Waldbewohner über Distanz: „Der Wald hat mich gerettet“
Günther Hamker wohnt seit über 50 Jahren in einer Hütte in Südniedersachsen. Ein Gespräch über Alkoholsucht, schnarchende Hunde und Einsamkeit.
taz: Herr Hamker, was bedeutet Distanz für Sie?
Günther Hamker: Für mich ist Distanz ein Geschenk. Das Leben im Wald und die Distanz sind für mich zu einem Bedürfnis geworden. Ich habe hier die Möglichkeit, immer wieder Abstand zu gewinnen und über Dinge nachzudenken. Ich habe das auch erst lernen müssen. Aber Distanz ist viel einfacher, als manche Menschen glauben.
Warum?
Viele Menschen verwechseln Distanz mit Einsamkeit. Aber das ist etwas ganz anderes. Als ich noch in Göttingen studierte, Tür an Tür mit anderen Leuten lebte und mich nächtelang in Kneipen herumtrieb, war ich viel einsamer. Wenn ich mich hier einsam fühle, bin ich mit mir nicht in Ordnung. Dann muss ich etwas ändern. Und wenn ich mich irgendwo auf den Berg setze oder zu Freunden fahre. Ich bin ein geselliger Mensch.
Es gibt zahlreiche Artikel über Sie. Sogar Dokumentarfilme. Darin werden Sie immer wieder als Einsiedler, Eremit oder Aussteiger betitelt. Sind Sie das?
Nein, überhaupt nicht. Aber das mit dem Einsiedler lässt sich eben gut verkaufen. Die Deutsche Presseagentur kam mal kurz hier vorbei. Es wurden ein paar Fotos gemacht, die gingen dann durch die Republik in allen Formaten. Beim Lesen der Artikel habe ich mich wie Ötzi II gefühlt. Aber das bin ich nicht.
Was sind Sie denn?
Einsiedler, nein. Eigenbrötler, ja. Manche Leute halten mich für verrückt, ich sehe das an den Blicken oder höre manchmal hinter dem verschlossenen Tor: „Da wohnt der Verrückte, der hat sie nicht alle.“ Ich versuche damit umzugehen, aber wenn ich ehrlich bin, trifft es mich zutiefst.
Sie leben seit über 50 Jahren hier oben im Wald. Wie kam es dazu?
Ich war schon als Kind oft hier zusammen mit meinem Großvater. Er starb, als ich 13 Jahre alt war und vererbte mir die Hütte und 80 Hektar Forst. Der Wald hat mich nicht nur geprägt, er hat mein Leben gerettet.
Das müssen Sie erklären.
Als ich 22 Jahre alt war, im Herbst 1962, bin ich hier hoch gezogen. Gegen den Willen meines Vaters. Der hatte etwas anderes für mich vorgesehen. Ich sollte Bankkaufmann werden. Doch die Lehre habe ich sofort geschmissen, nachdem ich volljährig war. Ich habe dann ein Medizinstudium in Münster begonnen, mein Vater war außer sich.
79, ist mit fünf Geschwistern in einer gutbürgerlichen Familie im ostwestfälischen Blomberg aufgewachsen. Er brach eine Banklehre ab und studierte Medizin in Münster, Innsbruck und Göttingen. Nach dem ersten Examen beendete Hamker das Studium ohne Abschluss und zog in eine Jagdhütte nahe der Bodensteiner Klippen nahe Bokenem im südlichen Niedersachsen.
Die Hütte und 80 Hektar Wald erbte er von seinem Großvater. Die Erlöse aus der Forstwirtschaft brachen Ende der 90er ein, Hamker drohte die Zwangsversteigerung seines Besitzes. Nach einem jahrelangen Rechtsstreit verkaufte er den Wald, erstritt sich aber lebenslanges Wohnrecht in der Hütte.
Von Münster bis hier an die Bodensteiner Klippen südwestlich von Salzgitter ist es ziemlich weit.
