Was die 61. Berlinale bringt: Trunkene Suche nach Schönheit
Wenig bekannte Namen, starken Willen zu relevanten Themen und eine Fehlentscheidung bringt diese Berlinale. Aber auch Publikums-Tuchfühlung und tolle Wodka-Momente.
BERLIN taz | Einer der schönsten Filmtitel des letzten Jahrzehnts lautet: "As I Was Moving Ahead Occasionally I Saw Brief Glimpses of Beauty". Während ich mich vorwärtsbewegte, erhaschte ich gelegentlich flüchtige Blicke auf Schönheit. Es ist der Titel eines Essayfilms von Jonas Mekas. Über dreißig Jahre hinweg hat der New Yorker Avantgardefilmer Material gesammelt, hat seine Familie und seine Freunde gefilmt und die dabei gewonnenen Bilder zu einer mehr als fünfstündigen Hommage an die alltäglichen Verzückungen, die das Leben bereithält, montiert.
Vor zehn Jahren lief der Film im Forumsprogramm. Und heute, am ersten Tag der 61. Berlinale, wünscht man sich, dass sein Titel ein Motto für das Filmfestival abgibt, dass man in den kommenden zehn Tagen von Kinosaal zu Kinosaal wandert und dabei von Augenblicken unerwarteter, abseitiger, erkenntnissatter Schönheit überrascht wird.
Ob der Wunsch in Erfüllung geht, ist heute naturgemäß noch nicht vorherzusagen. So viel freilich steht fest: Das Programm der Berlinale macht in diesem Jahr einen recht bescheidenen Eindruck. Der Wettbewerb ist mit 16 Titeln schlank gestaltet. Kaum ein Regisseur, kaum eine Regisseurin von Weltrang bewirbt sich um den Goldenen Bären, obwohl sich viele interessante Filmprojekte im Stadium der Postproduktion befinden, unter ihnen neue Werke von Terrence Malick, Aki Kaurismäki, den Brüdern Dardenne und David Cronenberg.
Es ist ein ernsthaftes Problem für Dieter Kosslick, den Direktor der Berlinale, dass es dem Festival nicht gelingen will, namhafte Regisseure und Regisseurinnen an sich zu binden. Eine Ausnahme bildet der Ungar Béla Tarr, der zuletzt mit der Simenon-Adaption "Der Mann aus London" zwar enttäuschte, zu dessen Filmografie aber auch so atemverschlagende Solitäre wie "Satanstango" (1994) oder "Werckmeister harmóniák" (2000) zählen und der sich nun in "A Torinói Ló" (Das Turiner Pferd) mit dem wahnsinnig werdenden Nietzsche befasst.
Das heißt nicht, dass die übrigen Regisseure irrelevant wären, ihre Bedeutung beschränkt sich nur auf einen kleineren Rahmen. Die beiden Berliner Ulrich Köhler und Andres Veiel etwa steuern Filme zum Wettbewerb bei, auf die man ohne Frage neugierig sein kann: Köhler hat seinen dritten Spielfilm, "Schlafkrankheit", in Kamerun gedreht und sich mit diesem beachtlichen Schauplatzwechsel frei gemacht von den mittel- und nordhessischen Eigenheimen, die bisher den Raum seiner Filme bildeten. Veiel wiederum hat zum ersten Mal in seiner Laufbahn einen Spielfilm gedreht, sein Thema ist die Vor- und Frühgeschichte der RAF. Er konzentriert sich in "Wer,wenn nicht wir" auf die prekäre Dreieckskonstellation aus dem Verleger und Schriftsteller Bernward Vesper und den späteren Terroristen Gudrun Ensslin und Andreas Baader.
Die Performancekünstlerin Miranda July hat vor sechs Jahren mit ihrem Debüt "Ich und du und alle, die wir kennen" einen Independent-Hit gelandet; in ihrem zweiten Langfilm, dem Wettbewerbsbeitrag "The Future", erzählt sie von einem Paar in den Dreißigern, das eine schwer kranke Katze bei sich aufnimmt und dadurch aus der gewohnten Bahn geworfen wird. Ralph Fiennes, der Schauspieler, den man aus "Schindlers Liste" oder "Der Vorleser" kennt, stellt sein Regiedebüt vor, eine modernisierte Adaption von Shakespeares Tragödie "Coriolanus". Der iranische Filmemacher Ashgar Farhadi erhielt vor zwei Jahren für "Alles über Elly" einen Silbernen Bären. Diesmal läuft sein Film "Jodaeiye Nader az Simin" (Nader und Simin, eine Trennung) im Wettbewerb; er handelt von einem Paar, das den Iran verlassen möchte, daran jedoch scheitert und sich daraufhin scheiden lässt.
