Warum Grüne den Richtungskampf pflegen: Links oder Realo?
Ein Thema, zwei Meinungen. Die alten Richtungskämpfe sind überwunden, doch die Grünen halten an der Erzählung fest. Sie lässt sie prinzipienfest erscheinen.
BERLIN taz | Ist das kleine Mädchen nicht süß? Im weißen Kleid huscht sie zwischen den Beinen der Parteitagsdelegierten umher. Wenn einer der Grünen-Redner Applaus erhält, klatscht die Kleine ebenfalls in die Hände. Die Bildregie des Parteitags zeigt das Mädchen auf Großleinwänden, abends ist es im Fernsehen zu sehen.
Denn das Bild passt nur zu gut zum Image von der Partei, die sich ihre Andersartigkeit bewahrt hat. Dabei handelt es sich bei dem Mädchen gar nicht um Grünen-Nachwuchs, sondern um die Tochter einer Frau, die an einem der vielen Sponsorenstände in der Nebenhalle arbeitet. Wenige Tage zuvor war das Kind schon einmal im Fernsehen: auf Bildern vom CDU-Parteitag in Karlsruhe.
Diese Anekdote illustriert, wie wirkungsmächtig die Erzählung ist, die Grüne bis heute von sich verbreiten: Die Grünen, das sind die, die gesellschaftliche Konventionen aufbrechen; die, die auf mal nervige, mal sympathische Art anders sind. Von dieser Erzählung möchten sich weder die Funktionäre der Partei noch die wachsende Zahl ihrer Anhänger verabschieden. Denn dieses Image ist nützlich.
Anfänge: Bremen war das erste Bundesland, in dem Grüne ins Parlament einzogen. Bei der Bürgerschaftswahl am 7. Oktober 1979 erzielte die Bremer Grüne Liste (BGL) 5,1 Prozent der Stimmen, während die vom Kommunistischen Bund beeinflusste Alternative Liste Bremen (ALB) nur 1,4 Prozent erreichte. Olaf Dinné, Axel Adamietz, Peter Willers und Delphine Brox hießen die ersten grünen Abgeordneten.
Etablierung: 1980 wurde die Partei Die Grünen gegründet, deren offizieller Landesverband drei Jahre darauf bei der Wahl in Bremen antrat. Die Grünen erzielten 5,4 Prozent, die BGL scheiterte ebenso an der Fünfprozenthürde wie eine von der DKP beeinflusste alternative Liste. Teile der BGL und ALB gingen in den Grünen auf.
Regierung: Von 1991 bis 1995 regierten die Grünen in einem Bündnis mit der SPD und der FDP. Seit dem Jahr 2007 bilden sie eine Koalition mit der SPD und stellen zwei von sieben Senatoren.
Die Wahl: Die letzten Umfragen sagen den Grünen 24 Prozent und damit ein Plus von 8 Prozentpunkten voraus. Die SPD verteidigt ihre 36 bis 37 Prozent. (mlo)
"Die Positionen in der Partei sind heute nicht mehr so weit voneinander entfernt wie einst", sagt der Parteienforscher Carsten Koschmieder von der Freien Universität Berlin. Es gebe "zwar immer wieder ernsthaften Streit bei bestimmten Themen, etwa beim Afghanistan-Einsatz oder bei der Haltung zu Libyen".
Aber Streit gehe nie so weit, dass er den Machterhalt gefährde. Bestes Beispiel dafür sei das Verhalten bei der Afghanistan-Abstimmung Ende 2001. Damals waren acht grüne Abgeordnete, darunter der Vorzeigelinke Hans-Christian Ströbele, gegen den Bundeswehreinsatz. Sie verständigten sich jedoch untereinander, dass nur vier von ihnen gegen das Mandat stimmten, die anderen vier dafür. Die rot-grüne Mehrheit stand.
