Wahlen im Libanon: Die radikalen Gegner der Hisbollah
Den Lebanese Forces werden bei den Wahlen im Libanon gute Chancen eingeräumt – einer rechten christlichen Partei, die im Bürgerkrieg gewütet hat.
A ssaad Chaftari sitzt am Rande eines Konferenzraums in einem hochgeschossenen Hotel, zwölf Kilometer nördlich von Beirut. Mit der flachen Hand fährt er sich über den kahlen Kopf, seine Fingerspitzen trommeln auf den Tisch oder aneinander, ganz ruhig wirkt er nie. Immer wieder blickt er zur Tür und in die Gesichter der übrigen Gäste. Ein wirklich junges ist nicht darunter. „Mir wurde gesagt, es kämen Menschen jeden Alters“, sagt er.
Die Veranstalter:innen beruhigen ihn, sagen, seine Rede werde ja über Facebook gestreamt. Eingeladen wurde Chaftari vom Lebanese Development Network, gekommen sind Vertreter:innen anderer NGOs und Initiativen – er soll hier über seine Vergangenheit sprechen, über das Töten und wie er es hinter sich gelassen hat. Eigentlich hatte er gehofft, an diesem warmen und sonnigen Morgen einen Haufen junger Leute treffen und ihnen seine Geschichte erzählen zu können.
Die Geschichte, die er schon so viele Male erzählt hat, dass jedes Wort sitzt wie maßgeschneidert. Wie er aufwuchs in einem christlichen Viertel Beiruts, mit drei, vier muslimischen Mitschülern, die er genauso liebte, wie er den Rest der Muslime verachtete. Wie er im Alter von 20 Jahren den Ausbruch des Libanesischen Bürgerkriegs erlebte, im April 1975. Sich bedroht fühlte von den militanten Palästinensern, die, wie er es damals sah, in sein Land einfielen, um Angriffe auf Israel verüben und den Libanon islamisieren zu können. Wie er sich einer christlichen Miliz anschloss, die es sich zum Ziel erklärt hatte, den Libanon zu befreien, mindestens von Palästinensern und Syrern, bestenfalls von allen Muslimen, denen es weniger um den Libanon als um den Islam ging.
Assaad Chaftari, Ex-Vize-Geheimdienstchef der christlichen Miliz Lebanese Forces
Wie er während des Kriegs in der Miliz bis ganz nach oben aufsteigt und als stellvertretender Chef ihres Geheimdienstes Bombenanschläge in Auftrag gibt. Dass Menschen sterben und verschwinden auf sein Geheiß und er sich bei alldem im Namen der Verteidigung der Christ:innen im Recht fühlt. Chaftari erzählt schonungslos, seinen Zuhörer:innen und sich selbst gegenüber. Es ist immer auch ein bisschen ihre Geschichte, die sie diesen 15 Jahre dauernden Bürgerkrieg erlebt haben, auch wenn sie natürlich nicht so weit gegangen sind wie Chaftari. „An was immer Schreckliches Sie jetzt denken“, sagt er und lässt der Vorstellungskraft der anderen Zeit, sich ihren Weg zu bahnen wie Wasser durch Kieselbänke, „ich habe es getan“.
Die Gruppe, der sich Chaftari anschließt, heißt Lebanese Forces (Arabisch: al-Quwwāt al-Libnānīyah). Sie gelten als ultrarechts, nationalistisch und religiös. Eng verbunden sind sie mit der katholischen Kirche, sie sind Partner der Europäischen Volkspartei (EVP, der auch die CDU und CSU angehören, und kooperieren in Beirut mit der CDU-nahen Konrad-Adenauer-Stiftung. Die schreibt dazu auf Nachfrage: „Die Parteienzusammenarbeit gehört zu den Kernaufgaben der politischen Stiftungen im Rahmen der internationalen Zusammenarbeit und unter Berücksichtigung eines Multiparteienansatzes.“
Bei den Parlamentswahlen an diesem Wochenende rechnen die Lebanese Forces mit einem guten Ergebnis. Sie veranstalteten die mit Abstand größte Wahlkampagne aller Parteien mit Plakaten im ganzen Land. Von keiner Partei sah man mehr und meistens dasselbe: eine Reihe mittelalter Männer und den Spruch „We want and we can do it“.
