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Was ist Gender?

Früher gab es den Mann und die Frau – und damit basta. Dann reifte die Erkenntnis, dass Mann und Frau soziale Konstrukte sind. Seitdem spricht man von „Gender“ und „Geschlechtsidentität“. Aber führt dieser Diskurs direkt zur Geschlechterdemokratie? Teil I einer kleinen Reihe zum Begriff Gender und seinen Folgen

von REGINA FREY und HANNES DINGLER

Seit den Achtzigerjahren hat der aus dem anglophonen Raum stammende Begriff Gender in feministischen Debatten an Bedeutung gewonnen; manche sprechen gar von einem Paradigmenwechsel. Tatsächlich werden die Begriffe „Frau“ und „Frauen“ zunehmend durch „Gender“ ersetzt. Was allerdings Gender bedeutet, bleibt oft unklar. Übersetzungsangebote reichen von „sozialem Geschlecht“ oder „Geschlechterverhältnis“ über „Geschlechtsidentität“ bis hin zu „symbolisches Geschlecht“.

Gemeinsam ist diesen Erklärungen, dass sie einem biologischen Geschlecht – englisch sex – ein soziales Geschlecht – englisch gender – gegenüberstellen. Das soziale Geschlecht wird dabei als gesellschaftliche Konstruktion betrachtet. Nur selten wird darauf hingewiesen, dass Gender eine lange Begriffsgeschichte mit heftigen Kämpfen um Bedeutungen – und politische Strategien – mit sich schleppt und sich ein eigenes Diskursfeld zu Gender etabliert hat.

Die politische und wissenschaftliche Heimat des Konzepts Gender ist die feministische Theorie, die inzwischen stark ausdifferenziert ist. Gender wird dabei von jeder Theorieströmung mit unterschiedlicher Intention gebraucht, diskutiert und auch in Frage gestellt. Donna Haraways: „Gender wurde als Begriff im Kampf gegen die Naturalisierung des sexuellen Unterschieds entwickelt und auf mehreren Kampffeldern verwendet.“ Die Idee von Geschlecht als einer sozialen Konstruktion ist allerdings älter als der Begriff Gender: Simone de Beauvoir schrieb schon 1949, niemand werde als Frau geboren, sondern zu einer solchen gemacht.

Sex versus Gender

Gender liegt im Trend: Statt um „Frauenförderung“ und „Gleichstellung“ geht es heute um „Gender“ und „Gender Mainstreaming“. Aber worin besteht der Unterschied? Die Konturen der Debatte um das Konzept Gender lassen sich anhand verschiedener Vorwürfe und Vorbehalte gegenüber Gender sowie an den Auseinandersetzungen um Essentialismus und Universalismus aufzeigen.

Die Unterscheidung zwischen dem „biologischen Geschlecht“ (sex) und dem „sozialen Geschlecht“ (gender) führte Ann Oakley bereits 1972 ein. Der feministische Trick war, den ursprünglich grammatikalischen Begriff Gender gesellschaftspolitisch zu wenden und damit dem Argument einer „Biologie als Schicksal“ Einhalt zu gebieten. Während Sex als unveränderliches biologisches Faktum betrachtet wird, ist Gender als soziale Konstruktion gesellschaftlich bedingt und somit veränderbar. Von körperlichen Ausprägungen können dann keine Rollenzuschreibungen abgeleitet werden – ein Gedanke, der feministische Kritik an traditionalen Rollenmustern ermöglicht.

Die Streitfrage bleibt allerdings, in welchem Verhältnis Sex und Gender zueinander stehen. GenderskeptikerInnen begründen Geschlechtsunterschiede biologisch – Sex determiniere demnach Gender. Viele Theoretikerinnen akzeptieren den Genderbegriff, nehmen aber oft an, dass Sex die biologische Basis für sozial bedingte Genderrollen bildet und setzen eine biologische Zweigeschlechtlichkeit voraus.

Vom Dekonstruktivismus inspirierte Denkerinnen wiederum stellen die Unterscheidung von Sex und Gender beziehungsweise die Vorstellung eines eindeutigen biologischen Geschlechts in Frage. Die körperliche Geschlechtlichkeit sei ebenso sozial konstruiert – Sex wäre somit eine Form von Gender.

Genderskepsis

Manche Beiträge zur feministischen Debatte versuchen, die Sex-Gender-Differenz in Richtung Sex aufzulösen. Insbesondere essentialistische Ansätze lehnen die Unterscheidung von Sex und Gender ab, da sie von einer biologisch bedingten Verbindung von Frau und Natur ausgehen. Durch ihre biologischen Fähigkeiten wie Gebären und Stillen besäßen Frauen eine besondere Beziehung zur Natur, die sich auch in ihren sozialen Rollen zeigen müsse. Einer solchen essentialistischen Sichtweise zufolge wären Frauen auf Grund ihrer Biologie näher an der Natur als Männer, weshalb Sex Gender determiniert. Entgegen der patriarchalen Werteverteilung ist hier aber die Frau oder das Weibliche immer auch das Bessere.