Mit dem Wald habe ich mein Leben finanziert. Ich bin nicht nur ständig hin- und hergefahren, sondern war auch immer hin- und hergerissen. Ich habe schon in jungen Jahren gelernt, dass Alkohol ein Problemlöser ist. Und ich hatte damals viele Probleme. Da kam es mir gerade recht, dass im Wald viel getrunken wurde. Beim Holzverkauf, bei der Jagd wurde grundsätzlich gesoffen. Nach dem Physikum, was ich mit Ach und Krach geschafft habe, bin ich dann nach Göttingen gezogen. Aber es wurde nicht besser. Ich habe zunehmend gegen meine Ängste getrunken. Ich hatte Angst, dass ich mein Examen nicht schaffe. Hinzu kam eine Beziehung, die in die Brüche ging. Irgendwann hatte ich zittrige Hände. Aber ich wollte mir nicht eingestehen, dass ich ein Problem habe. Zum Alkohol kamen Medikamente. Ein halbes Examen habe ich geschafft, das war dann der Endzustand.
Endzustand von was?
Ich wollte einen Abgang machen. Ich bin hier hochgefahren und habe reichlich Schlafmittel geschluckt. Aber ich hatte Glück, jemand hat mich gefunden und rausgeholt. Eine Bekannte hat mich dann bekniet: Geh doch nochmal in die Klinik, was ich dann auch tat. Ich habe begriffen: Wenn du so weitermachst, bist du tot.
Wie haben Sie den Absprung geschafft?
Ich habe mein Zimmer in Göttingen aufgegeben und bin ganz in den Wald gezogen. Hier habe ich eigentlich richtig angefangen zu leben. Die Beschäftigung und Arbeit hier im Wald haben mich gerettet. Ich hatte noch zwei Rückfälle. Der 11. Januar 1979 war der Stichtag, seitdem habe ich nie wieder getrunken. Das Datum ist sehr wichtig für mich, es ist auch das Nummernschild von meinem Auto. Aber ganz ohne Hilfe hätte ich es wohl nicht geschafft.
Welche Hilfe haben Sie angenommen?
Ich hatte das Glück, die richtigen Leute um mich zu haben. Die meisten meiner guten Freunde habe ich hier im Wald kennengelernt, per Zufall. Ich habe auch Gruppen der Anonymen Alkoholiker besucht. Später habe ich über zehn Jahre lang eine Gruppe geleitet und auch eine gegründet. Und die Hunde haben mir immer geholfen.
Welche Hunde?
Als ich mit dem Trinken aufgehört hatte, dachte ich, jetzt kannste dir einen Hund holen. Ich hatte insgesamt vier große Münsterländer, der letzte ist 17 Jahre alt geworden. Ohne Hund würde ich hier oben vielleicht verrückt. Ich habe durchaus meine Depressionen oder schlafe unruhig, und es beruhigt, wenn ich einen schnarchenden Hund neben mir habe. Hunde lassen keine Depression zu. Sie bringen Abwechslung, Struktur und natürlich Freundschaft.
Hamker tätschelt Remo. Der sechsjährige Berner Sennenhund legt seinen Kopf, so groß wie ein Medizinball, auf Hamkers Schoß.
Mittlerweile bin ich zu alt für einen eigenen Hund. Remo gehört einem guten Freund hier aus der Nähe. Ich kümmere mich um ihn. Ich könnte einen Hund nicht mehr finanzieren, die Haltungskosten sind einfach zu hoch.
Aus der ehemaligen Jagdhütte haben Sie sich ein gemütliches und autarkes Heim gemacht. Wie lange hat das gedauert?
Eigentlich hört es nie auf. Es gibt immer was zu tun. Als ich hierhergezogen bin, gab es noch nicht mal Wege, die musste ich anlegen. Die Jagdhütte hatte nur drei klitzekleine Räume mit Doppelstockbetten. Zuerst habe ich ein paar Wände rausgerissen, dann habe ich Oberlichter reingebrochen, es war stockdunkel hier. Mit Strom und fließendem Wasser hat das etwas gedauert. Ich habe fast 20 Jahre mit Petroleumlampen hier gesessen und habe mir das Wasser zu Fuß von der Quelle geholt. Jetzt habe ich eine Wasserleitung und Windrad und Solaranlage versorgen mich mit Strom, ich habe auch eine Waschmaschine, ein Telefon und mittlerweile ein Smartphone, manchmal sogar Empfang.
Haben Sie das alles allein gebaut und eingerichtet?