Der Chef der Lebanese Forces, Samir Geagea, hat bis heute den Ruf als brutalster Kriegsherr des Bürgerkriegs, doch ist er auch der Einzige, der anschließend im Gefängnis saß. Heute stünde keine Partei im Libanon weiter rechts, sagen politische Beobachter:innen. Doch die Lebanese Forces geben sich zunehmend moderat, um mehr Unterstützer:innen in der christlichen Mitte zu gewinnen. Und das funktioniert. Denn seit einiger Zeit suchen diese Christ:innen und auch viele Sunnit:innen nach einer neuen politischen Heimat. Die bislang größte christliche Partei um Staatspräsident Michel Aoun verliert an Zustimmung, und viele Sunnit:innen fühlen sich orientierungslos, nachdem ihr traditioneller Führer und Ex-Ministerpräsident Saad Hariri im Januar bekanntgegeben hat, sich aus der Politik zurückzuziehen.
Die Lebanese Forces versuchen, sie alle mit einem starken Anti-Hisbollah-Kurs zu vereinen, inszenieren sich als ihr letzter starker Gegenspieler. Samir Geagea als den Einzigen, der Hisbollah-Chef Hassan Nasrallah noch die Stirn bieten kann. In einigen Gegenden kooperieren die Lebanese Forces sogar mit unabhängigen sunnitischen Kandidaten auf gemeinsamen Listen. Wie erfolgreich das sein wird, ist ungewiss, denn bei vielen muslimischen Wähler:innen hat Geagea aufgrund seiner brutalen Vergangenheit im Krieg keinen guten Stand.
Wer sind diese Lebanese Forces heute? Wie viel ist übrig von ihrer rechtsextremen Essenz, was glaubwürdig von ihrem aktuellen moderaten Auftreten? Und was bedeutet das für den Libanon?
Ursprünglich gründen sich die Lebanese Forces als Miliz, als militanter Arm der Partei Kataeb. Deren Gründer, Pierre Gemayel, reist 1936 zu den Olympischen Spielen nach Berlin, ist dort fasziniert von der Hitlerjugend, ihrer Disziplin. Nach seiner Rückkehr gründet er eine ebensolche rechtsgerichtete Jugendbewegung, aus der die Kataeb hervorgeht.
Während des Bürgerkriegs entscheidet Pierres Sohn, Bachir Gemayel, die zahlreichen christlichen Milizen zu einen. So entstehen die Lebanese Forces. Ihnen und der Kataeb werden im Laufe des Kriegs schwerste Verbrechen zur Last gelegt, darunter das Massaker in den palästinensischen Flüchtlingscamps Sabra und Schatila 1982, bei dem Hunderte Frauen, Kinder und Alte abgeschlachtet werden. Doch im Libanon werden diese Verbrechen nie aufgearbeitet. Als der Bürgerkrieg 1989 endet, wird auch entschieden, dass alle Milizen zu regulären Parteien umgewandelt werden. Kataeb und Lebanese Forces lösen sich voneinander und treten fortan als getrennte Parteien auf.
Die Lebanese Forces erleben nach dem Krieg die schwierigste Phase ihrer Geschichte. Von vielen werden sie für ihre Verbrechen im Bürgerkrieg gehasst. Auch auf politischer Ebene versuchen führende prosyrische Kräfte, die Partei loszuwerden. Manche ihrer Mitglieder werden ohne Prozess ins Gefängnis geworfen oder direkt ermordet. Als Einziger von allen ehemaligen Kriegsherren wandert Samir Geagea, seit Ende der 1980er Jahre Anführer der Lebanese Forces, 1994 ins Gefängnis. Elf Jahre harrt er in einer, wie es heißt, fensterlosen Zelle aus, 2005 kommt er frei. Für seine Unterstützer:innen rückt ihn das in die Nähe von Gott. Es macht aus ihm einen Märtyrer, den Einzigen, der sich nie den Syrern unterwarf, die den Libanon noch bis 2005 besetzten. Ehrfürchtig nennen sie ihn „Dr. Geagea“, weil er sechs Semester Medizin studierte, bevor der Krieg begann.
