Wahlbündnisse in der Türkei: Der Feind meines Feindes
Für einen Wahlsieg braucht jede Partei mindestens 50 Prozent der Stimmen. Die Bündnisse, die sie dafür schließen, treiben seltsame Blüten.
Die gesamte Türkei fiebert den anstehenden Wahlen am 14. Mai entgegen. Im Jahr 2014 wurde Recep Tayyip Erdoğan zum ersten vom Volk gewählten Staatspräsidenten der Türkei und ebnete damit den Weg zur Einführung des Präsidialsystems, das nach einem Verfassungsreferendum 2017 in Kraft trat. Seit der Abschaffung des parlamentarischen Systems beziehungsweise der Gewaltenteilung wurde Erdoğan mit jeder Wiederwahl autoritärer. Diesen Regierungsstil billigten nicht nur seine Anhänger in der Türkei, sondern auch internationale Verbündete, die sein Treiben mal mit Euphorie, aber auch mit Sorge beobachten.
Das Interessanteste an dieser mit dem 100-jährigen Jubiläum der Republikgründung zusammenfallenden Wahl ist wohl die Tatsache, dass das Wahlsystem, das Erdoğan mehrfach zu seinen eigenen Gunsten reformiert hat, das Ende seiner Ära bedeuten könnte. Sie fragen, wie? Nun, nach dem derzeitigen Wahlsystem braucht der Präsidentschaftskandidat für einen absoluten Sieg mindestens 50 Prozent der Wahlstimmen. Die Zersplitterung der politischen Lager sowie der schwindende Rückhalt in Erdoğans Anhängerschaft macht es aktuell allen Parteien schwer, einen Wahlsieg davonzutragen. Die Lösung für dieses Problem liegt in den breit aufgestellten Wahlbündnissen, in denen sich zuweilen ideologisch sehr konträre Partner zusammenfinden. Ein Überblick.
Die Volksallianz – (Cumhur İttifakı)
Das erste Bündnis mit Recep Tayyip Erdoğan als Präsidentschaftskandidat bestand im Kern aus der Regierungspartei AKP und den beiden rechtsnationalistischen Parteien MHP und BBP. Dieses konservative, religiös-nationalistische Trio hat in letzter Minute einen Expansionskurs eingeschlagen. Ihnen haben sich die weitaus konservativeren und islamistischen YRP und Hüda Par angeschlossen. Während die YRP mit Fatih Erbakan an der Parteispitze sich als Nachfolgerin der von seinem Vater Necmettin Erbakan gegründeten Bewegung Milli Görüş versteht, bedient die Hüda Par vorwiegend die sunnitisch-kurdische Wählerschaft in Südostanatolien und gilt als türkischer Ableger der Hisbollah. Letztere wird von der türkischen Justiz als „terroristische Organisation“ geführt, allerdings hat der Staat wegen des Konflikts mit der PKK über deren Aktivitäten in den 1990er Jahren hinweggesehen.
Wie schon erwähnt, sind die islamistischen Neuzugänge konservativer als die AKP. So sind YRP und Hüda Par zum Beispiel offen gegen die Istanbul-Konvention und haben sich der Allianz unter der Bedingung angeschlossen, dass das türkische Gesetz Nr. 6284, das dem Schutz von Frauen und LGBTIQ*-Personen vor Gewalt dient, aufgehoben wird. Diese Forderung hat innerhalb der AKP für Unbehagen gesorgt, in der konservative Frauen besonders aktiv sind.
So bezeichnete die AKP-Abgeordnete Özlem Zengin die Aufhebung des besagten Gesetzes als „ihre rote Linie“ und löste damit eine landesweite Kontroverse sowie einen Shitstorm gegen sich aus. Zengin fragte öffentlich, wie eine Partei, die schließlich „mithilfe von Frauen groß geworden“ sei, ein derartig frauenfeindliches Versprechen geben könne. Für ihre Kritik erhielt die Abgeordnete Morddrohungen und keine Rückendeckung aus der Partei. Der islamische Flügel scheint sich einig darüber zu sein, den Status quo zu erhalten, in dem konservative Werte die Staatsverwaltung dominieren.
Wahlstimmen sind ihnen wichtiger als Frauenrechte. Ein weiteres Problem besteht zwischen dem islamischen und nationalistischen Flügel des Bündnisses, das sich aus den „feindlichen Brüdern“ der MHP und der BBP zusammensetzt. Die Einigkeit des rechten Flügels, Kurd*innen jegliche Grundlage für die Anerkennung ihrer politischen und kulturellen Rechte zu verwehren, steht in besonderem Konflikt mit der breiten kurdischen Wählerschaft des islamischen Flügels.
