Wahl in Russland: So tun, als ob
Wladimir Putin inszenierte sich erfolgreich als Retter des gefährdeten Vaterlandes. Doch seine Bilanz nach zwölf Jahren an der Spitze ist verheerend.
MOSKAU taz | Wladimir Putin wischte die Frage vom Tisch. Die Entscheidung werde „allen gut gefallen“, sagte der russische Ministerpräsident und grinste. Damals, im vergangenen Sommer, ging es wieder einmal um das Geheimnis, wer im Frühjahr 2012 als Präsidentschaftskandidat antreten werde: Amtsinhaber Dmitri Medwedjew? Putin? Oder gar ein neues Gesicht?
Der Sommer 2011 war heiß. Es brannte aber nicht, anders als im Vorjahr, überall in Russland. Putins Chefideologe Wladislaw Surkow nutzte die ereignislose Zeit zu einer Kaukasusreise und pries seinen Herrn als „von Gott gesandt“. Der Vertreter Gottes tauchte unterdessen ein paar hundert Kilometer weiter westlich in die Fluten des Schwarzen Meeres. Fernsehkameras und Archäologen waren zugegen.
Aus sechs Metern Tiefe in Ufernähe zauberte er drei antike griechische Amphoren empor. 2.000 Jahre Meerwasser hatten an den Fundstücken keine Spuren hinterlassen. Stolz präsentierte der durchtrainierte Premier in Tauchermontur den Schatz. Archäologen hatten ihn vorher aus der Asservatenkammer entliehen und versenkt.
Putin schätzt solche Show-Einlagen. Das Image als löschender Fliegerpilot und Formel-1-Kapitän, mutiger Raubtierbezwinger, Reiter in der Wildnis oder halbentblößtes Sexsymbol mit Angelrute gefiel dem Volk lange Zeit. Niemand fragte, ob der Stunt des Manns an der Spitze nicht nur eine Inszenierung sei und der Held gar ein Simulacrum, ein Trug- und Schattenbild.
Im September teilte der Premier dem Volk die Rückkehr in den Kreml auf dem Parteitag des „Einigen Russlands“ dann endgültig mit. Auch, dass die Rückkehr von Anfang an festgestanden habe. Der Kandidat war wie verzückt, tausende Jubelperser huldigten ihm. Es war sein Fest, das nordkoreanische Regisseure nicht besser hätten inszenieren können. Daher war es auch kein Volksfest. Viele Russen, auch jene, die dem Chef lange die Stange gehalten hatten, fühlten sich verhöhnt. Da machte sich jemand, der seit elf Jahren die Geschicke des Landes lenkte, über sie lustig.
Sein Stern sinkt
Angeber mögen die Russen nicht. Auch wenn sie ihre Führer fürchten, lieben und verhimmeln. Der Zar darf nicht selbstgefällig sein und schon gar keinen Hochmut zeigen. Seither sinkt der Stern des einstigen Retters. Sollte Putin den Staat nur noch als Bühne nutzen, auf der selbst die Hofnarren zum Lügen angehalten sind?
Putin hat das Gespür für das Volk und die Probleme des Landes verloren. Dennoch wird er als Präsident in den Kreml zurückkehren. Die Aura der Unfehlbarkeit umgibt ihn aber nicht mehr. Das beunruhigt auch die Gefolgschaft, denn seit den Vorwürfen der Wahlfälschung bei den Dumawahlen steht die Legitimität des Regimes auf dem Spiel. Um den Präsidentschaftswahlen den Anstrich von Korrektheit zu verleihen, ordnete der Premier daher an, in den Wahllokalen landesweit Kameras zu installieren, deren Bilder im Internet übertragen werden. Rund 300 Millionen Euro kostet das Unternehmen.
Es wäre auch billiger gegangen: Ein klares Wort Putins, Fälschungen zu unterlassen, und eine Drohung mit strafrechtlichen Konsequenzen, hätten auch gereicht. Doch Putin ahnt, dass er Stimmkorrekturen brauchen könnte, und er weiß natürlich, dass sich Ergebnisse auch an anderen Stellen manipulieren lassen. Die Bürger, die dieses Manöver durchschauen, hat er ohnehin abgeschrieben. Den bildungsferneren Wähler auf dem Lande und in der Provinz will er damit erreichen.
