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Weiblicher Schmerz, männliche MedizinAufstand der Patientinnen

Eine Reihe von Büchern thematisiert Sexismus in der Medizin. Frauen verschwinden hinter der männlichen Norm, ihrem Schmerz wird selten geglaubt.

Weibliche Schmerzen sind unterforscht. Körperdarstellungen, Dresden ca. 1930 Foto: imago

Eva Biringer kannte ihre Großmutter nur leidend. Auf dem Sofa lagernd, ein Kirschkernkissen auf den schmerzenden Bauch gepresst, dämmerte sie vor sich hin, das Haus verließ sie nur ungern. Nach Meinung der Ärzte war die Frau körperlich gesund, aber nervlich labil. Am Ende ihres Lebens war sie schmerzmittelabhängig, aber nicht schmerzfrei.

Die Enkelin schreibt in ihrem Buch „Unversehrt. Frauen und Schmerz“: „Der Bauch meiner Großmutter sprach seine eigene Sprache. Warum hörte niemand zu?“ Die Autorin fragt sich, inwieweit ihr der Schmerz ihrer Großmutter selbst in den Knochen steckt.

Was sich ein wenig nach weiblicher Esoterik anhört, gibt es tatsächlich: Das Phänomen der Epigenetik bezeichnet die Vererbung von Traumata – in Biringers Fall die Erfahrung, chronische Schmerzen erdulden zu müssen, als Bestandteil eines weiblichen Alltags, der von permanenter Erschöpfung und misogynen Herabsetzungen sowie geringem Selbstwertgefühl geprägt war und ist.

Biringer stellt den Fall ihrer Großmutter in einen politischen Kontext. Auf gut 200 Seiten taucht sie ein in die Facetten weiblichen Schmerzes, von seiner Negierung durch eine männlich geprägte Medizin bis zur künstlerischen und erotischen Faszination an versehrten Frauenkörpern.

Die erwähnten Bücher

Sarah Ramey: „Der Club der hysterischen Frauen“. btb Verlag, München 2025, 592 Seiten, 18 Euro

Eva Biringer: „Unversehrt. Frauen und Schmerz“. HarperCollins, Hamburg 2024, 256 Seiten, 20 Euro

Layal Liverpool: „Racism Kills“. Aufbau Verlag, Berlin 2024, 461 ­Seiten, 24 Euro

Mandy Mangler: „Das große Gyn-Buch“. Insel Verlag, Berlin 2024, 496 Seiten, 30 Euro

Elinor Cleghorn: „Die kranke Frau“. KiWi Verlag, Köln 2022, 496 Seiten, 25 Euro

Der gender pain gap

Dass ihre realen Schmerzen als „Frauenleiden“ in den psychosomatischen Bereich abgeschoben und mit Tabletten ruhiggestellt wurden – diese Erfahrung teilt Eva Biringers Vorfahrin mit Frauen (ob cis oder trans oder nicht klar „normalmännlich“) überall auf der Welt. „Ein Mann bekommt Schmerzmittel. Eine Frau etwas für die Nerven“, bringt es Biringer auf den Punkt und referiert damit auf den gender pain gap, also das Phänomen, dass Schmerzen von Frauen und Männern unterschiedlich wahrgenommen werden.

Frauen wird einerseits unterstellt, schmerztoleranter zu sein als Männer, da ihr Körper von Natur aus beträchtlichen Schmerzen ausgesetzt ist. Andererseits wird der Schmerz von Frauen weniger ernst genommen.

Die Missachtung weiblichen Schmerzes scheint allgegenwärtig zu sein – zumindest gibt es großen Redebedarf. Die Regalbretter in den Buchhandlungen biegen sich unter Neuerscheinungen, die sich mit der Ignoranz weiblichen Leidens in Arztpraxen und Krankenhäusern befassen. Selbsterfahrungsberichte, essayistische Sachbücher, Ratgeber – von einem regelrechten Aufstand der Patientinnen könnte man sprechen.

Diese Bücher sind Zeugnisse von weiblicher Wut und Ohnmacht: darüber, dass im Jahr 2025 Frauen noch immer Patientinnen zweiter Klasse sind, dass sie in der Forschung unterrepräsentiert sind, dass sie etwa an einem Herzinfarkt häufiger sterben, weil ihre sich von Männern unterscheidenden Symptome nicht rechtzeitig erkannt werden. Und darüber, dass Krankheiten, die mehrheitlich Frauen betreffen, von der Forschung als „Weiberkram“ ignoriert werden.

Der Arzt weist sie an, still zu sein

„Der Club der hysterischen Frauen“ heißt bezeichnenderweise die schwarzhumorige (leider schlecht übersetzte) Leidensgeschichte der Amerikanerin Sarah Ramey, die, aufgewachsen in den 1980ern als Tochter eines Ärztepaars, an einer mysteriösen Krankheit im Urogenitalbereich erkrankt. Ihre Symptome (Reizdarm, Gelenkschmerzen, Ausschlag, schmerzhafte Schwellungen) stellen Fach­ärz­t*in­nen vor ein Rätsel, hinter vorgehaltener Hand nennt man sie hypochondrisch. Ein Arzt entnimmt ihr ohne adäquate Betäubung Gewebe aus der Vagina. Als sie vor Schmerzen schreit, weist er sie an, still zu sein, und weigert sich, ihr Schmerzmittel zu geben.