Mächtige ideologische Spannbreite
Das Image der zerrissenen Partei ist so alt wie die Partei selbst. Bei ihrer Gründung 1980 trafen Vertreter der Neuen Sozialen Bewegungen, Leute aus K-Gruppen, christlich oder anarchistisch beeinflusste Aktivisten, vormalige Sozialdemokraten und Wertkonservative aufeinander. Die ideologische Spannbreite reichte von konservativen Politikern wie dem früheren CDU-Mann Herbert Gruhl und den rechtslastigen Landwirten um Baldur Springmann bis zu den RadikalögologInnen um Jutta Ditfurth und den Ökosozialisten um Rainer Trampert und Thomas Ebermann.
Zum zentralen Konflikt entwickelte sich bald die Auseinandersetzung zwischen den "Realos" und den "Fundis". Während die Realos um Joschka Fischer in Hessen an der ersten Regierung mit der SPD auf Länderebene arbeiteten, wuchs parteiintern die Macht der Fundis, die auf einer grundsätzlichen Opposition zum "System" beharrten und Regierungsbeteiligung skeptisch bis ablehnend gegenüberstanden. Ditfurth und Trampert übernahmen zwei der drei Posten als Parteisprecher; die "Realo-Fundi-Kontroverse" drohte die Partei zu zerreißen.
Ein halbes Jahrzehnt wogte der Konflikt, und er wurde so erbittert und vor aller Augen geführt, dass die Erinnerung daran bis heute prägend ist für Bild und Selbstbild der Partei. Auf dem Höhepunkt der Auseinandersetzung schrieben Fischer, sein Vertrauter Hubert Kleinert und andere in einem Entwurf eines Realo-Manifests: Ansprechpartner der Grünen sei der "städtisch liberale, an seinen individuellen Lebensentwürfen zuerst orientierte, konsumfreudige Citoyen, der zugleich gegen Atomkraft und ökologischen Wahnsinn nicht nur protestiert, ebenso wie er den ausgegrenzten und von neuer Armut betroffenen Minderheiten sich verpflichtet weiß". Das klingt wie eine Beschreibung der Grünen-Sympathisanten von heute, stammt aber aus dem Jahr 1988.
Seit 20 Jahren Geschichte
Bald darauf verloren die Linken ihren Einfluss. Im Frühjahr 1990 verließen die Ökosozialisten um Ebermann und Trampert die Partei. Hinzu kam die Verschmelzung der Partei mit der eher wertkonservativen ostdeutschen Bürgerrechtspartei Bündnis 90, die die Macht der verbliebenen Fundis weiter schwinden ließ. Auf der Bundesversammlung in Neumünster schließlich hielt Jutta Ditfurth am 28. April 1991 ihre Abschiedsrede. Die Grünen seien eine "autoritäre, dogmatische, hierarchische Partei" geworden, rief Ditfurth. "Sie sind kein basisdemokratisches Projekt mehr, nicht einmal mehr radikaldemokratisch." Ditfurth und rund 300 Radikalökologen verließen wenige Tage darauf die Partei. Seitdem, seit gut 20 Jahren also, ist die Auseinandersetzung zwischen Realos und Fundis Geschichte.
Trotzdem geistert das Wort "Fundi" bis heute durch Medienberichte über linke Grüne. Dabei sind die heutigen Auseinandersetzungen nur ein leiser Nachhall der ideologischen Konflikte von einst. Doch etwas Wichtiges aus jener Zeit ist geblieben: die offizielle Unterscheidung in einen linken und einen rechten Parteiflügel, in "Linke" und "Realos". Nach dieser Logik werden bis heute wichtige Posten besetzt: je ein Parteivorsitzender gilt als links (Claudia Roth), einer als rechts (Cem Özdemir). Dasselbe gilt beim Vorsitz der Bundestagsfraktion. Jürgen Trittin, der Linke, und Renate Künast, die Reala. Grüne berichten, Neumitglieder würden bereits kurz nach Parteieintritt eingeordnet in das eine oder andere Lager. So pflanzt sich eine Unterscheidung fort, die immer weniger mit der wahren Zusammensetzung der Partei zu tun hat.
Doch diese erweist sich als machtpolitisch praktisch: Inhaltliche Kontroversen führen nicht mehr zu offenen Machtkämpfen, wenn die Führung zwei unterschiedliche Meinungen vertreten kann. Die lange umstrittene Doppelspitze machts möglich. Diese leiste "einen wichtigen Beitrag zur Geschlossenheit in den letzten Jahren", urteilt Koparteichefin Roth. Das Führungsduo schmiede "aus Flügelkontroversen gemeinsame Positionen", repräsentiere zugleich "die Partei in ihrer Vielfalt und auch Unterschiedlichkeit".
