Wahrnehmung von Gerüchen: Wie riechen Zahlen?
Wissen Sie nicht? Kein Wunder. Versuchen wir doch krampfhaft, durch Zahlen unsere Welt zu erklären – und verdrängen das Sinnliche dahinter.
In einem Ort nahe Oranienburg wurde 2014 ein Mann von Dörflern verprügelt. Er und sein Bruder waren einst in den Westen gegangen und hatten Koch gelernt. Mit der Wende waren sie zurück nach Ostberlin gezogen und hatten in Treptow ein Restaurant eröffnet. 2010 erwarben sie in dem brandenburgischen Dorf einen Restgutshof mit Wiesen, die sie mit Schafen beweideten. Ihretwegen, aber auch weil man sie für arrogante Wessis hielt, wurden sie von den Dörflern angefeindet.
Nach einem Dorffest kam es zu der Prügelei, wobei einer der Brüder am Kopf verletzt wurde und seinen Geruchssinn verlor, sodass er nicht mehr als Koch arbeiten konnte. Vom anderen Bruder erfuhr ich: „Das ist alles nicht so schlimm, er schult um auf Buchhaltung, das können wir auch gut gebrauchen. Sowieso lässt er sich nicht unterkriegen – und hat die Schafherde sogar noch vergrößert.“ Einige Stammgäste ihres Restaurants nannten ihn einst „Großriecher“, weil er viel feinere Gerüche als sie wahrnehmen konnte. Nach seiner Umschulung nannten sie ihn „Zahlenschmecker“.
Zu den Großriechern (Makrosmatikern) zählen vor allem Schweine und Hunde, zu den Zahlenschmeckern Mathematiker und Autisten. Die Großriecher können nur Konkretes wahrnehmen, die Zahlenseher nur Abstraktes. Der kürzlich verstorbene Neuropsychologe Oliver Sacks berichtete 1985 von einem Mann, der eine Kopfverletzung erlitt, „die seine olfaktorischen Nervenstränge schwer in Mitleidenschaft zog, sodass er jeglichen Geruchssinn verlor“.
Danach schmeckte alles „fade“, aber nach einigen Monaten nahm er das Aroma seines Kaffees wieder wahr, und dann auch das seines Pfeifentabaks. „Er glaubte, er könne wieder riechen.“ Dem war aber nicht so: Er konnte die Gerüche nur halluzinieren. Dies war bei dem Ostberliner auch ein bisschen so, aber um wieder als Koch zu arbeiten, reichten solche „unbewussten Geruchsassoziationen“ nicht.
Oliver Sacks erwähnt einen weiteren „Fall“, bei dem das Gegenteil eintrat: Einen Studienkollegen, der Psychodrogen einnahm und eines Nachts träumte, er wäre „ein Hund in einer Welt voller starker und bedeutsamer Gerüche“, stellte beim Aufwachen fest, dass sein Traum Wirklichkeit geworden war. „Vor der Intensität der Gerüche verblassten alle anderen Wahrnehmungen.“
Fortan identifizierte er seine Freunde und Patienten am Geruch, „jeder von ihnen hatte seine eigene olfaktorische Physiognomie, ein Duft-Gesicht, das weit plastischer und einprägsamer, weit assoziationsreicher war als sein wirkliches Gesicht“. Wie ein Hund konnte er Gefühle – Angst, Zufriedenheit, sexuelle Erregung – riechen. Auch Läden und Straßen erkannte er am Geruch. „Nichts war mehr für ihn wirklich vorhanden, bevor er es nicht gerochen und befühlt hatte.“ Das Entscheidende war jedoch, dass er, der zuvor eher intellektuell orientiert war und zu Reflexionen und Abstraktionen neigte, sich plötzlich in einer Welt befand, „die aus ungeheuer konkreten Einzelheiten bestand, deren Unmittelbarkeit und unmittelbare Bedeutsamkeit überwältigend war“.
Wissenschaft des Konkreten
Als sein „Zustand“ nach drei Wochen zu Ende ging, fand er sich „in seiner alten, blassen Welt der beschränkten Sinneserfahrung, der Nicht-Konkretheit und Abstraktion wieder“ und begriff, dass wir mit unserer Zivilisation und der Reduzierung auf visuelles Erfassen etwas Wesentliches verloren haben: „das ‚Primitive‘ “. Der Ethnologe Claude Lévi-Strauss nannte es „eine Wissenschaft des Konkreten“, während die westliche eine „Wissenschaft des Abstrakten“ sei. Sie beruht wesentlich auf Logik und Zahlen.
Für Immanuel Kant waren die Gesetze der reinen Mathematik von jeder Erfahrung unabhängig und besaßen absolute Geltung. Als der Verhaltensforscher Konrad Lorenz 1941 auf den Königsberger Kant-Lehrstuhl berufen wurde, postulierte er, dass die Mathematik mit Abstraktionen arbeite, die den realen Inhalten und Gegebenheiten „grundsätzlich nur annäherungsweise“ angemessen seien.
Zwei Einheiten seien sich nur deshalb absolut gleich, weil es „genaugenommen“ beide Male dieselbe Einheit, „nämlich die Eins“, sei, die mit sich gleichgesetzt werde. So sei die „reine mathematische Gleichung letztlich eine Tautologie“, und die reine Mathematik wie die Kantischen apriorischen Denkformen inhaltsleere Verabsolutierungen: „Die Eins, auf einen realen Gegenstand angewandt, findet im ganzen Universum nicht mehr ihresgleichen.“ Wohl seien zwei und zwei vier, „niemals aber sind zwei Äpfel, Gänse oder Atome plus zwei weitere gleich vier anderen, weil es keine gleichen Äpfel, Gänse oder Atome gibt“.