Notgedrungen wird sie zur medizinischen Rechercheurin, befasst sich mit Autoimmunerkrankungen, die zu vier Fünfteln weibliche Patientinnen betreffen – und kaum erforscht sind. Ebenso wie andere typisch weibliche chronische Erkrankungen wie Migräne, Endometriose oder das Schmerzsyndrom Fibromyalgie, für die im Verhältnis zur Anzahl von Betroffenen vergleichsweise wenig Forschungsgelder bereitgestellt werden – von fachlicher Fortbildung für Me­di­zi­ne­r*in­nen ganz zu schweigen.

Schmerzen aushalten: Frauen im Sanatorium, etwa 1910

Dass Frauen von medizinischen Studien ausgeschlossen sind (da Probandinnen schwanger werden könnten) und in medizinischen Lehrbüchern kaum berücksichtigt würden, kritisierte schon die Frauengesundheitsbewegung der 1970erJahre. Viel ist seither nicht passiert, schaut man sich gängige Biologiebücher für den Schulunterricht an. Der menschliche Körper schlechthin ist stets ein Mann, weibliche Körper werden nur dargestellt, wo es um Zyklus, Schwangerschaft und Geburt geht: die Frau als menschlicher Sonderfall.

Rassismus und Gesundheit

Ramey kommt als Kind der dritten Feminismuswelle zu dem Schluss, dass das Gleichheitsversprechen des Feminismus, mit dem sie aufgewachsen ist, diesem Blick auf Frauen als „etwas kleinere Männer“ Vorschub leistet, indem Frauen selbst dazu bringen kann, die spezifisch weiblichen Eigenheiten und Bedürfnisse ihrer Körper und Seelen zu verleugnen, zugunsten einer positiv konnotierten toughness – die das Aufschließen zur männlichen Norm meint. Das aber verlange, sich möglichst von als „weiblich“ angesehenen Gefühlen und Verhaltensweisen abzuwenden.

Den Fehler sieht Ramey, deren Großmutter schon als Endokrinologin den Beweis führte, dass weder ihre Physiognomie noch ihre Hormone Frauen in irgendeiner Form schwach oder minderwertig machten, freilich nicht im Gleichheitsideal des Feminismus selbst oder in der Gendertheorie, die Geschlecht als etwas sozial Konstruiertes und Fluides betrachtet. Sondern in der Tatsache, dass „weiblich“ gelesene Prinzipien wie Intuition, zyklisches und ganzheitliches Denken, Verletzlichkeit oder (Selbst-)Fürsorge gesellschaftlich als minderwertig gelten – auch unter Feministinnen.

Die Folge seien ein Lebensstil und eine Medizin, die hochtechnisiert, effizienz- und erfolgsorientiert ist. Was besonders Frauen in einem Gesundheitssystem untergehen lässt, dessen Maßstab nach wie vor der männliche Patient ist. Der weiße männliche Patient, genauer gesagt.

Die britische Schwarze Ärztin Layal Liverpool lenkt in „Racism Kills“ den Augenmerk auf den allgegenwärtigen Rassismus im Gesundheitssystem. So bewertete noch bis 2021 ein Algorithmus in US-Kliniken die Sicherheit einer vaginalen Geburt nach Kaiserschnitt für Schwarze und hispanische Gebärende anders als für weiße, rassistische Annahmen über eine Andersartigkeit Schwarzer und indigener Becken lagen dem zugrunde.

Liverpool zitiert Studien, wonach Schwarze Frauen seltener Schmerzmittel verschrieben bekämen, da man ihnen, in Kontinuität kolonia­ler Rassismen, unterstelle, „dickere“, schmerzunempfindlichere Haut zu haben – oder tablettenababhängig zu sein und mit Rezepten zu handeln. Die speziell rassistische Variante der Misogynie gegenüber Schwarzen Frauen führe dazu, dass Schwarze Frauen in Großbritannien fünfmal häufiger an Komplikationen bei Schwangerschaft und Geburt stürben als weiße. In den USA liegt die Mütter- und Säuglingssterblichkeit in der Schwarzen Bevölkerung höher als in sämtlichen anderen Industrieländern der Welt.

Der verzerrte Blick

Die amerikanische Kulturhistorikerin Elinor Cleghorn spricht in ihrem auf Deutsch bereits 2022 erschienenen Buch „Die kranke Frau“ von einer perfiden Verschränkung von strukturellem Rassismus und genderspezifischen Vorurteilen. Die Diskriminierung kranker Frauen insgesamt, schreibt sie, sei „einem Schatten geschuldet, der seit Jahrhunderten über der Medizin liegt […] und den Blick auf die Frauen sowie die Beurteilung ihrer Krankheiten stark verzerrt“.