Zum größten Teil schon. Aber ich hatte auch immer Hilfe von Freunden. Meist habe ich Dinge gesammelt, die andere nicht mehr haben wollten, wie die Öfen zum Beispiel. Für den Aufbau des Kachelofens habe ich 1,5 Jahre gebraucht. Ich habe mir ein Buch gekauft und das richtig studiert. Etliche Male habe ich das Ganze ab und wieder aufgebaut, bis er endlich stand. Ich war nicht immer ein geduldiger Mensch, das habe ich erst hier im Wald gelernt.
Autarkes Leben, abseits von Großstädten und Hektik, erscheint heute vielen Menschen eine Alternative zu sein. Sie könnten quasi Guru dieser Bewegung sein.
Manchmal fühle ich mich so. Das nimmt aber groteske Züge an. Hier hat zum Beispiel eine Frau angerufen. Ich war gerade am Kochen, ich brate Bratwürste, sagte ich. Aber hoffentlich vegane Würste, erwiderte sie. Sach ich, nee, ganz normale Bratwürste. Daraufhin hat sie mich beschimpft bis zum Gehtnichtmehr.
Hamkers Hütte wirkt wie ein urgemütliches Antiquariat. Unzählige Bücher stehen in den Regalen, dazu Sammlungen aus alten Kameras, Leuchten, Kerzenständern, es gibt verschiedene Sitzecken mit alten Möbeln, in jedem Raum steht ein antiker Ofen. Über einem Sekretär hängen Familienbilder, das schwarze Telefon mit Wählscheibe tut noch immer seinen Dienst.
Sind Sie immer hier vor Ort?
Nein, ich bin viel rumgekommen. Ich war zum Beispiel in der UdSSR, als es die noch gab. Ich war in Baku, in Samarkand in Usbekistan. Ich war fasziniert, dass die Leute in Mittelasien sich auf dem Markt einfach auf einen Tisch legen konnten zum Schlafen. Ich bin gerne gereist. Aber hier habe ich mich zu Hause gefühlt. Woanders hätte ich nochmal komplett neu anfangen müssen. Ich weiß nicht, ob ich das geschafft hätte. Wenn ich von einer Reise zurückkam, war hier oben meist alles verwildert, das hat sich dann wie ein Neuanfang angefühlt, aber eben in meinem Zuhause.
Waren Sie immer allein?
Nein, ich hatte viele Beziehungen, fast zu viele. Es ist besonders schwer, wieder aufzustehen, nachdem eine Beziehung gescheitert ist. Da muss ich mir ein richtiges Programm machen, damit ich das aus dem Kopf rauskriege. Meine letzte Beziehung ist erst vor Kurzem in die Brüche gegangen. Eigentlich hatte ich mir geschworen, dass ich mich nicht noch einmal auf jemanden einlassen will. Aber dann war sie einfach da, wie das eben so ist. Sie war unternehmungslustig. Aber ich habe nicht mehr die Kraft dazu. Daran ist es wohl gescheitert. Ich möchte es aber nicht missen, es war eine sehr schöne Zeit.
Vielleicht ist auch das Leben hier im Wald für viele zu extrem?
Es gab immer mal wieder Partnerinnen, die versuchten mich zu überzeugen, mit ihnen woanders zu leben. Aber ich konnte mir das nie vorstellen. Hier zu leben, bedeutet für mich auch eine Art Freiheit und die will ich nicht aufgeben.
Sie sind jetzt 79 Jahre alt. Haben Sie sich schon mal mit dem Gedanken auseinandergesetzt, dass Sie vielleicht nicht immer hier in Ihrer Hütte werden wohnen können?
Damit habe ich ein echtes Problem. Ich fühle mich traumhaft wohl und trotzdem muss ich mir auch Gedanken darüber machen, wie es weitergehen kann. Ich weiß schlicht und ergreifend nicht, wie ich damit umgehen soll. Einerseits sprudelt in mir noch alles, auf der anderen Seite weiß ich, es fällt mir schwerer und schwerer. Im Grunde genommen könnte ich jeden Moment tot umfallen. Dieser Gedanke macht mir aber gar nicht so viel Angst.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Rechtspopulistinnen in Europa
Rechts, weiblich, erfolgreich
Buchpremiere von Angela Merkel
Nur nicht rumjammern
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag
#womeninmalefields Social-Media-Trend
„Ne sorry babe mit Pille spür ich nix“
Landesparteitag
Grünen-Spitze will „Vermieterführerschein“
Die Wahrheit
Herbst des Gerichtsvollziehers