Assaad Chaftari, einst enger Kollege von Geagea, hat ihn noch einmal besucht, als dieser aus dem Gefängnis entlassen wurde, später hat er ihm zum Tod seiner Eltern kondoliert. „Mehr gibt es nicht mehr zu sagen.“ In dem Hotel nördlich von Beirut erzählt Chaftari auch, wie er schließlich einen Bischof trifft und mit der Miliz bricht. Seine Verbrechen holen ihn ein, mit ihnen zu leben wird zur Qual. Aus „den Muslimen“ werden Ahmads, Mahmuds und Mariams mit Geschichte und Gesicht. „Jetzt habe ich in den Spiegel geguckt und dort das Biest gesehen.“ Chaftari sagt, dass er nicht wusste, wie es weitergehen soll. „Ich hätte mich umbringen können, und ich habe mehr als einmal darüber nachgedacht.“
Stattdessen gründet er mit anderen eine Gruppe, die Fighters For Peace, bestehend aus ehemaligen Bürgerkriegskämpfern, christlichen, muslimischen, drusischen. Sie halten Trainings und Workshops mit Jugendlichen ab, sie reden in Schulen und auf Veranstaltungen. Um den jungen Erwachsenen, von denen viele jetzt zum ersten Mal wählen, zu vermitteln: Macht nicht die gleichen Fehler wie wir damals. Lasst euch nicht von den politischen Führern instrumentalisieren, lasst euch nicht gegeneinander aufhetzen.
Eine schwierige Aufgabe, denn die libanesische Gesellschaft lebt auch 30 Jahre nach Ende des Bürgerkriegs in weiten Teilen mehr neben- als miteinander. Die christlichen und muslimischen Viertel Beiruts existieren noch immer, bis heute Realität sind auch der schiitische Süden, der christliche Küstenstreifen gen Norden, das sunnitische Tripoli, die Drusen in den Bergen vom Distrikt Chouf. Und so üben auch die unterschiedlichen politischen Gruppen im Libanon ihren Einfluss aus.
Der Libanon blickt auf leidvolle zwei Jahre zurück, erschüttert von der schlimmsten Finanz- und Wirtschaftskrise seiner Geschichte und einer Explosion im Hafen von Beirut, bei der am 4. August 2020 mehr als 200 Menschen sterben und Tausende verletzt werden.
Diese Parlamentswahlen sind die ersten, die inmitten der Krise stattfinden und nachdem im Herbst 2019 Hunderttausende Menschen auf die Straße gingen und für eine Abschaffung des Systems aus Klientelismus und Korruption demonstrierten. Es sind die ersten, die nach der Katastrophe vom Hafen stattfinden, die eine ganze Stadt traumatisierte.
Nie traten mehr oppositionelle Gruppen an, nie mehr unabhängige Kandidat:innen. Doch das Wahlsystem im Libanon ist kompliziert, und die alte politische Klasse verfügt über enorme Ressourcen. Einige der Oppositionsgruppen kooperieren deshalb in gemeinsamen Listen mit einer der Altparteien oder mit wohlhabenden Geschäftsleuten, für viele andere machte sie das wiederum als Opposition unglaubwürdig.
So franste die Opposition an vielen Stellen aus. Die Libanes:innen rechnen mit keinen großen Veränderungen, und doch: Es ist die Wahl, mit der ein Wandel beginnen kann und muss. Weil den meisten auch klar ist, dass es so wie bisher nicht weitergeht. Knapp 80 Prozent der Libanes:innen leben unterhalb der Armutsgrenze, die Währung hat 90 Prozent ihres Werts verloren. Viele Menschen wollen einen echten Staat mit funktionierenden Institutionen und einer unabhängigen Justiz.
21 Monate nach der Explosion im Hafen sind keine Verantwortlichen gefunden. Die Hisbollah sabotiert die Aufklärungsarbeit von Richtern, die sie zum Teil sogar selbst in die Spur gebracht hat. Mitte Oktober 2021 ruft sie zu Protesten gegen den aktuellen Untersuchungsrichter Tarek Bitar auf. Was dann passiert, ist auch sieben Monate später nicht vollends geklärt. Doch es ist ein Auslöser, den die Lebanese Forces erfolgreich für ihre Inszenierung als Beschützer der Christ:innen nutzen konnte und wieder stark machte.