Dieser recht widersprüchlichen Allianz hat sich zuletzt noch die linkssozialistische DSP angeschlossen, gegründet von dem ehemaligen Ministerpräsidenten Bülent Ecevit. Die Partei hat keine nennenswerte Wählerschaft mehr und wird das Wahlergebnis vermutlich nicht beeinflussen. Doch die Aktion zeigt, wie verzweifelt die Bündnisse um jede Stimme kämpfen. Und der Rücktritt vieler ranghoher DSP-Mitglieder belegt, dass die aktuelle Parteiführung weder ihre Wählerschaft noch ihre Partei kennt.
Das Bündnis der Nation – (Millet İttifakı)
Das zweite große Bündnis, für das der CHP-Vorsitzende Kemal Kılıçdaroğlu als Präsident kandidiert, besteht aus der CHP als größter Oppositionspartei; der nationalistischen İyi Parti, die aus der MHP hervorgegangen ist; der islamischen SP, die den Anspruch hat, die ursprüngliche politische Linie der islamistischen Milli Görüş fortzusetzen; der DEVA und GP, die jeweils von ehemaligen AKP-Politiker*innen gegründet wurden; sowie der DP, die als Vorläufer aller rechten Parteien in der Türkei gilt.
Alle Bündnispartner – außer der CHP – sind Nachfolgeparteien und kritisieren ihre Vorgänger in der Volksallianz dafür, die konservativen, religiösen und nationalistischen Werte, für die sie stehen, zu verderben und sich dabei selbst zu korrumpieren. Die CHP positioniert sich innerhalb des Bündnisses als die Vertreterin des Gründungswillens der Republik, auch wenn das nirgends in ihrer Kampagne explizit erwähnt wird. Damit sind alle Ideologien aus dem ersten Bündnis vertreten, plus das unausgesprochene ideologische Erbe aus der Gründerzeit.
Das Bündnis der Nationen gibt zwei Hauptversprechen: die Rückkehr zu einem „gestärkten parlamentarischen Regime“ und die Übergabe der „Wirtschaft und staatlichen Institutionen“ an kompetentes, gebildetes und geeignetes Personal – sprich das Ende der Vetternwirtschaft. Wenn Kılıçdaroğlu zum Präsidenten gewählt wird, sollen alle Parteivorsitzenden zu Vizepräsidenten werden und jede Partei soll ein Ministerium erhalten.
Dieses Bündnis kann weder vollständig säkular noch vollständig konservativ oder nationalistisch genannt werden. Bisher haben sie in ihren gemeinsam veröffentlichten Texten stets darauf geachtet, ihre jeweiligen roten Linien nicht zu überschreiten. Hunderte Wahlversprechen wurden veröffentlicht, der Wiedereintritt in die Istanbul-Konvention gehört nicht dazu.
„Bündnis für Arbeit und Freiheit“ – Emek ve Özgürlük İttifakı (EÖİ)
Das dritte Bündnis unterstützt implizit die Kandidatur von Kılıçdaroğlu, indem es keinen eigenen Präsidentschaftskandidaten aufstellt. Das größte Mitglied dieses Bündnisses ist die HDP, die wegen des gegen sie laufenden Verbotsverfahrens unter dem Logo der Partei der Grünen und Linken (YSP) antreten wird. Man kann durchaus sagen, dass das Bündnis für Arbeit und Freiheit (EÖİ) verschiedene Traditionen der kurdischen Politik und linkssozialistischen Parteien unter einem Dach vereint. Dazu gehört die Arbeiterpartei der Türkei (TİP).
Sie ist als Folge ideologischer Debatten nach den Gezi-Protesten von 2013 aus der kommunistischen TKP hervorgegangen. Bei den letzten Parlamentswahlen verbündete sie sich mit der HDP und gewann dadurch zwei Sitze im Parlament. Später traten zwei Abgeordnete (ausgetreten aus HDP und CHP) der TİP bei und machten die Partei landesweit bekannt.
Bei dem Quartett handelt es sich um den gebürtigen Berliner und Historiker Erkan Baş, den Schauspieler Barış Atay, den Investigativjournalisten Ahmet Şık und die Juristin und Anwältin Sera Kadıgil, die mit ihren charismatischen Auftritten im Parlament für viel Wirbel sorgten. Die zum Teil in der Öffentlichkeit bereits vorher bekannten Abgeordneten bieten auch Wähler*innen anderer Parteien eine Alternative, da sie sich jenseits des bekannten politischen Blockverhaltens positionieren. Sie kritisieren offen die Regierung und thematisieren Arbeiter*innen- und Minderheitenrechte. Bei Wahlumfragen kommen sie maximal auf 2,8 Prozent, sind aber eine tonangebende Größe unter den linken Parteien.
