Wahlkrimi in Peru: Auf der Kippe
Kurz vor Ende der Auszählung liegt der „Kommunist“ Pedro Castillo ganz knapp vorn. Seine rechte Widersacherin Keiko Fujimori spricht von Wahlbetrug.
Viele Peruaner kleben an ihrem Handy und warten auf die halbstündliche Aktualisierung der Auszählung auf der Webseite der Wahlbehörde ONPE. Bei 96,4 Prozent der ausgezählten Stimmzettel schien sich am frühen Dienstagmorgen Pedro Castillo mit 50,29 Prozent der Stimmen als Sieger herauszukristallisieren.
Für Castillos Anhänger steht längst fest, dass Castillo der nächste Präsident wird. Vor dem Haus der Lehrergewerkschaft in der historischen Altstadt von Lima warten Hunderte von Menschen auf die neuesten Zahlen. Fliegende Händler verkaufen Devotionalien, peruanische Flaggen, Mützen. Und überall ein gelber Bleistift, das Parteisymbol für den „Profe“ (Lehrer). Dazwischen noch die eine oder andere Mütze mit der Aufschrift „Rusia“, ein Überbleibsel vom Auftritt der peruanischen Fußballnationalmannschaft bei der WM in Russland vor drei Jahren.
Vom Balkon singt die Sängerin Martina Portocarrero „Flor de Retama“, ein bekanntes Volkslied in Erinnerung an die Opfer eines Massakers. Einige Wochen vorher hatten rechte Fernsehkommentatoren das Lied als Terroristenlied verunglimpft. Im Wahlkampf haben Perus Mainstreampresse und das Fernsehen eine unrühmliche Rolle gespielt. Die Medien ergriffen Partei für Keiko Fujimori und schürten die Angst, dass bei einem Sieg Pedro Castillos Peru wahlweise dem Terrorismus, dem Kommunismus oder dem Chavismus anheimfallen würde.
Dass der vor den Wahlen völlig unbekannte Lehrer aus dem Dorf Tacabamba in Nordperu gegen diese mediale und wirtschaftliche Übermacht nun gewinnen könnte, ist ein kleines Wunder. Oder es ist ein Ausdruck der tiefen Sehnsucht vieler Peruaner auf einen Neuanfang in der Politik, ohne Korruption und mit einem „wie ihnen“ am Ruder.
„Ich habe für Pedro Castillo gestimmt, weil er Schluss machen wird mit den Wucherzinsen der Banken, und weil er neue Verträge mit den internationalen Unternehmen aushandeln wird“, sagt Augusto Salcedo. Der 56-jährige Staatsangestellte ist mit seiner Frau vom anderen Ende Limas angereist und wartet seit zwei Stunden auf die Ergebnisse. Auch er hat, wie die meisten Peruaner, Covidtote in seiner Familie zu beklagen. „Mein Bruder ist gestorben, weil es keinen Sauerstoff gab“, berichtet Salcedo erzürnt.
Die schmerzliche Erfahrung so vieler Peruaner, angesichts der Pandemie nur auf sich selbst gestellt zu sein, hat das sowieso schon große Misstrauen gegenüber dem Staat und der politischen Klasse verstärkt. In keinem anderen Land der Welt hat Covid-19 nach amtlichen Angaben so viele Opfer in Relation zur Bevölkerung gefordert.
Die Stimmung ist friedlich – noch
Erste Feuerwerke steigen am Himmel auf. Die Stimmung ist friedlich. Aber sie könnte sehr schnell kippen, sollte die Wahlbehörde ONPE doch noch Keiko Fujimori zur Wahlsiegerin ausrufen. „Wenn die ONPE betrügt, dann werden wir protestieren. Und nicht nur hier in Lima, sondern im ganzen Land“, sagt Augusto Salcedo und stellt klar, dass er nur eine Wahl zugunsten von Castillo akzeptieren wird.
Keiko Fujimori, die momentane Verliererin, gibt derweil eine Pressekonferenz und klagt Castillos Partei des Wahlbetrugs an. Es seien zuviele Stimmen abgegeben worden und an den Wahltischen sei es zu Unregelmäßigkeiten gekommen. Am Ende ruft sie die Bevölkerung dazu auf, beobachtete Regelverstöße zu melden.
Für Keiko Fujimori steht viel auf dem Spiel. Sollte sie die Wahl verlieren, bedeutet dies nicht nur das Ende ihrer politischen Karriere, sondern sehr wahrscheinlich auch einen Gerichtsprozess wegen Geldwäsche und Bildung einer kriminellen Vereinigung.
Es gäbe keinerlei Anzeichen für Wahlbetrug, sagt Adriana Urrutia von der Nichtregierungsorganisation Transparencia im Interview mit der Zeitung El Comercio. Die Organisation führt seit Jahren unabhängige Wahlbeobachtungen durch und ist eine von allen Seiten anerkannte Referenz in Sachen Wahlen.
Im reichen Stadtteil Miraflores ist alles ruhig. Niemand protestiert oder feiert. Hier haben 84 Prozent für Keiko Fujimori gestimmt. Die Wahl äußert sich hier auch per Banküberweisung: Einige sollen ihr Geld und ihre Geschäfte bereits ins Ausland gebracht haben, um sie vor dem „Kommunismus“ zu retten.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Historiker Traverso über den 7. Oktober
„Ich bin von Deutschland sehr enttäuscht“
Deutsche Konjunkturflaute
Schwarze Nullkommanull
Elon Musk greift Wikipedia an
Zu viel der Fakten
Interner Zwist bei Springer
Musk spaltet die „Welt“
Grünen-Abgeordneter über seinen Rückzug
„Jede Lockerheit ist verloren, und das ist ein Problem“
Schäden durch Böller
Versicherer rechnen mit 1.000 Pkw-Bränden zum Jahreswechsel