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Wahlrechtsreform in BremenMehr ist manchmal mehr

Die Bürgerschaft stimmt für mehr Parlamentssitze. Der Verein „Mehr Demokratie“ verurteilt das – doch die Befürworter haben die Justiz auf ihrer Seite.

Da sind's noch 84 Abgeordnete: Konstituierende Sitzung der Bremer Bürgerschaft im Juli 2019 Foto: Michael Bahlo/dpa

Bremen taz | Es klingt kontraintuitiv: Die Bremer Bürgerschaft wächst – weil die Stadt Bremerhaven schrumpft. Das Bremer Parlament hat in der vergangenen Woche sein Wahlrecht verändert. In der nächsten Legislaturperiode ab 2023 werden 87 Par­la­men­ta­rie­r*in­nen die etwa 680.000 Menschen aus Bremen und Bremerhaven vertreten.

Eine Entscheidung war notwendig geworden, weil die Stadt Bremerhaven zuletzt Bevölkerung verloren hatte. Die Seestadt stellt aktuell 15 der 84 Abgeordneten für das Bundesland. Im Verhältnis zur Größe bedeutet das aber, dass Bremerhaven überrepräsentiert ist: In der Stadt Bremen braucht es mehr Wähler*innen, um ei­ne*n Ab­ge­ord­ne­te*n zu wählen, die einzelne Stimme ist also weniger wert.

Um das Problem zu lösen, hätte sich die Bürgerschaft auch entscheiden können, für die nächste Wahl einen Sitz zu streichen – Bremerhaven hätte dann noch 14 Abgeordnete stellen dürfen, Bremen weiterhin 69. Stattdessen hat man sich entschieden, die Plätze für die Stadt Bremen aufzustocken – das verursacht jährlich 400.000 Euro zusätzliche Kosten, schätzt der Senat.

Das weckt den Zorn der Lokalberichterstattung: Der Weser-Kurier bemängelt in seinem Kommentar „den Eindruck der Selbstbedienung“ und sieht „eine politische Torheit ersten Grades“. Und bei Butenundbinnen, dem Regionalmagazin von Radio Bremen, schimpft man über radikal-­opportunistische, kleinmütige, entrückte Abgeordnete und fragt „Hamse die noch alle?“

Mehr Sitze für mehr Rechtssicherheit

Tatsächlich ist die Lage etwas komplizierter, was sich auch daran zeigt, dass neben den Mitgliedern der rot-grün-roten Koalition auch einige Abgeordnete von CDU und FDP für die neue Regel gestimmt haben. Erst einmal stimmt: Die Entscheidung ist für die Abgeordneten persönlich sehr vorteilhaft: Für alle wächst damit die Chance, auch bei der nächsten Wahl in die Bürgerschaft einzuziehen.

Dazu kommt: Bremerhaven einen Platz wegzunehmen, hätte mit Sicherheit Widerstand hervorgerufen: Die Stadt am Meer hatte bei der großen Wahlrechtsreform 2003 noch 16 Mandate zugesprochen bekommen; die Zahl jetzt weiter von 15 auf 14 zu kürzen, hätte wahrscheinlich für innerparteilichen Unfrieden gesorgt.

Doch hinter der Entscheidung steht mehr als der Wunsch nach einer persönlichen Jobgarantie und dem Ausweichen vor einem Konflikt mit Bremerhaven: Es geht um Rechtssicherheit – und letztendlich um Demokratie. Seit die Bürgerschaft 2003 von 100 auf 83 geschrumpft und dann auf 84 Abgeordnete erweitert wurde, reicht das Erreichen der Fünf-Prozent-Hürde in Bremerhaven rein rechnerisch nicht mehr aus, um sicher einen Platz in der Bürgerschaft zu bekommen.

Das macht die Wahl nicht per se illegitim – allerdings hat der Bremer Staatsgerichtshof der Bürgerschaft schon 2004 aufgetragen, eine zu große Abweichung der benötigten Stimmen von der Fünf-Prozent-Hürde zu vermeiden. Seit damals haben sich die Zugangsvoraussetzungen allerdings weiter verschlechtert: Wurden 2004 noch 6,25 Prozent für einen garantierten Einzug benötigt, sind es mittlerweile schon 6,67 Prozent. Würde Bremerhaven einen weiteren Sitz verlieren, verschöbe sich das Verhältnis weiter.

Wahlrecht muss auch Unwahrscheinliches mitdenken

Der Verein „Mehr Demokratie“ weist die Bedenken des Staatsgerichtshofs zurück: „Faktisch liegt die Wahrscheinlichkeit dafür bei knapp über null Prozent“, sagt Sprecher Marcus Meier. „Nur, wenn ein Dutzend Parteien in Bremerhaven über fünf Prozent kämen, könnte es dazu kommen, dass jemand nicht einzieht.“

Das stimmt allerdings nicht – auch in anderen Konstellationen wären nicht unter allen Umständen ausreichend Sitze für die kleinste Partei mit knapp fünf Prozent vorhanden. „Klar ist das zum jetzigen Zeitpunkt unwahrscheinlich“, sagt Nelsson Janßen, Linke-Abgeordneter aus Bremerhaven. „Aber es ist nicht unmöglich. Das Wahlrecht muss auch für unwahrscheinliche Ereignisse ausgelegt sein.“

Mehr Demokratie sieht Politikverdrossenheit

Der Bremer Verein „Mehr Demokratie“ kritisiert trotzdem, die Bürgerschaft trage mit ihrer Entscheidung zur Politikverdrossenheit bei. „Beim einfachen Bürger könnte ankommen:,Die kriegen den Hals nicht voll'“ sagt Meier. Noch diese Woche will die NGO eine Petition starten, um die Entscheidung zur Vergrößerung des Parlaments zurückzudrehen.