Mit den vier weiteren linken Bündnisparteien – Partei der Arbeit (EMEP), Partei der gesellschaftlichen Freiheit (TÖP), Partei der proletarischen Bewegung (EHP) und Föderation der sozialistischen Parlamente (SMF) – stellt das Bündnis EÖİ die sichtbarste und stärkste politische Einheit dar, die in den letzten Jahren die verschiedenen Gruppen und Parteien der Linken in der Türkei sichtbar gemacht hat.
Zwei weitere Präsidentschaftskandidaten
Neben den Kontrahenten Erdoğan und Kılıçdaroğlu, die wohl die meisten Stimmen auf sich vereinigen werden, haben zwei weitere Präsidentschaftskandidaten ihren Hut in den Ring geworfen und jeweils 100.000 Unterschriften für ihre Kandidatur gesammelt: Muharrem İnce und Sinan Oğan. İnce, ehemaliger CHP-Politiker, kandidierte 2018 für die Präsidentschaft.
Mit dem Vorwurf, seine Partei hätte ihn damals nicht genug unterstützt, ging er zuerst in die parteiinterne Opposition und gründete schließlich 2021 die MP. Oğan, ehemaliges Mitglied der MHP, ist ein Rechtsradikaler. Er ist der gemeinsame Kandidat des restlichen rechtsnationalistischen Milieus, vereint unter dem Namen Ahnen-Bündnis (Ata İttifakı), das über keine nennenswerte Mehrheit verfügt. Laut Expert*innen könnte allerdings die Kandidatur der beiden eine Stichwahl zur Folge haben, die Erdoğan eine Chance zum Sieg bietet.
Alles wie gehabt oder Neustart
Es steht außer Zweifel, dass Erdoğan im Falle eines Wahlsiegs noch autokratischer regieren wird. Die Kontrolle über die Wirtschaft hat er bereits verloren, die wachsende Armut und die Folgen der Erdbebenkatastrophe vom 6. Februar, die voraussichtlich mehrere Jahrzehnte zu spüren sein werden, haben die Toleranz vieler Gesellschaftsgruppen auf eine harte Probe gestellt. In Anbetracht des gesellschaftlichen Klimas wird ein möglicher Sieg von Erdoğan nicht bedeuten, dass er Macht zum Regieren haben wird, egal wie autoritär er auch sein mag.
Falls die Opposition die Wahlen gewinnt, wird sie die Folgen aller Katastrophen, die Erdoğan in den vergangenen 20 Jahren verursacht hat, sicherlich nicht sofort beseitigen. Jedoch wird sich das Vertrauen der Gesellschaft in eine bessere Zukunft allmählich wieder entwickeln, und die Auflösung der Polarisierung, die Erdoğan mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln herbeigeführt hat, wird beginnen. Es ist nicht schwer, sich vorzustellen, dass die Hoffnung, die in einer solchen Situation entsteht, nicht nur zur Verbesserung der Wirtschaftslage beitragen wird, sondern auch dazu, dass die Türkei ihren respektierten Platz auf der internationalen Bühne wiedererlangt.
Bei den bevorstehenden Wahlen, die im hundertsten Jahr der Ausrufung der Republik stattfinden, werden die Wähler*innen die folgenden Fragen beantworten: Reicht es oder weiter so? Erliegt dieses Land einer fiebrigen und zerstörerischen Autoritarismuskrankheit oder wird die Gesellschaft mit all ihrer Kraft und den politischen Institutionen, die ihr noch verblieben sind, für ihre kollektive Genesung kämpfen?
Aus dem Türkischen von Sinem Vardar
Ayşe Çavdar ist Journalistin und Akademikerin. In den Bereichen Stadtforschung und Kulturanthropologie beschäftigt sie sich mit Islamismus, Nationalismus, Religiosität usw. Sie macht wöchentliche Sendungen und schreibt für die türkische Onlineplattform Medyascope und ist derzeit Gastwissenschaftlerin an der Bard University in Berlin.
Dieser Artikel ist am 3. Mai 2023 als Teil einer gemeinsamen Sonderbeilage der taz Panter Stiftung und Reporter ohne Grenzen zum Tag der Pressefreiheit erschienen.
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