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Was uns bewegt und was nichtAlltäglicher Horror

Islamistischer Terror und ein diktatorischer Trump. Das Weltgeschehen weckt derzeit Endzeitgefühle. Armut und Ungleichheit wirken da eher langweilig.

Wegen alltäglicher Not: Mitarbeiterinnen der Bremerhavener Tafel bereiten Lebensmittel vor Foto: Sina Schuldt/dpa

E s steht viel auf dem Spiel in diesen Tagen. Vielleicht sogar alles. Finden Sie nicht? Europa kämpft gegen islamistischen Terror; auf der anderen Seite des Atlantiks regiert die Furcht vor vier weiteren Jahren mit Donald Trump.

Vielleicht erfüllen Sie diese Tage mit einem ganz besonderen Schauder, mit Endzeitgefühlen. Sie hören und lesen ständig Worte wie Zivilisation, Freiheit, Demokratie. Es ist gut, dass Sie diese Konzepte zur Hand haben, wenn es knallt auf der Welt; es ist gut und absolut notwendig, dass Sie den Wert der individuellen Freiheit hochhalten, wenn Islamisten in Metropolen auf Menschen schießen; genauso gut und notwendig ist es, inbrünstig an demokratische Mindeststandards zu erinnern, wenn Mr President denkt, er kann Diktator spielen.

Bei solcher Weltlage ist es erwartbar, dass Sie mit anderen darüber diskutieren, was nun passieren muss, vielleicht auch streiten: Was tun als Linker gegen islamistischen Terror? Was halten davon, dass so viele Menschen einen Zyniker wählen? Das Engagement, der Streit, sind aber nicht nur lästig, sie erfüllen Sie, geben Ihnen Sinn und Identität.

Und das alles passiert so leidenschaftlich, weil islamistische Terroranschläge in ihrem angst­einflößenden, unmittelbaren Horror unter die Haut gehen; weil in den USA ein Präsident regiert, den es so dreist bisher noch nicht gegeben hat, und der mit seinem comictauglichen Bösewichtauftreten zum ganz unmittelbaren, wuterregenden Ärgernis wird. Ein Wahlkampf wie eine Reality-TV-Show und Wahltage wie eine Fußball-WM tun ihr Übriges.

Angstlust und Weltschmerz

Tage wie diese, an denen so viel auf dem Spiel steht, lassen Sie möglicherweise aber anderes übersehen, vergessen, vielleicht auch einfach hinnehmen – wenn Sie es sich denn leisten können: die Klassengesellschaft, die zunächst viel weniger bestürzend erscheint. Dass die Coronapandemie die soziale Frage radikalisiert, das gilt mittlerweile als Binse. Auch der „Lockdown light“ wird viele Existenzen noch weiter erschweren, auch wenn er harmlos und cool klingt wie eine Packung Zigaretten.

Armut und soziale Ungleichheit triggern den Weltschmerz einfach nicht so; war ja schließlich schon immer so, dass die einen mehr haben als die anderen. Es geht um Ungerechtigkeit, die keine Chance hat gegen die Angstlust, die einem herumballernde Terroristen oder die untergehenden USA verschaffen. Über mögliche Zusammenhänge von eskalierender physischer Gewalt, autoritären Tendenzen und der systematischen Gewalt ökonomischer Ordnung nachzudenken, wäre zwar naheliegend, ist aber anstrengend und langwierig.

Ja, es sind absurde, aufregende und schreckliche Tage, durch die Sie und ich gerade gehen. Der Schrecken der Klassengesellschaft ist da langweiliger. Er liegt in der trügerischen Plausibilität und unaufgeregten Alltäglichkeit.

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Volkan Ağar
Redakteur taz2
Kolumnist (Postprolet) und Redakteur im Ressort taz2: Gesellschaft & Medien. Bei der taz seit 2016. Schreibt über Soziales, Randständiges und Abgründiges.
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6 Kommentare

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  • DIE HARTZ-IV-BLAMAGE Teil 1/3

    „Der Schrecken der Klassengesellschaft ist da langweiliger. Er liegt in der trügerischen Plausibilität und unaufgeregten Alltäglichkeit.“ „Dass die Coronapandemie die soziale Frage radikalisiert, das gilt mittlerweile als Binse.“

    Ja. Aber die Binsenbestände wachsen weiter und weiter. Während die Öffentlichkeit sich rasch gelangweilt abwendet und der Journalismus diese Themen (deshalb) vielleicht nicht mehr aufgreifen will, wachsen sie näher heran an das Alltagsleben der Leute und dort hinein. Hartz IV z. B. dürfte als Thema vielen nur noch ein „Gähn“ entlocken. Allenfalls noch geeignet, die steuerlichen Belastungen zu thematisieren, die der Steuerzahlerbevölkerung, die sich für die bestimmende Allgemeinheit im Staate hält, daraus erwachsen. Dabei zeigt dieses System der Grundsicherung in der Corona-Krise genau die „trügerische Plausibilität“ die Volkan Agar so treffend anspricht.



