Wahrsagertradition in Serbien: Jeva und der Fluch

In Serbien leben rund 40.000 Walachen. Sie pflegen die Tradition der Wahrsagerei. Unsere Autoren haben dort gelernt: Sie sind verflucht.

Milica Kušlić lebt in einer schiefen Hütte. Ihrem verstorbenen Sohn hat sie ein neues Haus gebaut Foto: Andrej Ivanji

Die Frau, die uns beschwören soll, lässt nicht mit sich verhandeln. 7 Uhr in der Früh könnten wir zu ihr kommen – oder gar nicht. Sie lebt in einem heruntergekommenen Dorf, ein Spielplatz, eine Schule und ein angesoffener rumänischer Saisonarbeiter der vor dem Supermarkt sitzt, so stellt sich uns der Ort Ranovac vor – Jevas Haus jedoch ist schick, mit vielen Blumen im Garten.

Jeva, 80 Jahre alt, ist energisch, sie flucht viel, hat lila gefärbte Haare. Barsch kommandiert sie, wo und wie wir uns hinsetzen sollen. Dann bindet sie sich ein Kopftuch um, zündet zwei Kerzen an und stellt sich unter eine Muttergottes-Ikone. „Welches Leid führt euch zu mir?“, fragt sie. „Mir geht es nicht gut“, sage ich. Möglicherweise hat mich jemand verwünscht, füge ich an.

Unbedingt Knoblauch und einen roten Faden einstecken, das schützt vor schwarzer Magie – so hatten es uns gebildete Serben geraten, als sie hörten, dass wir zu den Walachen reisen. Etwa 40.000 von ihnen leben in Serbien, noch viel mehr in den angrenzenden Ländern. Oft bezeichnet man sie als das älteste Volk auf dem Balkan.

Doch für die Serben sind sie vor allem diejenigen, die mit ihren Toten leben. Die an Magie und Beschwörung glauben, serbisch-orthodox sind, aber auch noch Heiden. Walachen sprechen Rumänisch, sind jedoch keine Rumänen. Sie leben in Serbien, sind jedoch keine Serben. Kurzum – Serben wissen sehr wenig über Walachen.

Seitdem serbische Boulevardmedien das Gerücht verbreitet haben, dass ein serbischer Amokläufer vor seiner Bluttat angeblich eine walachische Wahrsagerin aufgesucht haben soll, sind Walachen Journalisten gegenüber verschlossen. Als Journalisten hätten wir daher keine Chance, die Wahrsagerinnen zu treffen. Deshalb kommen wir als Hilfesuchende. Ich, der Agnostiker, meine Kollegin mit den Bräuchen schon eher vertraut.

Nur ein Geschäftsmodell?

Jeva versucht zunächst, etwas über uns zu erfahren. Ob ich verheiratet bin, Kinder habe. Und wer die junge Frau an meiner Seite ist? Wie eine geschickte Taschendiebin entlockt sie uns Informationen, die wir ihr gar nicht geben wollten.

Sie holt ein zerschlissenes weißes Buch, auf dem ein goldenes Kreuz prangt. Es ist mit einem roten Faden umwickelt, ein Ring hängt daran. Gemeinsam halten wir das Büchlein am Ring, damit es sich drehen kann, wenn Jeva Fragen stellt. Drehung nach rechts bedeutet „Nein“, nach links „Ja“. Dabei murmelt Jeva: „Ich bete dich an, Mutter Gottes, dich und deine Geister.“

Vierzig Tage nach seinem Tod grub Milica Kušlić ihren Sohn wieder aus

Glaubt Jeva an ihre Magie? Oder hat sie nur ein cleveres Geschäftsmodell entwickelt? Das sind die Fragen, die wir uns stellen, als wir bei ihr sitzen, sie treiben uns auch um, als wir Marica treffen, die in Wasser blickt, in das sie Weihrauch geworfen hat. Oder bei Mila, deren Hand man ergreifen soll, während sie mit geschlossenen Augen auf einem Bett liegt, um so verstorbene Großeltern, Kinder oder Bekannte zu befragen. Ihre Kunden kommen von weit her, aus Belgrad, Wien oder Berlin, sie sind jung und alt, Buchhalter, Dorfbewohner, Frauen und Männer gleichermaßen. Oft warten sie stundenlang, um eine der Wahrsagerinnen zu treffen. Was sie verbindet ist nicht nur ihr Aberglaube. Es sind ihre traurigen Geschichten.

Eine Frau etwa wollte bestätigt bekommen, dass sich ihr Sohn nicht das Leben genommen habe, sondern ermordet worden sei. Eine andere wollte wissen, mit welcher Magie sie ihre Krankheit bekämpfen könne. Eine dritte glaubt, ihr Sohn habe seinen Job verloren, weil er verflucht worden war.

Die Walachen leben wie selbstverständlich mit ihren Toten weiter, deren Welt finster ist, kalt, ohne Wärme, ohne Wasser und ohne Nahrung. Bei einem Todesfall sind „Pomane“, eine Abfolge von Totenmahlen, sehr wichtig. Angehörige sollen beispielsweise sieben Jahre lang an festgelegten Tagen zum Grab gehen, es mit Wasser benetzen, Kerzen anzünden und mit Haselnusszweigen ein Feuer entfachen. Damit die Toten nicht dürsten und nicht frieren.