Ein solcher Essentialismus verspielt aber gerade die Möglichkeit der Kritik an biologisch legitimierten Rollenzuweisungen, welche der Genderbegriff dem Feminismus eröffnete. Zudem bindet diese Perspektive Frauen und Männer unausweichlich an bestimmte soziale Rollen und führt so letztlich zu einer Stabilisierung der Geschlechterverhältnisse. Einer solchen Auffassung ist deshalb eine strukturelle Analogie zu konservativen Ideologien der „natürlichen“ Geschlechterordnung zu Eigen, wie sie etwa der Vatikan vertritt.

Die Anatomieanalogie

Dekonstruktivistische Theoretikerinnen dagegen kritisieren die Vorstellung einer eindeutigen biologischen Körperlichkeit sowie das Modell der natürlichen Zweigeschlechtlichkeit. Eine sehr prominente Vertreterin dieser Strömung ist Judith Butler. Ihr zufolge ist auch die Rede vom „biologischen Geschlecht“ eine diskursive Konstruktion. Sex wird damit zur gendered category und der biologische Körper zu einem Produkt politischer Macht. Auch Zweigeschlechtlichkeit oder Heterosexualität wären dann soziale Konstruktionen, Geschlecht müsste als fließende Kategorie gedacht werden, so dass die Grenzen zwischen „männlich“ und „weiblich“ verschwimmen. Damit geht die – durchaus politische – Forderung nach einem „Verlust der Gendernormen“ einher. Denn dies wäre die Voraussetzung dafür, dass zum Beispiel Menschen, die nicht in das Entweder-Mann-oder-Frau-Muster passen (wollen), nicht länger gesellschaftlich sanktioniert werden.

In diesem Zusammenhang greift Butler vor allem die heterosexuelle Struktur als Zwangsordnung an: Weiblichkeit und Männlichkeit sind lediglich gesellschaftlich konstruierte Idealtypen, die politisch geschaffen werden, um eine bestimmte Geschlechterordnung aufrechtzuerhalten. Aus einer solchen Perspektive (re-)produziert eine Vorstellung von Gender, die sich in einer vermeintlichen Analogie zur Anatomie lediglich auf Zweigeschlechtlichkeit bezieht, gesellschaftliche Zwänge. Die Dekonstruktion der Kategorie Frau (nicht von Frauen) wird somit feministisch notwendig.

Rasse – Klasse – Gender

Während die biologische Fundierung von Sex und Gender dekonstruktivistisch erschüttert wurde, kritisieren andere Theoretikerinnen, dass Gender in vielen feministischen Ansätzen einen allgemeingültigen Anspruch erhebt. Frauen werden hier spezifische Eigenschaften zugesprochen, die sie sich durch Erfahrungen – zum Beispiel im Rahmen ihrer Reproduktionstätigkeiten – aneigneten. Sozial bedingte Erfahrungen führten so zu vergeschlechtlichten Charakteristiken, die sämtlichen Frauen gemeinsam sind. Gender wäre demnach eine zwar sozial konstruierte, aber universelle Kategorie, die die Erfahrungen aller Frauen gleichermaßen beschreibt.

Afroamerikanische Feministinnen, Feministinnen aus dem Süden, feministische Denkerinnen im Spektrum postkolonialer Kritik sowie Queertheoretikerinnen monieren, dass feministische Ansätze deshalb implizit oft von (der Minorität der) weißen, westlichen, bürgerlichen und heterosexuellen Frauen ausgehen und in erster Linie für diese entstanden seien. Andere Lebensrealitäten würden ausgeblendet. Die Normsetzungen weißer, bürgerlicher Feministinnen berücksichtigten nur diejenigen, die den „Vorteil“ haben, nur qua Geschlecht diskriminiert zu sein.

Feministinnen afrikanischer Herkunft werfen deshalb ihren weißen „Schwestern“ Rassismus vor. Daraus erwächst die Frage, welche Formen der Solidarität unter Frauen überhaupt tragfähig sind, wenn bestehende Differenzen zwischen Frauen nicht ausgeblendet werden dürfen. Gender müsste dann neu gedacht werden, da das Konzept immer auch von anderen Machtachsen wie ethnischer Herkunft, Klasse oder sexueller Orientierung überlagert und geformt ist. Dieses Mitdenken anderer Ausgrenzungskategorien als Bestandteil feministischer Theorien relativiert den bisherigen Fokus auf die Kategorie Gender. Aus der Kritik am Universalismusanspruch von Gender resultiert eine Betonung der Differenz zwischen Frauen und die Notwendigkeit der Berücksichtigung weiterer sozialer Kategorien neben Gender auch in feministischen Ansätzen. Das Verhältnis verschiedener Herrschaftsbeziehungen bleibt aber kontrovers und ist auch künftig Gegenstand feministischer Debatten.

