natascha an mich dachte.
Sie inspizierte als Erstes meinen Kühlschrank. Ich hatte ihn gebraucht zum Einzug geschenkt bekommen und auf dem Balkon silbern angesprüht. Er sah total cool aus und hatte damit seinen Zweck damit schon fast erfüllt. Ich kaufte nicht viel ein, ich war immer sehr knapp bei Kasse. Natascha machte sich über meine Aufstriche und Wurstsorten lustig. Ja, ich gebe zu, ich gab nicht viel Geld für Aufstriche und Wurstsorten aus. Das sollte sich erst später ändern. Damals reichte mir etwas Jagdwurst, wenn sie im Angebot war, und Gouda mit Margarine auf preisgünstigem Schnittbrot.
Badesalz von Douglas
Natascha wurde nervös, als sie das Elend sah. Sie wollte etwas Schönes essen, sie wollte eine tiefe Weihnachtsbefriedigung auf der Zunge. Sie war schon damals sehr appetitgesteuert. Für einen Teenager ungewöhnlich. Aber ich werde Nataschas Appetit jetzt nicht weiter beschreiben, sondern kurz auf dessen Bedeutung in der Dramaturgie dieser Geschichte hinweisen. Auf die Naturkraft, die bewirkt, dass zwei 17-, 18-jährige Mädchen am Heiligabend, wo es ganz besonders schrecklich zugeht auf St. Pauli, das Haus verlassen, um eine gegrillte Ente oder irgendetwas Fettig-Knuspriges zu kaufen. Auch ein Glas Rotkohl aufzutreiben, hatte Natascha im Sinn.
Ihr Blick fiel auf eine durchsichtige Zellophanverpackung mit weißem Pulver. „Was ist das denn?“ „Badesalz von Douglas. Hab ich für meine Mutter zu Weihnachten besorgt.“ Natascha schlug vor, zu meiner Mutter in den Schmidt-Rottluff-Weg zu gehen, ihr das Badesalz zu bringen und zu schauen, ob es da ein Glas Rotkohl für uns gab. Ich nahm die Geschenke mit, die ich für das neugeborene Mädchen und meinen kleinen Bruder besorgt hatte, der damals etwa 6 oder 7 Jahre alt gewesen sein muss.
Bei Mama in der Wohnung war es ruhig. Der kleine Bruder spielte mit neuen Spielsachen. Auch hatte er für sein Zimmer einen Schreibtisch und einen Drehstuhl geschenkt bekommen. Er war verunsichert und verstört, so wie kleine Kinder sind, die neue Geschwister verkraften müssen und sich insgeheim doch freuen, wenn durchreisende Kindsväter mit Schäferhund den Weg nach „ohne Wiederkehr“ finden. Mir ging es nicht anders.
Das Baby schlief, war sehr zart und kahl auf dem Kopf. Ich setzte mich auf die Couch gegenüber der Postertapete "Palmenstrand", vor der ein kleiner Weihnachtsbaum stand, und bekam sie auf in den Arm gelegt. Sie schnorchelte vor sich hin. Mama kochte Tee und bot uns Spekulatius mit und ohne Mandeln an. Sie hatten nach der Bescherung Würstchen mit Kartoffelsalat gegessen. Warmes Essen gab es traditionell am ersten Weihnachtstag. Natascha rümpfte die Nase. Mama erzählte, dass sie bald wieder im Gemeindesekretariat arbeiten würde. Um die Kleine würde sich unterdessen ihre Freundin A. kümmern, als Tagesmutter. Es wäre schon alles besprochen. Ich war überrascht. Das klang doch ganz vernünftig.
Abgenagte Hühnerknochen
Auch hörte ich die rhythmischen Geräusche einer arbeitenden Waschmaschine aus dem Badezimmer. Das Sozialamt St. Pauli-Nord hatte unmittelbar vor Heiligabend eben doch noch erkannt, dass einer Mutter mit zwei kleinen Kindern das Leben ohne Waschmaschine nicht zumutbar sei. Ich war so froh! Mama legte das Badesalz von Douglas auf der neuen Waschmaschine ab.
Natascha fragte nach Rotkohl. Mama gab ihr ein Glas. Wir verabschiedeten uns und gingen auf Entenjagd. Wanderten durch die Nebenstraßen der Reeperbahn und inspizierten die Imbissauslagen. Natascha rümpfte nur die Nase. Ich aß ein quadratisches Stück Pizza, der Teig hatte die Konsistenz von Fahrradreifen. Schließlich fand Natascha ihr Glück im Bayrisch Zell auf der Reeperbahn.
Die Bedienung am Grillstand trug Tiroler Hut und Tracht und war sehr freundlich. Ich wollte nichts mehr, auch keine Haxn. Zurück in meiner Wohnung erhitzte Natascha den Rotkohl und machte sich einen hübschen Teller zurecht. Wir setzten uns auf mein Sofa, schalteten den Fernseher ein, kuschelten uns zusammen. Natascha aß und fütterte mich. Irgendwann waren wir müde und legten uns in mein Bett. Als ich mittags aufwachte, war sie schon lange weg, die Frühaufsteherin. Ein Teller abgenagter Knochen stand noch im Wohnzimmer. Vom halben Weihnachtshähnchen aus dem Bayrisch Zell auf der Reeperbahn.
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