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.
Vom Justizpalast aus machen sich Unterstützer von Hisbollah und Amal-Partei randalierend auf den Weg in ein christliches Viertel, wo sie auf bewaffnete Kämpfer treffen. Auf Hausdächern postierte Scharfschützen schießen in die Menge. Auch die Armee greift ein. Am Ende sind sieben Menschen tot, darunter Unterstützer von Hisbollah und Amal und eine junge Frau, die auf der Suche nach ihren Kindern aus dem Fenster schaute.
Viele machen im Anschluss Hisbollah und Amal für die schlimmsten Ausschreitungen seit 2008 verantwortlich. Hisbollah-Chef Hassan Nasrallah wiederum bezichtigt Samir Geagea, seine Leute auf den Hausdächern postiert zu haben, um Demonstranten der Hisbollah zu eliminieren. Geagea wird im Zuge der folgenden Ermittlungen zu einer richterlichen Anhörung vorgeladen, der er mit der Begründung fernbleibt, er komme nur, wenn auch Nasrallah erscheine. Eine rhetorische Forderung, denn Nasrallah lebt auf der Flucht vor den Israelis seit Jahren im Untergrund.
In den Bergen über Beirut sitzt Assaad Chaftari in seinem Wohnzimmer, so vollgestopft mit buntem Nippes, dass es aussieht wie ein farbenschweres Aquarell, das an den Rändern überläuft. Und wieder wandern seine Finger immerzu über Kopf und Gesicht, die Tischkante entlang, die Sofalehne. Was genau an jenem Oktobertag in Beirut passiert ist, weiß auch er nicht. Aber er glaubt: Ob die Lebanese Forces nun absichtlich oder zufällig beteiligt waren, der Partei um Samir Geagea hat es genützt. So konnte sie sich wieder zur letzten Verteidigerin der bedrohten Christ:innen im Libanon stilisieren, wie schon im Krieg. „Das zieht auch bei jungen Christen noch immer. Und bei den Älteren habe ich nach den Schießereien wieder diese Angst und Wut von früher gespürt.“
Als Chaftari danach Interviews auf Youtube gibt, wird er angefeindet. „Ich bin beschimpft worden, als Christ, der gehorsam unter Muslimen lebt, ihnen nach dem Mund redet und so etwas. Ich war geschockt.“ Wie auf diese Weise die alte Rhetorik des Bürgerkrieges wieder angeheizt wurde, hält Chaftari für gefährlich. Und er sagt: „Wer heute fanatisch ist, geht nicht mehr zur Kataeb, sondern zu den Lebanese Forces.“
Die Kataeb, die in den vergangenen Jahren immer mehr in sich zusammenschrumpfte, bezeichnet sich mittlerweile selbst als Opposition und ihre einstige Schwester Lebanese Forces als rechtsextrem. Doch auch die Lebanese Forces haben sich längst den Oppositionsmantel übergeworfen, sagen, sie seien im Oktober 2019 mit all den Hunderttausend anderen auf die Straße gegangen, um gegen die Hisbollah zu demonstrieren. Eine Umdeutung der Proteste, die „Alle heißt alle“ zum Hauptslogan hatte. Die Lebanese Forces waren ebenso gemeint wie die Hisbollah und die gesamte politische Elite.
Tony Bader sieht das anders. Er ist der Chef der Studierendenvereinigung der Lebanese Forces, ein wichtiger Kopf der Partei. An den Universitäten des Landes haben die Lebanese Forces Vertretungen, Bader koordiniert sie. In einem Café in Achrafieh, einem wohlhabenden christlichen Viertel Beiruts, rührt er in seinem grünen Tee und blickt durchs Fenster auf die vielbefahrenen Straßen. „Man hat genug von der Hisbollah, darum geht es.“ Für ihn ist deshalb auch das, was an dem Oktobertag 2021 passierte, die Geschichte eines Widerstands: „Die Leute lassen nicht zu, dass Kämpfer in ihr Viertel eindringen und Ärger machen, da verteidigen sie sich eben.“ Diese Menschen hätten den Lebanese Forces nahegestanden, aber dass es eine Entscheidung der Partei gab, Scharfschützen zu postieren, bestreitet er.