Das Genderdilemma

Die Diskussion zeigt, dass Gender ein feministischer Begriff ist. Da der Begriff jedoch Verschiedenes in den unterschiedlichen feministischen Ansätzen bedeutet, lässt sich der Begriff nicht eindeutig definieren. Es zeigt sich zudem, dass der Begriff mit mindestens zwei unterschiedlichen Intentionen gebraucht wird. Erstens als (Analyse-)Kategorie, die es ermöglicht, Ausgrenzungs- und Privilegierungsmuster in Gesellschaften entlang einer geschlechtlichen Ordnung zu erkennen und zu benennen. Die meisten feministischen Ansätze gebrauchen Gender in diesem Sinne, wenn es zum Beispiel um die – besonders auch hierzulande – eklatante Unterrepräsentanz von Frauen in Führungsetagen oder über die überproportional hohe Armut unter Frauen weltweit geht.

Doch gibt es auch eine zweite, weniger beachtete Dimension, die die Vorannahmen von Gender als gesellschaftlicher Struktur problematisiert: Gender kann in diesem Sinne als normative Kategorie, das heißt als Ausdruck für ein Regelwerk gelten, das die Geschlechterordnungen erst herstellt. Die entsprechende Utopie wäre eine Gesellschaft, die ohne eine Zweiteilung entlang einer sozial konstruierten Demarkationslinie Gender auskommt. Dies würde jedoch auch eine andere politische Strategie zur Folge haben, da hier die feministische Analysekategorie Gender selbst problematisiert werden muss und es nunmehr um das „Entschlechtlichen“ (Degendering) geht.

In diesem Sinne meint Judith Lorber: „Der Feminismus hat sehr viel erreicht, aber das Allerschwerste – der Frontalangriff auf Gender – steht uns noch bevor.“ Aus dieser Mehrdeutigkeit ergeben sich „Genderparadoxien“ (Lorber): Wird Gender als Kategorie zur Analyse von Gesellschaft gebraucht, besteht die Gefahr, dass eben dadurch eine gesellschaftliche Ordnung verstärkt wird, die aus feministischer Perspektive eigentlich überwunden werden soll.

Was aber bedeutet diese Paradoxie und die Mehrdimensionalität von Gender für eine politische Strategie wie zum Beispiel das „Gendermainstreaming“, also Gender zur Querschnittsaufgabe für eine Institution zu machen? Folgt man der Vorstellung des Europäischen Rates, der durch Gendermainstreaming „Gendergleichheit“ (Gender Equality) herstellen möchte, erkennt man, dass hier eine Vorstellung zum Zuge kommt, die Gender als Angleichung der „Frau“ an den „Mann“ fasst. Ziel ist hier Gendergleichheit als „eine gleiche Präsenz, Empowerment und die Beteiligung beider Geschlechter (sexes) in allen Sphären des öffentlichen und privaten Lebens“.

Neu an dieser Strategie ist nur, dass nunmehr auch Männer für Gleichstellung verantwortlich gemacht werden. Dies wäre zunächst ein wichtiger Schritt, geht jedoch vor dem Hintergrund neuerer feministischer Debatten nicht weit genug. Gender Mainstreaming in der popularisierten Form beruht auf einer spezifischen Vorstellung von Gender, neue theoretische Impulse werden dabei nicht reflektiert.

Die Strategien des Gendermainstreaming sind jedoch wissenschaftlich und politisch fragwürdig, wenn dabei Debatten um Gender ignoriert werden. Gerade aus diesen neuen Impulsen ergibt sich, dass Gleichstellungskonzepte zwar als strategische Prinzipien feministischer Politik dienen können, jedoch ihre Unzulänglichkeiten und Ausschlüsse gleichzeitig mitreflektieren müssen. So beinhaltet „Gleich“stellung ein (nicht selten männliches) Normenmuster, an das sich längst nicht alle anpassen können oder wollen.

REGINA FREY, 34, ist Mitarbeiterin am Institut für Soziologie der Freien Universität Berlin. HANNES DINGLER, 33, ist Doktorand am Otto-Suhr-Institut für Politische Wissenschaften der Freien Universität Berlin.Demnächst auf der Genderseite „der die das“ im taz.mag: Gendermainstreaming statt Frauenförderung? Und: Was bringt die Praxis?

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