piwik no script img

„We listen and we don't judge“Viraler Beichtstuhl

Beim Social Media Trend „We listen and we don't judge“ hört man sich Schuldbekenntnisse an, ohne zu urteilen. Aber geht es danach jemandem besser?

Die Beichte, Italien, Darstellung aus dem Jahr 1872 Foto: Gemini Picture/imago

Ein Paar sitzt vor der Kamera. „Weißt du noch, als wir uns erst vier Tage kannten und du mir beim Umzug geholfen hast?“, fragt sie. „Ja, und?“, antwortet der Partner. „Die ganzen anderen Kerle, die da waren und geholfen haben, die habe ich damals auch gedatet“.

Es ist ein Spiel mit einfachen Regeln. Man macht sich gegenseitig peinliche oder überraschende Geständnisse vor laufender Kamera. Wer urteilt oder kritisiert, verliert. Nach jeder Beichte wiederholen die Teil­neh­me­r*in­nen mantraartig: „Wir hören zu, wir urteilen nicht“. Dann ist der andere an der Reihe.

Der Trend „We listen and we don’t judge“ soll anderen Menschen Raum geben, ihre Gedanken und Gefühle ohne Vorurteile oder Bewertungen zu teilen. Der Fokus liegt auf aktivem Zuhören und dem Verständnis für die Perspektiven der anderen, ohne sofort eine Meinung zu äußern, zu kritisieren oder gar auszurasten.

Es geht darum, sich auf den anderen einzulassen. Dabei kommen allerlei skurrile Macken und Geständnisse ans Licht: Die Frau, die angeblich früher zur Arbeit geht, aber einfach nur schnell vom Partner weg will. Der Vater, der Chips und Süßkram im Auto isst, weil er nicht mit den Kindern zuhause teilen will.

Zwischen gesunder Übung und Social-Media-Spektakel

Für den Alltag ist das eine super Sache. Aber Social-Media-Trends werden selten erfolgreich, weil sie so gesund sind, es braucht schon etwas mehr. Immerhin ist es jedermanns Lieblingsbeschäftigung im Internet, andere Menschen zu bewerten und zu verurteilen. Und wenn es schon die Menschen im Video nicht tun, dann zumindest die Kommentatoren, damit der Algorithmus versteht: Dieses Video hat Potenzial, viral zu gehen.

So wird die Übung aus der gewaltfreien Kommunikation zum Beicht-Hype: je mieser und schockierender die Enthüllung, desto besser. Und bei manchen der Videos heißt es dann nicht mehr, „Wir hören zu und urteilen nicht“, sondern „wir hören zu und trennen uns“. Oder ist doch nur alles fake? Kann sein, wie immer bei schnelllebigen Social-Media-Trends weiß man es nie genau.

Guter Trick für ein frohes Fest

Die Beliebtheit des Trends ist schon etwas fragwürdig, aber die Idee, mehr zuzuhören und weniger zu urteilen, ist gut. Besonders zur Weihnachtszeit. Wie würde das Familienessen verlaufen, wenn sich die Eltern zurück hielten und nicht über die Partnerwahl oder das neue Tattoo schimpfen würden?

Allein die Aussicht darauf, wie entspannt wir selbst durch die Feiertage kämen, wenn wir die spitzen Bemerkungen der Tante oder die schräge politische Meinung des Onkels einfach mal stehen lassen könnten, ohne sofort in die Diskussion einzutreten, ist es wert, die Übung auszuprobieren.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

1 Kommentar

 / 
  • Ich stelle mir gerade beichtende TAZ Autor*innen vor, die zugegeben das sie gar keinen Onkel mit komischen politischen Ansichten haben und das neuste Tattoo von den Eltern gar nicht bemerkt wurde.