Webserie über Transmenschen: Therapeut YouTube
In einer Webserie berichten Transmenschen von Krisen und OPs. Mit der Zeit wird sichtbar, wie sie Selbstbewusstsein gewinnen.
Kim trägt ihre blonden Haare offen, hat lange, geschwungene Wimpern und knallrote Lippen. Auf ihrem YouTube-Kanal finden Beauty-Affine Schminktipps und Tutorials über Haarpflege. Von Zeit zu Zeit steht aber auch Kims Penis im Mittelpunkt. Denn Kim thematisiert in ihren Videos auch ihre Transsexualität. Nun ist sie mit vier anderen Transgender-Blogger_innen aus Amerika und Deutschland Teil des Videotagebuchs „Transgender Online – Mein neues Geschlecht“.
Die Videotagebücher sind ein Konzept des Web-Senders dbate.de der Hamburger Produktionsfirma ECO Media, die unter anderem mit Spiegel Online kooperiert. In ihnen werden Skype-Interviews mit privaten YouTube-Videos verknüpft. Vorab haben Journalist_innen das Material gefiltert und verifiziert. Das Konzept soll die Berichterstattung der etablierten Medien ergänzen. Mittlerweile greifen auch öffentlich-rechtliche Medien wie das ZDF oder der Deutschlandfunk regelmäßig auf die Videobeiträge von dbate zurück.
Welche Bedeutung YouTube als alternatives Informationsmedium für Transmenschen hat, bemerkte die verantwortliche Journalistin Anica Beuerbach: „Die Protagonisten fanden selbst keine Erklärung für ihre Situation, bis sie Transgender im Fernsehen oder bei YouTube über ihre Gefühle haben reden hören“. Über dbate können sie jetzt ein größeres Publikum erreichen – was sie preisgeben, haben sie dabei selbst in der Hand.
Die Blogger_innen berichten von Identitätskrisen und Phasen der Orientierungslosigkeit. Besonders in der Pubertät, in der die psychischen und physischen Veränderungen sowohl sie selbst als auch ihr Umfeld überfordern. Davon berichtet auch Kim. Die 19-jährige Studentin wurde in der Schule diskriminiert und wurde Opfer von körperlicher Gewalt. Damals wurde sie von Selbstzweifeln geplagt. Sie fühlte sich zu maskulin, fast täglich maß sie ihre Taille, den Kieferknochen oder ihre Schulterbreite aus.
Den Körper verändern
Einen anderen Aspekt beleuchtet Austen: Der gläubige Christ propagiert auf seinem YouTube-Kanal die Vereinbarkeit von Glaube und Transsexualität. Er kennt die Konflikte, die gläubige Trans-Jugendliche umtreiben. Einige sehen ihre Existenz als Strafe oder Abartigkeit an und leiden unter Depressionen oder haben Suizidgedanken.
Ihre inneren Konflikte legen die Blogger_innen offen dar. So treibt sie zum Beispiel die Frage der Geschlechtsangleichung um. Was hat man sich darunter vorzustellen? Wie trifft man eine solche Entscheidung? Nicht jeder Transgender entscheidet sich für eine totale Geschlechtsangleichung. Einige lehnen es ab, sich zu verbiegen, um der Erwartungshaltung der Gesellschaft zu entsprechen.
Empfohlener externer Inhalt
Als essenziell empfinden die Blogger_innen zumindest die Hormonbehandlungen. Täglich nehmen sie Hormone ein, Testosteron oder Östrogen. In ihren Videos protokollieren sie ihre Fortschritte. Und nicht nur der Körper erfährt tiefgreifende Veränderungen. Die Hormone beeinflussen auch ihre Gefühlswelt. Austen entschied sich für eine Mastektomie – das operative Entfernen seiner Brüste – und finanzierte den Eingriff mit Crowdfunding.
In Deutschland übernehmen die Krankenkassen die Kosten für die meisten Operationen, sofern sich die betroffene Person einer Psychotherapie unterzogen hat und ihre Transsexualität von einem psychologischen Gutachten bestätigt worden ist.
Persönlich und nah
Der tägliche Kampf um Anerkennung ist hart, erfüllt die Blogger_innen aber auch mit Stolz. In der Videoserie wird sichtbar, wie sie mit der Zeit an Selbstbewusstsein gewinnen. Und obwohl sie ihre Transsexualität als etwas Besonderes empfinden, identifizieren sie sich nicht über sie.
„Transgender Online – Mein neues Geschlecht“. Regie: Anica Beuerbach; dbate.de/YouTube; 42 Min
Das Videotagebuch behandelt das Thema Transgender auf persönlicher Ebene. Die Videos vermitteln ein Gefühl der Vertrautheit. Die Protagonist_innen sprechen für sich selbst, die in anderen Dokumentationen manchmal mitleidig anmutende Stimme aus dem Off bleibt aus. „Transgender Online“ gibt so beispielhaft Einblicke in die Komplexität von Sexualität, Geschlecht und Identität. Spannend für alle, die mit ihrer Geschlechtsidentität hadern – sowie deren Familien und Freunde.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag in Magdeburg
Bis Freitag war er einer von uns
Elon Musk und die AfD
Die Welt zerstören und dann ab auf den Mars
Magdeburg nach dem Anschlag
Atempause und stilles Gedenken
Tarifeinigung bei Volkswagen
IG Metall erlebt ihr blaues „Weihnachtswunder“ bei VW
Jahresrückblick Erderhitzung
Das Klima-Jahr in zehn Punkten
Anschlag von Magdeburg
Aus günstigem Anlass