Dies ist auch der Grund, warum „primitive Völker“ nicht rechnen können. Es gibt nichts in ihrer Welt, das sich so gleicht wie bei uns zwei Nägel oder zwei Messer. Der Unterschied im Denken rührt daher, dass sie einen Gaben- oder Geschenketausch praktizieren und wir mit der Durchsetzung des Geldverkehrs den Warentausch: Ersterer enthält die Verpflichtung zur Erwiderung der Gabe, der Warentausch dagegen das Postulat der Gleichwertigkeit der getauschten Dinge.
Auf das Gleichwertigkeitsprinzip reduziert
Diese „Ökonomie“ hat laut Adorno und Horkheimer zur Folge, dass das Mannigfaltige quantitativ unter einer Abstraktion vereinheitlicht wird, um es zu handhaben. Das symbolisch Benannte wird formalisiert; damit wird es berechenbar und nützlich, verfügbar und manipulierbar gemacht. Die Berechenbarkeit wird zum System der Welterklärung. Alles, was sich dem instrumentellen Denken entzieht, wird des Primitivismus verdächtigt.
Viele Mathematiker nun, aber auch Autisten sind sozusagen auf den Kern dieser „Weltsicht“ reduziert: auf das Gleichwertigkeitsprinzip, also auf die abstrakten Zahlen, die man ironischerweise „natürliche“ nennt. Wie so etwas „aussieht“, hat der sowjetische Neuropsychologe Alexander Lurija am Beispiel eines „Gedächtniskünstlers“ aufgezeichnet, der alle Zahlen, die man ihm nannte, behielt und wiedergeben konnte, wobei er sie im Gedächtnis als Gegenstände behandelte, die Geschmack, Farbe und Töne besaßen.
Ähnliches vermutete dann auch Lurijas „Schüler“ Oliver Sacks bei einem Zwillingspaar, die in einer Anstalt lebten und als retardiert galten. Sie hatten jedoch ein „ungeheuerliches Zahlengedächtnis – lässig wiederholten sie drei-, dreißig- oder dreihundertstellige Zahlen“. Schüttete man eine Schachtel mit Streichhölzern aus, „riefen beide ‚hundertelf‘“. Auf Befragen erklärten sie: „Wir haben sie nicht gezählt, wir haben die Hundertelf gesehen.“
Autisten als Avantgarde
Die Zwillinge unterhielten sich miteinander so: „John nannte eine sechstellige Zahl; Michael griff die Zahl auf, nickte, lächelte und schien sie sich gewissermaßen auf der Zunge zergehen zu lassen.“ Es waren Primzahlen. Die Beliebtheit von Primzahlen ist bei Autisten weit verbreitet, es sind für sie „Fenster zu einer anderen Welt,“ wie die Mutter einer Autistin Oliver Sacks schrieb. Man könnte vielleicht sogar sagen: Es ist ihr einziges Fenster zu unserer (warenproduzierenden) Gesellschaft.
Sacks wandte sich den Zwillingen zu, indem er eine achtstellige Zahl nannte. Sie überlegten kurz „und begannen gleichzeitig zu lächeln“. Sie hatten seine Primzahl erkannt. Diese „Kommunikation“ ging dann bis zu zwanzigstelligen Primzahlen. Sacks schreibt, „sie beschwören seltsame Zahlenszenen, in denen sie sich wie zu Hause fühlen; sie wandern ungezwungen durch riesige Zahlenlandschaften“. Sie „übertragen“ die Zahlen nicht in etwas anderes, sondern „erfühlen“ sie als „Formen“, wie „die vielfältigen Formen, die in der Natur vorkommen“.
Er vermutet, dass die Zahlen ihre „einzigen Freunde sind, die ihnen in ihrem isolierten Leben begegneten“. Auch für einige Mathematiker waren Zahlen schon in der Kindheit „Freunde“. Sacks zitiert Wim Klein: „Zahlen sind sozusagen meine Freunde. Für Sie ist das nicht so, stimmt’s? Zum Beispiel 3844 – für Sie ist das bloß eine 3, eine 8, eine 4 und noch eine 4. Ich aber sage: ‚Hallo, 62 hoch 2!‘“
Der „Logiker“ Kurt Gödel meinte, dass Zahlen, vor allem Primzahlen, als „Markierungen“ für Gedanken, Menschen, Orte oder etwas anderem dienen können; diese Markierungen würden den Weg zu einer „Arithmetisierung“ oder „Bezifferung“ der Welt ebnen. Oliver Sacks folgert daraus: „Sollte dieser Fall eintreten, dann ist es möglich, dass die Zwillinge und andere, die ebenso veranlagt sind, nicht mehr lediglich in einer Welt aus Zahlen, sondern als Zahlen in der Welt leben.“ In der sich durchalgorithmisierenden heutigen Weltgesellschaft sind die Autisten Avantgarde. Eine traurige, allseits reduzierte Speerspitze. Demgegenüber meinte eine ehemalige Physikerin auf einer Tagung der Akademien der Wissenschaften und der Künste über Verbindendes und Trennendes zwischen Kunst und Wissenschaft: „Es geht dabei im Kern um den Satz der Identität in der Logik – A gleich A: Da rauszukommen, darauf kommt es doch an.“
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