Seit Mittelschicht und Intelligenzija demonstrieren, stilisiert sich der angezählte Premier bewusst als volksnaher Prolet. Zugegeben: Schwer fällt es ihm nicht. „Na pokasuchu“ nennen die Russen das: „So tun, als ob.“
Mann der Ausnahmen
Der junge Putin studierte in den 1970er Jahren in Sankt Petersburg Jura. Ehrfurcht vor dem Gesetz vermittelte das Studium dem KGB-Zögling indes nicht. Auch als Präsident blieb Putin ein Mann der Ausnahmen, nicht des festgesetzten Regelwerkes. Er stellte seine eigenen Regeln auf. Die Rolle des Rechts stärkte er in seiner Amtszeit nicht. Im Gegenteil, in der Ära Putin trieb der Rechtsnihilismus schlimmere Blüten als in der Umbruchzeit nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion.
Putin folgt der Faustregel: Recht und Gesetz gelten nur für die anderen, die nicht zu seinem Umkreis gehören. Sie werden wie der Ölmilliardär Michail Chodorkowski mit brutaler Härte verfolgt. Das entspricht nicht einmal dem Rechtsverständnis einer vormodernen oder feudalen Gesellschaft, sondern dem Kodex eines frühgesellschaftlichen Sippenverbandes.
Im Jahr 2000 trat der ehemalige Geheimdienstchef das Präsidialamt mit dem Versprechen an, der „Diktatur des Gesetzes“ zum Durchbruch zu verhelfen. Die Mehrheit der reformmüden Bürger war begeistert. Endlich kommt einer, der durchgreift und Ordnung schafft. Law-and-Order-Parolen standen hoch im Kurs. Ein Jahrzehnt später richten sich die gleichen Forderungen an den früheren Heilsbringer, der jetzt ins Stolpern gerät.
Putin stärkte zwar die Rolle des Staates und der Bürokratie, die in den 90er Jahren durch die Demokratiebewegungen geschwächt worden waren. Vorübergehend schuf er dadurch die Illusion von Stabilität. Da das Gesetz aber nicht für die Bürokratie gilt, übte die Beamtenschaft an der Gesellschaft für die Erniedrigung in den 90er Jahren rücksichtlos Revanche.
Traumatisches Erlebnis
Auch der KGB-Mann empfand diese Zeit als Schmach. Nicht zuletzt zog es den jungen Wolodja aus einer Leningrader Arbeiterfamilie zum Geheimdienst, weil er in den Kreis der Mächtigeren aufsteigen wollte. Der jähe Zusammenbruch des Kommunismus, den er als kleiner Agentur-Resident in Dresden erlebte, war für ihn ein traumatisches Erlebnis. Die Öffnung der UdSSR signalisierte das Ende eines kühnen Traums.
Putins „Diktatur“ hintertrieb die Herrschaft des Gesetzes. Der Allmächtige im Kreml eilte dem Volk auch nicht zur Hilfe. Das hätte seinem Wesen widersprochen, das Unparteilichkeit nicht zulässt. Die Bürokratie ist seine Klientel und Stütze. Kurzum: Stets stehen die „Seinen“ den „anderen“ gegenüber. Auch wenn sie wie Heuschrecken über das Volksvermögen herfielen – der Potentat im Kreml schwieg.
In dem Netzwerk aus Klientelismus sind Patronage und Loyalität zwei Seiten ein und derselben Medaille. Auch postkoloniale afrikanische Staaten leiden darunter. Wladimir Wladimirowitsch Putin führt sich unterdessen im eigenen Land auf wie ein Kolonialherr. „Von den Knien habe er Russland erhoben“, dem Land wieder internationale Geltung verschafft, betont Putin regelmäßig und erhofft sich dadurch Zustimmung.