In ihrem historisch grundierten Buch zeigt Cleghorn auf, wie tief misogyne Vorurteile und Mythen über den weiblichen Körper in der modernen Medizin verwurzelt sind. Dabei entsteht ein Bild, das alle Annahmen über eine vermeintlich humanistische Objektivität der Medizin hinwegfegt: Das Anastäthetikum Chloroform mache Frauen sexuell „rasend“, das Spekulum fördere die Onanie bei jungen Mädchen … Dem offensichtlich patriarchalen Unsinn von gestern stellt Cleghorn heutige Mythen entgegen, etwa die von allzu achtsam in sich hineinhorchenden jungen Frauen, die sich im Internet Diagnosen wie ME/CFS (chronisches Erschöpfungssyndrom) selbst zusammenrecherchierten – obwohl die Ärzte „nichts gefunden“ hätten.

Man könnte es nach Lektüre einiger kritischer Bücher zum Thema auch so sehen: Dem Schmerz von Frauen wird noch immer nicht geglaubt, daher ­gehen sie selbst auf Ursachensuche. Wie die „hysterische Patientin“ Sarah Ramey, die nach 16 Jahren körperlich unerträglicher Leiden zur Expertin ihrer eigenen Symptome wurde. Auf die nicht eine, sondern mehrere einzelne Diagnosen zutrafen, die, als sie auf ihr Drängen integriert behandelt wurden, zur ersehnten Besserung führten.

Cleghorn, die selbst eine „unpässliche“ Patientin war, bis die Autoimmun­erkrankung Lupus erythematodes bei ihr diagnostiziert wurde, streift die eigene Leidensgeschichte nur am Rande. Sie geht zurück an die misogynen Wurzeln, in die griechische und römische Antike. Mediziner wie Hippokrates betrachteten den weiblichen Körper als von den Launen der Gebärmutter (auf Altgriechisch: Hystera) beherrscht – ein für die Männer rätselhaftes Organ, dem sie „die Ursache von 1.000 Übeln“ (Demokrit) und viel Wundersames nachsagten.

Etwa, dass es bei zu wenig „Auslastung“ auf Wanderschaft durch den Körper ginge, was durch Geschlechtsverkehr und möglichst viele Schwangerschaften zu beheben sei. Im Mittelalter wurden Schmerzen bei der Geburt als Strafe für die Erbsünde betrachtet. Cleghorn zitiert aus Werken wie „Secreta Mulierum“, in denen es hieß, die Menstruation mache die Frau schwach und heimtückisch.

Der berühmte „Hexenhammer“ als Rechtfertigung grausamer Verfolgung traf auch heilkundige Hebammen und Pionierinnen der Frauenheilkunde wie die Pariser Ärztin Felice de Almania. Systematisch arbeitet Cleghorn auf, wie ein patriarchales System, das auf der Unterwerfung des weiblichen Körpers aufbaut, mithilfe der krudesten Theorien und Vorurteile den weiblichen Körper dominiert und gleichzeitig seine ernsthafte Erforschung verhindert – bis heute. 2020 enthüllte eine Whistleblowerin, dass in einem Gefängnis in Georgia ungerechtfertigte und häufig nicht einvernehmliche Massenhysterektomien an gefangenen Frauen vorgenommen wurden. Und erst 2005 wurde entdeckt, dass die Klitoris ungefähr fünfmal größer ist als bisher bekannt. Es bedurfte der Forschung der ersten Urologieprofessorin Australiens, die Klitorisschenkel zu entdecken und ihre wichtige Funktion für die Frauengesundheit.

Weibliche Sicht

Was, wenn es sich nicht um einen Club von hysterischen Frauen, sondern von unsichtbaren Patientinnen handelt? Auch die Berliner Gynäkologin und Chefärztin Mandy Mangler (eine von drei weiblichen Chefinnen der Hauptstadt mit 21 Kliniken) findet deutliche Worte: „Von einer sinnvollen Repräsentanz von Frauen sind wir weit entfernt“, befindet sie. Und berichtet von einem deutschen OP-Aufklärungsbogen, auf dem bis 2023 die Klitoris fehlte, das Organ der weiblichen Lust, über die männliche Kollegen nach wie vor erschreckend wenig wüssten.

„Offensichtlich ist es für uns Frauen […] überlebenswichtig, medizinisch mitgedacht zu werden und in der Forschung vertreten zu sein“, schreibt Mangler im Vorwort zu ihrem frauenärztlichen Kompendium „Das große Gyn-Buch“, das sich dem weiblichen Körper aus weiblicher Sicht nähert. Mangler setzt sich für eine geschlechtersensible Medizin ein. Erforscht wird dieser Ansatz deutschlandweit bislang nur an einem Institut an der Berliner Charité. Eine Stärkung der geschlechtersensiblen Medizin ist vor dem Hintergrund wirtschaftlicher Sparmaßnahmen und eines gesellschaftlichen Schwenks hin zu „maskulinen Werten“ nicht zu erwarten.

Die von vielen Autorinnen zusammengetragenen Erkenntnisse über den Sexismus in der Medizin aber bleiben sichtbar, wenigstens im Buchregal.

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