Die Kritik der Geg­ne­r*in­nen entzündet sich nicht nur an den Kosten, sondern auch an der Größe des Parlaments selbst: Nirgendwo in der Republik kommen weniger Bür­ge­r*in­nen auf ei­ne*n Landtagsabgeordnete*n. Nicht beachtet wird dabei allerdings, dass in Bremen ein Halbtagsparlament arbeitet – Abgeordnete sollen durchaus noch einem weiteren Beruf nachgehen. Anders als der Bundestag ist die Bremer Bürgerschaft seit 2003 kaum noch gewachsen.

Bremer Parlamentarier haben Doppelfunktion

Bürgerschaftsmitglied Magnus Buhlert hat für die Debatte und die Petition von „Mehr Demokratie“ auch deshalb kein Verständnis – und hält sie selbst für einen Beitrag zu mehr Politikverdrossenheit. Als einer von zwei FDP-Abgeordneten hat auch er für die Vergrößerung gestimmt. „So teuer sind wir nicht“, sagt er. Für die Stadt Bremen übernehmen die Abgeordneten zusätzlich die Aufgaben eines Stadtrats – eine Doppelfunktion also.

„Die Opposition hat die Aufgabe, den gesamten Öffentlichen Dienst zu kontrollieren“, so Buhlert. „Wenn man bedenkt, dass die Rechten dabei ein Totalausfall sind, dann kontrollieren am Ende vielleicht 40 Menschen 12.000 Leute aus der Verwaltung. Da ist es sicherlich nicht zu viel, wenn wir ein wenig wachsen.“

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4 Kommentare

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Kommentarpause ab 30. Dezember 2024

Wir machen Silvesterpause und schließen ab Montag die Kommentarfunktion für ein paar Tage.
  • Nehmen wir doch mal das Ergebnis der letzten Bürgerschaftswahl:



    Wenn Bremerhaven mit nur 14 statt 15 Abgeordnete aus Bremerhaven vertreten wäre, würde die FDP ihr einziges Bürgerschaftsmitglied verlieren. Die FDP hat 5,77% der Stimmen erhalten!



    Was Frau Tober sagt ist also schlicht falsch. Das letzte Wahlergebnis beweist es, siehe oben.



    Frau Tober möchte sich bittel um folgendes Problem kümmern: In Bremerhaven hat es eine Wahlbeteiligung von rund 55%, in Bremen von 66% gegeben. Somit wiegt eine Bremerhavener Stimme rund 20% schwerer als eine Bremer Stimme. Das gibt es in keinem anderen Bundesland.

    • @weidedammer:

      Kleine Korrektur: Mehrzahlverfahren nach Sainte-Laguë, nicht d'hondt.

  • “Mehr Demokratie” fordert dafür auf allen Ebenen - auch auf Bundesebene - sogenannte Bürgerräte, deren Mitglieder gar nicht erst demokratisch gewählt werden und die gemäß der Vision des Vereins langfristig nicht nur Parlamente beraten, sondern irgendwann auch faktisch ersetzen sollen.

  • Es ist irreführend, die Aussage von Mehr Demokratie, nur wenn „ein Dutzend“ Parteien über die Fünfprozenthürde komme, könne eine davon bei der Verteilung von 14 Sitzen in Bremerhaven leer ausgehen, ohne nähere Erläuterung als falsch zu bezeichnen.

    Tatsächlich lässt sich die Spannweite des natürlichen Quorums mit mathematischen Formeln berechnen. Bei bis zu zehn Parteien über fünf Prozent liegt die Spannweite bei 14 Sitzen und dem geltenden Verfahren nach Sainte Laguë vollständig unterhalb der Fünfprozenthürde. Der vom Staatsgerichtshof befürchtete Fall kann hier also nicht eintreten. Erst bei elf Parteien ragt das obere Ende der Spannweite in den Bereich von über fünf Prozent hinein: Das natürliche Quorum liegt hier zwischen 2,70 und 5,26 Prozent der zu berücksichtigenden Stimmen.

    Bei diesen Werten ist zweierlei zu beachten: Zum einen liegt das sich bei einer konkreten Wahl ergebende natürliche Quorum meist ungefähr in der Mitte der theoretischen Spannweite (also auch in diesem Extremfall noch deutlich unter fünf Prozent). Zum anderen beziehen sich die Angaben auf die zu berücksichtigenden Stimmen, d. h. ohne die Stimmen der Parteien unterhalb der Fünfprozenthürde. Wenn beispielsweise sechs Prozent der Stimmen wegen der Sperrklausel unter den Tisch fallen, sind 5,26 Prozent der zu berücksichtigenden Stimmen gleichbedeutend mit 4,94 Prozent aller gültigen Stimmen.