Sein Verständnis vom Staat beschränkt sich auf dessen Wirkung nach außen, was Russland zum Verhängnis wird. Denn im Innern behindert die Bürokratie die Entwicklung eines modernen Staates. Am liebsten würde sie auch der Gesellschaft noch den Reifeprozess untersagen. Es sieht so aus, als begreife der angehende Kremlchef das nicht. Wie alle russischen Herrscher bleibt er auf die Großmachtrolle fixiert.
„Vertikale der Macht“
Zwar stellte er die Macht der Staatsapparate wieder her, die das Volk seit Jahrhunderten knebeln. Dem riesigen Heer von inkompetenten Staatsdienern brachte er aber nicht methodisches Arbeiten und Organisation bei. Er hielt es nicht für notwendig. Die „Vertikale der Macht“, ein weiteres Schlagwort, mit dem der Kreml anfangs Gestaltungswillen simulierte, versagte vor dieser Aufgabe. Die Vertikale funktioniert nur, wenn Illoyalität geahndet werden muss.
Der ehemalige DDR-Spion ist kein Visionär. Er ist ein Sowjetnostalgiker, vorsichtig und ängstlich, der sich scheut, Untergebene bei Fehlverhalten zu bestrafen. Argwohn spricht daraus, der Apparat könnte sich eines Tages rächen. Das Image vom energischen Herrscher und dessen unumschränkter Macht täuscht. Vorgänger Boris Jelzin war härter. Russlands erster Präsident kannte kein Pardon, unfähige Mitarbeiter zu entlassen.
Das passt nicht ganz zum Bild des jugendlichen Rüpels, als der Putin sich den Biografen darstellt. Ein Rowdy, hart an der Grenze zur Straffälligkeit, den die Hinterhöfe Leningrads prägten, nicht die Theater und Museen der Kulturmetropole. Ein Schläger, der keinem Streit ausweicht und vom Gegner erst lässt, wenn der sich nicht mehr rührt. Nur, wenn das Opfer nicht der eigenen Gang angehört, trifft es zu.
Schwierigen Situationen wich der Staatschef eher aus. Ob beim Untergang des Atom-U-Bootes Kursk im Jahr 2000, der Geiselnahme im Moskauer Musical-Theater Nord-Ost 2002 oder in einer Schule in Beslan 2004 – in Schicksalsstunden war er nie zur Stelle. Die Sozialisation des Hinterhofes verbietet das Eingeständnis von Schwäche. Schlampige Rettungsaktionen kosteten jedes Mal Hunderten von Menschen das Leben. Es ging auch nicht um sie. Die Fassade eines starken Staates musste gestützt werden. Nach den Desastern schlug regelmäßig die Stunde des Maulheldentums.
Aus Buchhaltern wurden Millionäre
Mitgefühl kennt Putin nur gegenüber der eigenen Entourage. Die Vertrauten schätzen seine Treue. Die Filetstücke des Staatsvermögens gingen im Laufe seiner Ägide an 170 Verwandte, Freunde, Arbeitskollegen, Trainer und KGB-Genossen über, die sich das Öl, das Gas, Bankenwesen und Finanzströme, die Rüstungsindustrie und alles andere teilen, was sonst noch Geld abwirft.
Keimzelle dieses Günstlingssystems war die Seilschaft der Datschen-Kooperative „Osero“ im Umland von Petersburg in der 1990er Jahren. Aus Buchhaltern machte der neue Kremlchef-Milliardäre und verteilte Staatsbesitz wie asiatische Despoten einst die Verfügungsgewalt über Bewässerungssysteme. Statt Krisengewinnlern und Oligarchen des Umbruchs auf die Finger zu schauen, wie er es versprochen hatte, schuf er eine eigene Plutokratenkaste.
Dabei ging auch „Michail Iwanowitsch“ nicht leer aus. „MI“ ist Putins Codename in unsauberen Finanztransaktionen, berichtete die russische Zeitschrift New Times. Abgezweigte Gelder aus Staatsgeschäften landen auf Konten, die Eigentumsrechte ohne Namen und Unterschrift gewähren. Bevorzugt in Liechtenstein, Zürich, Panama, den Virgin Islands und London.
Im Jahr 2001 fragte die taz: Wer ist Putin? Magier, Maus oder Monster? Die Antwort heute: je nachdem.
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