An Farhadi zeichnet sich eine Tendenz des Filmfests ab: Immer stärker schöpft die Berlinale aus sich selbst, versucht, ihre eigene Relevanz zu stiften. Dies gilt umso mehr, seit sie die Nachwuchsförderprogramme Talent Campus und World Cinema Fund aus der Taufe gehoben hat. Wer einmal reüssiert, kommt wieder: etwa der Argentinier Rodrigo Moreno, der 2007 für sein Debüt "Der Leibwächter" den Alfred-Bauer-Preis erhielt. Dass schon sein Erstling an die ästhetischen Neuerungen des jungen argentinischen Kinos nicht so recht anknüpfen konnte, fällt dabei offenbar nicht weiter ins Gewicht.
Eine zweite Tendenz, die sich seit Jahren erhärtet, ist die zum relevanten Thema. Solange sich ein Film mit Blutrache in Albanien ("The Forgiveness of Blood" von Joshua Marston), der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl ("V Subboto" von Alexander Mindadze) oder den Spätfolgen einer lateinamerikanischen Militärdiktatur ("El Premio" von Paula Markovitch) befasst, scheint die spezifische ästhetische Durchdringung des Sujets nur mehr eine Nebensache.
Selbst dort, wo sich die Berlinale einer allzu gegenwärtigen, allzu himmelschreienden Ungerechtigkeit annimmt, noch dort also, wo sie sich für den zu sechs Jahren Haft und 20 Jahren Berufsverbot verurteilten iranischen Regisseur Jafar Panahi starkmacht, unterläuft ihr ein Fauxpas. Denn für Panahis Mitstreiter Mohammad Rasoulof hat das Festival kaum ein Wort in seinen Presseerklärungen übrig, obschon Rasoulof zur gleichen drakonischen Strafe verurteilt wurde wie sein bekannterer Kollege. Dass Panahis Filme gezeigt werden, nicht aber Rasoulofs "The White Meadows" (2009) oder "The Iron Island" (2005), bleibt eine unverständliche Entscheidung.
Nun gilt es, bei alldem nicht aus den Augen zu verlieren, dass ein Filmfestival viele Funktionen erfüllt. Mit den jüngsten künstlerischen Entwicklungen des Kinos vertraut zu machen ist nur eine davon. Natürlich geht es auch ums Geschäft - auf dem Filmmarkt suchen über 700 Filme nach Abnehmern, fast 1.300 Einkäufer werden von Marktvorführung zu Marktvorführung eilen. Und natürlich geht es auch um Standortmarketing - für eine lebendige Kulturstadt Berlin und den Potsdamer Platz, der den Berlinale-Glamour gut gebrauchen kann. Schließlich geht es auch um das Berliner Publikum, das eine bewundernswerte Aufgeschlossenheit und Diskussionsfreude an den Tag legt - und beides in den zahlreichen öffentlichen Vorführungen auch ausleben kann. In Cannes wäre das in dieser Form undenkbar.
Und was macht derweil Jonas Mekas, was macht die Schönheit? Der 89 Jahre alte New Yorker reist nach Berlin, um im Forum seine jüngste Arbeit, "Sleepless Night Stories", zu präsentieren. Es ist ein wunderbar versponnener Film, geboren aus einem Jetlag und der daraus resultierenden Schlaflosigkeit. Mekas, nimmermüde, zieht durch die Nacht, trifft Freunde und Bekannte, lässt sich Geschichten erzählen. Viele derjenigen, die vor der kleinen Digitalkamera auftauchen, sind prominent, Patti Smith schaut vorbei, der französische Schauspieler Louis Garrel, die Performancekünstlerin Marina Abramovic, die eindringlich von ihrem Liebeskummer erzählt.
Je mehr Geschichten Mekas Film versammelt, umso klarer tritt zutage, dass hier viele Scheherazaden am Werk sind, um dem Tod ein Schnippchen zu schlagen. Und noch etwas tritt klar wie Wodka zutage: Je weniger man schlafen kann, desto mehr muss man trinken. Mekas säuft, seine Freunde saufen, und die Kamera torkelt, als hätte sie 2,1 Promille im Blut. Gäbe es einen Goldenen Bären für den trunkensten Film, er gebührte den "Sleepless Night Stories".
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