Die Pluralität lässt prinzipienfest wirken
Ein Thema, zwei Meinungen. Was anderen Parteien als Beliebigkeit vorgehalten würde, scheint den Grünen gar zu nutzen. Die Partei gilt als besonders prinzipienfest. Die Forschungsgruppe Wahlen erklärte Anfang April, 62 Prozent der von ihr Befragten bezeichneten die Grünen als glaubwürdig. Abgeschlagen auf Platz zwei: die SPD mit 45 Prozent.
Selbst die Frage, die vor einigen Jahren noch Realos und Linke spaltete, ist inzwischen keine Glaubensfrage mehr: "Wir schließen eine Koalition mit der CDU nicht unter allen Umständen aus", sagt etwa der Haushaltspolitiker Sven-Christian Kindler, ein aufstrebender Parteilinker aus der Bundestagsfraktion. Wenngleich er hinzufügt, mit der der SPD "deutlich mehr Gemeinsamkeiten" in der Sozial-, Bildungs- oder der Steuerpolitik bestünden.
Dass auch Parteilinke Schwarz-Grün nicht mehr grundsätzlich ablehnen, hat seine Gründe. Die Realos sind heute so dominant, dass die Linke ihre Felle davonschwimmen sieht. "Einige Teile der Partei scheinen zu denken, dass die Grünen in Baden-Württemberg wegen eines Kurses der Mitte gewonnen haben", sagt die Vorsitzende der Grünen Jugend, Gesine Agena. Diese Interpretation liegt nahe, liebäugelte der Spitzenkandidat Winfried Kretschmann doch schon in den Achtzigerjahren, als einer der Wortführer des ökolibertären Parteiflügels, mit Schwarz-Grün. Agena hält dagegen: "Dabei liegt es daran, dass es eine klare Polarisierung gab: Rot-Grün gegen Schwarz-Gelb."
Kindler assistiert, die Grünen seien so erfolgreich, weil sie eine "profilierte linke Partei" seien. "Wer meint, dass die Grünen jetzt schnell in die schwammige Mitte müssen, gefährdet unseren Markenkern. Wollen wir wirklich eine Wischiwaschi-Volkspartei werden?"
Die unerschütterliche Erzählung der Grünen
Solche Forderungen nach einer Festlegung der Grünen auf ein Lager links der Mitte beeindrucken die Schwarz-Grün-Befürworter wenig. Massenhafte Austritte wegen Koalitionen mit der Union fürchten sie nicht mehr. Die Kritiker des Mittekurses wollen schließlich selbst Karriere machen. Zudem fällt die Linkspartei durch Intrigen und ungeklärte Richtungsdebatten als Koalitionspartner aus. Wer will schon darauf vertrauen, dass die derzeitige Umfragemehrheit für Rot-Grün auch im Herbst 2013 bestehen wird?
Nichts bringt das Bild von der prinzipienfesten Partei ins Wanken: Im nordrhein-westfälischen Landtagswahlkampf 2010 machte sie einen Rot-Grün-Wahlkampf - schlossen aber eine Koalition mit der CDU nie aus. In Baden-Württemberg bildet ein Grünen-Spitzenkandidat, der über Jahrzehnte für Schwarz-Grün geworben hat, eine grün-rote Landesregierung.
Im Wahlkampf ums Berliner Abgeordnetenhaus setzt der vermeintlich linke Landesverband auf eine mögliche Regierungsmehrheit mit der Union. Anfang November 2010 erklärte Renate Künast bei einer mediengerecht inszenierten Veranstaltung: "Ich bin bereit, ich kandidiere für das Amt der Regierenden Bürgermeisterin von Berlin." Tosender Applaus im Museum für Kommunikation. Parteimitglieder klagten später intern, sie hätten Künast ja noch gar nicht gewählt, sie würden vor vollendete Tatsachen gestellt. Wenige Tage später folgte Künasts offizielle Wahl. Einstimmig.
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