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Warum wir Geflüchtete aufnehmen sollten„Scham und Mitleid sind aber keine nachhaltigen Gründe“

Der Historiker Klaus Neumann plädiert für eine fundierte und unaufgeregte Auseinandersetzung darüber, warum Deutschland Flüchtlinge aufnehmen sollte.

Gerettet von der „Sea Eye“: Geflüchtete auf dem Mittelmeer Foto: Fabian Heinz/Sea Eye/dpa
Gernot Knödler

Interview von

Gernot Knödler

taz: Herr Neumann, was ist in der Migrationspolitik seit dem „Wir-schaffen-das“-Sommer 2015 schiefgegangen?

Klaus Neumann: Die panische Reaktion der sogenannten Parteien der Mitte auf das Erstarken der AfD.

taz: Es ist ja eine strategische Frage der Mitte-Parteien, ob sie auf die Forderungen der Rechtsextremisten eingehen sollen, um ihnen das Wasser abzugraben.

Neumann: Ich kenne keine einzige Studie, die sagt, es habe den etablierten Parteien genützt, Forderungen der Rechten zu übernehmen.

taz: Warum tun sie es dann trotzdem?

Neumann: Eine Erklärung wäre, weil führende Politiker der anderen Parteien eigentlich grundlegende Aussagen der rechten Parteien teilen. Wenn Olaf Scholz im Spiegel sagt, man müsse im großen Stil abschieben, dann meint er das.

Vortrag und Diskussion

Gute und nicht so gute Gründe, warum Deutschland Flüchtlingen Schutz gewähren sollte“, aus der Veranstaltungsreihe „Linke Positionen zu Flucht und Migration (II)“,4.11., 19:30 Uhr, Kölibri, GWA St. Pauli, Hein-Köllisch-Platz 12, Hamburg

taz: Es gibt ja Leute, von denen man erwarten könnte, sie könnten dem eine positive Erzählung entgegensetzen, Robert Habeck zum Beispiel.

Neumann: Dem würde ich nicht unterstellen, dass er solche Meinungen teilt. Sein Zehn-Punkte-Plan zur Migration war wohl ein Versuch, Anschluss an die nach rechts driftende Mitte zu halten.

taz: Warum ist die positive Stimmung 2015 so schnell verpufft?

Neumann: Das hat damit zu tun, dass der ursprüngliche Impuls ein emotionaler war: Mitleid mit dem ertrunkenen Jungen Alan Kurdi, Scham über das, was an einigen Orten in Ostdeutschland passierte. Bei Angela Merkels Satz „Wir schaffen das“ ging es auch um das, was einige Tage vor ihrer Sommerpressekonferenz in Heidenau passiert war. Es ging darum, zu zeigen, dass Deutschland ein gastfreundliches Land ist, wobei so unterschiedliche Sachen zusammenkamen wie die Erinnerung an den Holocaust oder die Behandlung Griechenlands in der Eurokrise. Scham und Mitleid sind aber keine nachhaltigen Gründe, sich für andere einzusetzen.

Bild: privat
Im Interview: Klaus Neumann

67, ist Historiker und Kulturwissenschaftler und war bis vor Kurzem Professor für Geschichte in Melbourne. 2024 erschien sein BuchBlumen und Brandsätze, Eine deutsche Geschichte, 1989-2023“.

taz: Wie kommt man aus dieser Falle?

Neumann: Das Problem ist, dass Leute, die sich schon länger für Flüchtlinge einsetzen, sich an denen orientieren, die eher skeptisch sind, und auf deren Argumente reagieren. Dabei verstricken sie sich in die Suche nach einer Lösung, bloß weil die andere Seite behauptet, sie hätte eine. Dabei müsste man aber sagen: Das ist ein echt schwieriges Problem. Es gibt keine einfache Lösung. Es gibt allenfalls eine ganz langfristige Lösung – Auflösung des Nationalstaats – aber das kann man ja nicht von heute auf morgen machen.

taz: Sie sprechen in Ihrem Vortrag von guten und nicht so guten Gründen, Schutz zu gewähren …

Neumann: Der schlechteste Grund ist, zu sagen: Wir brauchen die Flüchtlinge, weil sonst unser Sozialsystem kollabiert. Wir müssen auch keine Flüchtlinge aufnehmen, weil Gesetze oder das Völkerrecht uns das vorschrieben. Selbst wenn es so wäre, müsste man begründen, warum das Völkerrecht sinnvoll wäre. Asyl ist kein im Völkerrecht verankertes Menschenrecht, und wenn es eins wäre, müsste man begründen, warum es eines sein sollte.

Der schlechteste Grund ist, zu sagen: Wir brauchen die Flüchtlinge, weil sonst unser Sozialsystem kollabiert.

Klaus Neumann, Historiker

taz: Was wären denn gute Gründe?

Neumann: Gute Gründe müssten anfangen mit der Forderung nach Aufmerksamkeit – auch für das, was die Flüchtlinge wollen, was die umtreibt, warum die hier sind. Zudem müsste man scheinbar verstaubte Prinzipien wie Solidarität, Gastlichkeit und Menschenwürde wiederbeleben. Das sind Prinzipien, die man sich mal erkämpft hat. Es ist wichtig, darüber zu diskutieren, was diese ausmacht und warum sie verteidigungswürdig sind. Am wichtigsten wäre aber, dass wir als Bewohner eines sehr reichen Industrielandes aus Gründen der globalen Gerechtigkeit Schutzsuchende aufnehmen. Ich will aber gar nicht bestimmte Argumente vorgeben; mir geht es vor allem darum, dass wir in eine fundierte und unaufgeregte Auseinandersetzung eintreten über die Frage, warum Deutschland Schutzsuchende aufnehmen sollte. 2015 wäre ein guter Moment gewesen, diese Auseinandersetzung zu führen, aber zu spät ist es dafür auch jetzt nicht.

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