    Welche Rolle spielt denn das Grundsicherungssystem in der Corona-Krise? Durchaus auch unter der Frage, ob es als solches überhaupt für eine solche Ausnahmesituation einer Pandemie geeignet ist oder sein muss. Dennoch. Sehr hilfreich scheint es in der Pandemie nicht zu sein. Richtigerweise setzt die Politik zuerst auf Arbeitsplatzerhalt durch Kurzarbeitergeld und z. B. den angedachten Unternehmerlohn für Soloselbstständige. Weil das Grundsicherungssystem eine solche Hilfe nicht zulässt. Dort mussten z. B. zuerst die Eigenbeteiligung des eigenen Vermögens und die Begrenzung der Mietkostenübernahme vorrübergehend ausgesetzt werden. Denn Vermögensverlust und Wohnungsverlust würden den Betroffen wie den Soloselbstständigen einen Neustart wohl kaum ermöglichen. „Neustart ermöglichen“, das aber kann durchaus als strategisches Ziel der sozialen Corona-Maßnahmen bezeichnet werden.

  • DIE HARTZ-IV-BLAMAGE Teil 2/3

    Doch „Neustart ermöglichen“ sollte auch Ziel einer Grundsicherung in den je individuellen Situationen erwerbslos gewordener Menschen sein. Das wird mit Hartz IV propagiert, real aber nicht gewährleistet. Es bleibt zuerst eine gesetzlich geregelte Maschinerie zur Überführung in den Niedriglohnsektor und zum Ausgangspunkt einer „Verwertung der Entwerteten“ (Helga Spindler) in einer Maßnahmenindustrie, die prekäre Arbeit für viele, nur nicht für die Erwerbslosen schafft.



    In der Pandemie erfährt das Grundsicherungssystem und mit ihr die Politik, die es trägt, deshalb eine selbst erzeugte HARTZ-IV-BLAMAGE. Beachtet wird sie indes wenig. Der egelrechte Horror, der in der Bevölkerung gegenüber Hartz IV festzustellen ist, entlädt sich auf die Arbeitslosen auf dieser Resterampe, die als demotivierter, Steuergelder verzehrender Haufen gesehen werden, die in einer vermeintlich auskömmlich ausgestatteten Hängematte liegen. Gleichzeitig wird aber z. B. den Soloselbstständigen bewusst, die ganz verständlicher Weise nicht in die Situation kommen wollen, zu diesem Haufen gezählt zu werden, dass ein „Aufenthalt“ in Hartz IV für sie das AUS bedeuten kann. Und zwar nicht nur der sozialen Deklassierung wegen, sondern wegen der genannten strukturellen Bedingungen des Grundsicherungssystems, die ihnen einen Neustart von dort heraus begründet nicht mehr möglich erscheinen lassen. „Wir arbeiten, auch in der Krise“, „Wir sind tätig, um später wieder anzufangen“, „Wir haben vorher gearbeitet“, wird zu Recht aus ihren Reihen gesagt. „WIR SIND NICHT HARTZ IV“, so lässt es sich zusammenfassen. Als einer, der Hartz IV kennt, meine ich auch, da sollen sie nicht hin. Niemandem wäre damit geholfen.



    Es ist aber ausgerechnet oder bezeichnender Weise die Co-Parteivorsitzende der SPD, Saskia Esken, vor dem Hintergrund dieser Lage sagte, dass etwas mit Hartz IV nicht mehr stimmen könne, wenn die Menschen davor so derart Angst hätten. Das dämmert der SPD schon länger.