Wie er überhaupt vieles bestreitet, was man den Lebanese Forces vorwerfen könnte. Kriegsverbrechen? Nein. Sabra und Schatila? Eine bestimmte Gruppe innerhalb der Lebanese Forces um einen Mann namens Elie Hobeika, der bei einem innerparteilichen Coup 1986 von Samir Geagea gestürzt wurde. Swastika und Hakenkreuze auf den Armen und Waden einiger ihrer Mitglieder? Einzelfälle. „Wir hätten nichts dagegen, wenn diese Leute unsere Partei verlassen, denn das entspricht nicht dem, für das wir stehen, und das sind die Menschenrechte“, sagt Bader. Außerdem für einen unabhängigen souveränen Libanon, frei vom Einfluss ausländischer Mächte, vor allem Irans und Syriens. Und immer wieder sagt er: für die Bekämpfung der Hisbollah. „Solange wir diese bewaffnete Gruppe haben, die unser Land zerstört, können wir keines unserer anderen politischen Probleme wirklich lösen.“
Bei einem Zoomgespräch kritisiert der Journalist Jad Ghosn das. Er ist einer der bekanntesten Journalist:innen des Libanon, einer, der über Parteigrenzen hinweg viel Anerkennung und Respekt genießt. Über die Lebanese Forces sagt er: „Sie verfolgen eine eindimensionale Idee von Politik, die aber für viele Menschen funktioniert, weil sie Angst vor der politischen Rolle der Hisbollah haben.“ Doch nur gegen etwas zu sein, mache noch keine Politik.
Man müsse außerdem zwischen dem unterscheiden, was die Vertreter:innen der Lebanese Forces öffentlich sagten und was nicht. „Keine Partei im Libanon steht weiter rechts. Aber in ihrer öffentlichen Rhetorik sind sie vorsichtig geworden, weil sie auf diese Weise mehr gewinnen. In Frankreich unterstützen sie Marine Le Pen, weil sie sich für die Christ:innen einsetzt, sie fanden Trump gut, weil er einen harten Kurs gegen Iran fuhr. Im Libanon richtet sich ihre ganze Radikalität gegen die Hisbollah, und das genügt.“
Mit Ausbruch der Coronapandemie im Libanon forderte Samir Geagea, die palästinensischen und syrischen Flüchtlingscamps komplett zu schließen, niemanden mehr hinein und hinaus zu lassen. Im aktuellen Wahlprogramm, das Studierendenkoordinator Tony Bader Ende April über Whatsapp schickt, heißt es, die Lebanese Forces lehnen eine Ansiedlung der palästinensischen Flüchtlinge kategorisch ab und fordern auch eine sofortige Rückkehr der vertriebenen Syrer in ihr Land.
Tony Bader beschreibt die Lebanese Forces als Mitte-rechts-Partei, die an die Freiheit glaubt, an die eines jeden Einzelnen, aber auch an die des Markts, an privaten Besitz und private Rechte. „Wir sind rechts, aber nicht rechtsextrem. In unserer Vergangenheit findet man extreme Standpunkte, ja, aber wir rücken schon seit Jahren immer mehr in die politische Mitte.“
Dazu gehöre auch, für Frauenrechte einzustehen und die Dekriminalisierung von Homosexualität. Um im Weiteren diskutieren zu können, ob auch eine Gleichstellung mit heterosexuellen Partnerschaften „infrage käme“. Beim Thema Abtreibung vertrete man die gleiche Position wie die katholische Kirche. Man favorisiere ein politisches System nach Schweizer Vorbild, das die „Pluralität des Libanon“ berücksichtige. Ein Land also, das in christliche und muslimische Kantone geteilt ist, in dem alle Bürger:innen gleich sind, den Christ:innen aber eine „wesentliche Rolle“ zukommt. Und: „Wir sind gegen alle Positionen, die nicht mit den Menschenrechten vereinbar sind. Dem steht das Programm der Hisbollah diametral entgegen.“
Jad Ghosn sagt, die Lebanese Forces würden eine Strategie verfolgen, die sie aber nicht öffentlich zugeben könnten, denn bei der gehe es darum, auf eine ausländische Macht zu warten, die den Libanon von der Hisbollah befreie. „Aber das ist natürlich keine besonders patriotische oder nationalistische Sichtweise, also wird sie nicht öffentlich kommuniziert.“
Tatsächlich haben die Lebanese Forces einen besonders engen ausländischen Verbündeten, von dem jede:r weiß: Saudi-Arabien. Die von Wikileaks 2015 veröffentlichten „Saudi Cables“ enthalten ein Dokument, das der saudische Botschafter im Libanon an seinen König schickte. In dem berichtet er von einem Treffen mit Samir Geagea, bei dem dieser die Saudis um Geld bittet. Geld, das für den Kampf gegen die Hisbollah genutzt werden solle. Der saudische Botschafter schließt das Kommuniqué mit der Einschätzung, Geageas Lebanese Forces könnten wichtige Alliierte im Kampf gegen die Hisbollah sein, sie würden, so heißt es, „alles tun“.