Popen dulden die Bräuche

Besonders inbrünstig kümmert sich Milica Kušlić aus Donji Lug. Sie hat ihrem toten Sohn einen Ball, Shorts und Fußballschuhe mitgegeben, damit er in der Totenwelt Fußball spielen kann. Sie errichtete ihm sogar ein kleines Haus am Friedhof, stellte einen Herd hinein und einen Kühlschrank, alles neu gekauft. Milica Kušlić selbst lebt in einer ärmlichen, schiefen Hütte. Und weil er vor seinem Tod ­bereits mit einer jungen Frau verlobt war, hat sie ihren Sohn mit ihr verheiratet. Das war 1994 – und die letzte dokumentierte „Schwarze Hochzeit“ in Serbien. Die Siebzigjährige hat aber noch mehr versucht. Vierzig Tage nach seinem Tod grub sie ihren Sohn wieder aus. „Damit ihn die Sonne sieht!“ Dann, so ihre Hoffnung, würde er wieder leben.

„Noch ein Jahrhundert, sagt man. Daran glaube ich“, sagt Milica Kušlić. „Doch ich muss etwas vergessen haben“, jammert sie. „Er ist mir nicht lebendig zurückgekehrt.“ Orthodoxe Popen dulden die walachische Tradition. Sie wissen, dass sie dagegen nicht ankommen würden, zu tief sind die Bräuche verwurzelt. Stirbt jemand, warten die Popen, bis die walachischen Rituale vorüber sind. Dann erst vollziehen sie ihre christliche Zeremonie.

Ljubica Jovanović aus Rudna Glava treibt der Tod ihrer vierjährigen Enkeltochter um. Ein Auto hatte sie überfahren. „Als sie gestorben war, sah ich eine Wespe in der Kapelle“, erzählt Ljubica. „Sie flog um eine Kerze.“ Später, auf dem Heimweg, flog diese Wespe in ihr Auto und genau ein Jahr später kam sie noch einmal. Die Wespe, so erzählt es Jovanović, hatte sich erst auf das leere Bettchen des verstorbenen Mädchens gesetzt und später auf das Ohr des Schwiegersohnes, sie stach nicht zu. Wenig später flog ein Schmetterling ins Haus. Ljubica Jovanović glaubt, der Schmetterling sei ihre Enkelin Jovana gewesen.

Um Gewissheit zu erlangen, reiste die Großmutter nach Negotin, wo die Wahrsagerin Tanja lebt. Sie spricht mit Toten. Und durch Tanja habe Jovana folgendermaßen zu ihr gesprochen: „Oma, ich war der Schmetterling. Und ich habe alles von dir, Oma, Wasser und Feuer und Spielzeuge. Und sag Mama, sie soll nicht mehr Schwarz tragen und nicht mehr an meinem Grab weinen, sondern sie soll das Video von meinem Geburtstag vom Regal nehmen und es sich anschauen und wieder lachen.“

„Wie konnte Tanja das alles wissen, vom Schmetterling und vom Video“, fragt Jovanović. Wo aber ist denn nun ihre Enkelin Jovana? Sie wisse es nicht, sagt sie. Auf jeden Fall würde sie ihrer Enkelin sieben Jahre lang Pomane halten und Brot ans Grab bringen. Auch deshalb, weil sie ungetauft gestorben sei. Ein Mädchen soll regelmäßig Flußwasser auf das Grab sprenkeln, Jovanović selbst will 40 Knoten in einen weißen Faden knüpfen, die dann zwei Frauen über einem Fluss wieder lösen. Aber warum macht sie das Ganze? „Es gehört sich so.“ Und wie sie das sagt, klingt es so ruhig und so überzeugt, als würde sich alles von selbst erklären.

Links ist des Teufels

Und so ist der walachische Aberglaube nicht nur eine Welt der Magie, die hinter der Kulisse der modernen Gesellschaft einfach weiter lebt. Sie ist eine Lebensweise, Kultur und Tradition. Die Frage, ob man all das glauben kann, wird für uns nach Tagen unter den Walachen immer unwichtiger. Was die Wahrsagerinnen verkaufen, ist ein Blick in die Zukunft, aber nur vordergründig. Was sie anbieten ist auch Lebenshilfe in der Gegenwart, sie entdecken im Gegenüber Kummer. Und geben Hoffnung.

Doch mit mir ist Jeva bald unzufrieden. Das Büchlein, mit dem sie Fragen über mich ergründen will, will sich nicht drehen. Sie ruft ihre Mitarbeiterin, ein vierzigjährige Rumänin, jetzt halten sie beide das Buch am Ring und siehe da: das Ritual geht flott vonstatten. Jeva befragt das Buch: Wünscht jemand diesem Mann etwas Böses? Hat ihn ein Familienmitglied verwünscht? Hat er schon einmal eine Zauberin aufgesucht? Das weiße Buch antwortet. Irgendwie kommt sie darauf, dass mich meine ehemalige Schwiegermutter verwünscht hätte. Neun Mal.

Wir müssten jetzt den Bann brechen, sagt Jeva und beginnt, zu diktieren. Als meine Kollegin mit der linken Hand zum Stift greift, um mitzuschreiben, ruft Jeva barsch: „Nein, du nicht! Du bist Linkshänderin!“ Links sei des Teufels! Also notiere ich die Zutaten meiner Erlösung selbst: Ein Liter Trinkwasser, ein Stock vom Weidenbaum, ein weißer Faden, so lang wie meine Arme breit sind; ein Liter Wasser von dort, wo sich zwei Flüsse treffen, drei weiße T-Shirts, Wasser vom Fluss unter einer Mühle für neun Flaschen, ein weißer Wollfaden, so lang wie ich groß bin, ein Vorhängeschloss, ein Messer, neun Bänder aus einem Wein- oder Tomatengarten, ebenfalls für neun Flaschen. Sie beschreibt, wo wir all das besorgen können. Wir sollen damit wiederkommen, befiehlt sie. Doch ich entscheide: Mit den Flüchen kann ich leben.

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