  • DIE HARTZ-IV-BLAMAGE Teil 3/3

    Das lässt sich politisch aber nicht mehr bloß taktisch wegdrücken. Indem die Politik z. B. „wohlmeinend“ zu den Betroffenen spricht: „Schaut her, wir ersparen euch in der Krise Hartz IV. Das seid ihr nicht, gell.“ Die Corona-Krise wird (weitere) Erwerbslosigkeit mit sich bringen. Dann werden Fragen an das Grundsicherungssystem dahingehend gestellt werden, inwieweit es strukturell in der Lage sein wird, Menschen noch neue Chancen zu geben. Diese Fragen werden von Menschen gestellt werden, die vielleicht zuvor noch der fünfzehn Jahre anhaltenden Propaganda gefolgt sind, welchen Typ man bei den Arbeitslosen vor sich hat und die sich dann konkret und persönlich mit den unzureichenden Strukturen der Grundsicherung auseinanderzusetzen haben. Und da fällt die wesentlich von der Politik erzeugte negative Hartz IV-Meinungsmache auf sich selbst zurück und in sich zusammen. Das Grundsicherungssystem zeigt seine „trügerische Plausibilität“ schon jetzt: In seiner ideologischen Deklassierung der Erwerbslosen und in seiner vordergründigen Behauptung, erwerbslosen Menschen Auswege zu bieten.

    Indes wird das auch wesentlich davon abhängen, inwieweit solche Zusammenhänge von den Medien thematisiert werden. Ob Journalismus solche Themen geduldig aufgreift. Eine Kolumne wie „Postprolet“ in der taz begrüße ich deshalb sehr und bin gespannt auf weitere Beiträge auch im Sinne des hier kommentierten.

  • Ja, es sind absurde, aufregende und schreckliche Tage, durch die Sie und ich gerade gehen. Der Schrecken der Klassengesellschaft ist da langweiliger. Er liegt in der trügerischen Plausibilität und unaufgeregten Alltäglichkeit.

    Nein, er ist nicht langweilig, er ist so grausam und sichtbarer denn je, seit Corona, seit weniger Menschen unterwegs sind, seit dem werden sie sichtbar, die Vergessenen, die Verlorenen, die Hilflosen, die Süchtigen - sie alle tummeln sich an den letzten Plätzen, wo noch etwas Leben herrscht. Jeden Tag werden es mehr, junge Pärchen die vorm Budni kauern, alte Frauen die im U Bahn Aufgang schlafen, der Bahnhofvorplatz mit den Junkies, die sonst am Drop Inn waren - so junge Menschen schon so verloren. Jeden Tag zerreist es mir das Herz, jeden Tag spreche ich mit einem dieser Menschen, gebe etwas Kleingeld, Essen oder zu trinken, jeden Tag erschüttert mich die Ignoranz unserer Gesellschaft mehr und mehr, klar kann ich den ganzen Tag über Terror oder US Wahl lamentieren, aber ganz plump gesagt, die meisten, wenn nicht sogar alle US Präsidenten waren/sind Größenwahnsinnig, Terror ist im Alltag angekommen, ja das ist der Weltschmerz, mein Schmerz ist es, das diese priviligierte Gesellschafft es eben nicht schafft eine Gesellschaft zu sein, wie sie es sein sollte. Corona wird uns alle noch weiter spalten, noch mehr Ungleichheit schaffen, interessieren wird es nur wenige.

  • Gegen den Weltschmerz über die soziale Ungleichheit hilft wahrscheinlich am besten, mal die ideologische Brille abzusetzen und sich nackte Zahlen und Fakten anzuschauen. Die globale Armut wird nämlich in unserer kapitalistischen und globalisierten Welt immer weniger (was allerdings wahrscheinlich fatale Auswirkungen auf das Klima hat). Quelle: m.bpb.de/nachschla...%20147%20Millionen.

    • 7G
      75787 (Profil gelöscht)
      @Ruediger:

      Thomas Jefferson wusste: "Banken sind gefährlicher als stehende Armeen"

      oder:

      "Blicken wir auf die Herausforderungen der Entwicklungszusammenarbeit, extreme Armut und Hunger weltweit zu reduzieren, so beziehen wir uns zumindest auf die ganz große Mehrheit dieser rund zwei Milliarden Menschen, die in armen Ländern oder in Staaten mit niedrigem Einkommen leben, und nicht auf die „Erfolgszahlen“ der Weltbank, die Ergebnis der politischen Selbstrechtfertigung dieser Institution sind und daher je nach Bedarf erhebliche Sprünge nach oben oder unten machen können."

      www.uni-due.de/imp...tent/inef/ave2.pdf