Dass auch das Geld für die großangelegte Wahlkampagne der Lebanese Forces aus Riad kam, ist ein offenes Geheimnis. Die Saudis haben sich für Geagea als ihren Mann im Libanon entschieden, weil ihr natürlicher Verbündeter, Saad Hariri, selbst Sunnit mit saudi-arabischer Staatsbürgerschaft, in ihren Augen zu nachsichtig mit der Hisbollah umging.
Natürlich sei die Hisbollah ein besonderer Player im Libanon, sagt der Journalist Jad Ghosn, der stärkste, der mit dem größten und potentesten Unterstützer im Hintergrund, dem keine andere Partei, keine Miliz und auch nicht die libanesische Armee beikommen könnte. Doch auch die Lebanese Forces hätten ihren Geldgeber im Ausland, auch sie seien bewaffnet und führten paramilitärische Trainings durch, wie im vergangenen Oktober zu sehen war. „Und deshalb sind für mich Parteien wie Hisbollah und Lebanese Forces und all die anderen in gleichen Teilen verantwortlich für die Situation in unserem Land: Sie haben alle miteinander dafür gesorgt, dass der Staat in seinem Innern derart geschwächt ist, dass er nicht in der Lage ist, mit Problemen wie eben der Hisbollah selbst fertig zu werden“, sagt Ghosn.
Wen er wählen wird, weiß der ehemalige Milizionär Assaad Chaftari noch nicht, dafür aber, dass er weitermachen wird. Er wird seine Geschichte immer und immer wieder erzählen, so lange er eben kann. Auch wegen der Momente, die ihm Mut machen und den Frust aushalten lassen. Neulich erst, als eine sehr junge Christin nach einer Veranstaltung auf ihn wartete und ihm eine Frage ins Ohr wisperte. Wie sie ihre Eltern denn dazu bringen könne, dass sie mehr in muslimischen Vierteln unternehmen dürfe oder dass sie einfach mitkämen. Sie fragte ihn um Rat. Da streicht sich Chaftari wieder über den kahlen Kopf, trommelt seine Fingerspitzen aneinander und blickt zu Boden. Den feinen feuchten Film, der sich jetzt über seine Pupillen spannt, sieht man trotzdem.
Hanna Voß ist freie Journalistin und Programmmanagerin im Beirut-Büro der Rosa-Luxemburg-Stiftung
Transparenzhinweis: Das Gespräch mit Jad Ghosn hat bereits im Januar stattgefunden. Im April hat Ghosn bekannt gegeben, selbst für eine oppositionelle Partei anzutreten, und kandidiert bei den Wahlen für einen Listenplatz im Metn-Distrikt, östlich von Beirut, für die Gruppe Citizens in a State.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israel, Nan Goldin und die Linke
Politische Spiritualität?
Matheleistungen an Grundschulen
Ein Viertel kann nicht richtig rechnen
Nikotinbeutel Snus
Wie ein Pflaster – aber mit Style
Innenminister zur Migrationspolitik
Härter, immer härter
Prozess gegen Letzte Generation
Wie die Hoffnung auf Klimaschutz stirbt
Börsen-Rekordhoch
Der DAX ist nicht alles