Russland nach der Wahl: "Ich warne vor Hysterie"
Außenpolitisch dürfte sich Putin künftig noch antiwestlicher geben, meint der Moskauer Ökonom Wladislaw Inosemzew. Für Russland bedeutet das Ergebnis Stagnation, meint er.
taz: Herr Inosemzew, hatten Sie mit 64 Prozent für Wladimir Putin gerechnet?
Wladislaw Inosemzew: Die Wahlen waren von Anfang an eine Fiktion, im Grunde nur eine Wiederholung der Dumawahlen vom Dezember. 64 Prozent sind in der gegenwärtigen Stimmung ziemlich viel. Allerdings hätte Wladimir Putin wohl auch in sauberen Wahlen 55 Prozent erzielt.
Was bedeutet das Ergebnis für die Zukunft Russlands?
Natürlich Stagnation. Von Modernisierung und Liberalisierung hält Putin nichts. Er zieht seine Linie in der Wirtschaftspolitik weiter durch, stärkt den Staatssektor und setzt auf den Haushalt als Spenderquelle.
Viele hatten nach den Demonstrationen erwartet, er würde sich als Putin 2.0 neu erfinden.
Wladimir Putin kann sich kein neues Image zulegen. Er ist 59 Jahre alt und hat dem Liberalismus nie etwas abgewinnen können, weil er in den 90er Jahren nicht dessen Nutznießer war. Er verlor sein Amt als stellvertretender Bürgermeister in Sankt Petersburg in freien Wahlen. Er bleibt als Vertreter der Sicherheitsstrukturen einer alten Ideologie verhaftet. Das wird sich demnächst auch wieder in der Außenpolitik zeigen, die deutlich antiamerikanischer und antiwestlicher ausfallen wird. Er dürfte auch den Kampf mit dem „Export von Demokratie“ aus dem Westen wiederaufnehmen.
Der 1968 geborene Ökonom ist Direktor des Forschungszentrums der postindustriellen Gesellschaft in Moskau, Professor für Ökonomie und Herausgeber der politikwissenschaftlichen Zeitschrift „Freier Gedanke“ sowie Mitglied der liberalen Partei „Gerechte Sache“.
Warum zieht er sich nicht zurück? Ist er in die Macht verliebt oder fürchtet er Repressionen eines Nachfolgers?
Putins Mentalität ist die eines Militärs. Sie ähnelt in gewisser Weise der des weißrussischen Präsidenten Lukaschenko. Die Welt zerfällt in Schwarz und Weiß, Gut und Böse – und Schluss. Er kann Fehler nicht eingestehen. Er versteht nicht, dass außer ihm noch andere Menschen das Zeug zum Präsidenten hätten. Er gehört zu dem Schlag Politiker, für die das aktive Leben erst im Mausoleum endet.
Angst hat er also nicht?
Ich glaube nicht, dass er wegen der Gerüchte über seinen Reichtum und der Korruptionsvorwürfe Angst vor Rache hat. Er ist schlau genug zu wissen, dass er diesen Reichtum offen nicht genießen kann. Materielles steht für ihn nicht im Vordergrund. Er genießt es aber, Freunden zum Wohlstand zu verhelfen.
Übersteht er die sechs Jahre oder wird er vorzeitig zurücktreten müssen?
Der Ölpreis ist hoch und wird in naher Zukunft auch nicht wesentlich sinken. Der Finanzhaushalt ist noch solide. Von dieser Seite drohen ihm keine unangenehmen Überraschungen. Die Opposition hat noch keine festen Strukturen und anerkannten Führer. Bei den farbigen Revolutionen in Georgien und der Ukraine standen erfahrene Politiker an der Spitze. Bei uns ist das nicht der Fall. Putin übersteht die Amtszeit und wird seine Rolle zunächst stärken können.
Die außerparlamentarisch Opposition verliert an Bedeutung?
Sie muss feste politische Strukturen aufbauen und die eigene Basis konsolidieren, bevor die Protestwelle abebbt. Auf die oppositionellen Forderungen nach Annullierung der Dumawahlen wird Putin nicht eingehen. Er ist kein Mann der Kompromisse. Dennoch vermute ich eine Liberalisierung der Parteiengesetze und eine Zwischenlösung bei der Wahl von Gouverneuren. Auch die Freiheit des Internets wird niemand antasten.
Bei der Wahl schnitt der Neuling und Milliardär Michail Prochorow auf Anhieb erstaunlich gut ab. Ist er Russlands nächster Präsident?
Ja, er hat ein klares Programm und ist mit dem System vertraut. Es wird behauptet, er sei nur eine Marionette des Kreml. Ich weiß es nicht, halte das aber nicht für entscheidend. Prochorow sollte sein Projekt einer liberalen Partei jetzt umsetzen. Sie könnte zu einem Kristallisationspunkt der heterogenen Opposition werden.
Doch erst mal läuft in Russland alles weiter wie bisher …
Ich warne vor Hysterie. Mit Reformen kann man jederzeit beginnen.
… aber die Menschen laufen davon …
Emigration wird zunehmen, zweifelsohne. Für die politische Elite stellt das aber kein Risiko dar. Im Gegenteil: Je mehr talentierte Menschen das Land verlassen, desto sicherer sitzt sie im Sattel. Je dümmer die Untergebenen, desto besser ist es für den Vorgesetzten.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Prozess zu Polizeigewalt in Dortmund
Freisprüche für die Polizei im Fall Mouhamed Dramé
Ex-Wirtschaftsweiser Peter Bofinger
„Das deutsche Geschäftsmodell funktioniert nicht mehr“
Leben ohne Smartphone und Computer
Recht auf analoge Teilhabe
Armut in Deutschland
Wohnen wird zum Luxus
Ex-Mitglied über Strukturen des BSW
„Man hat zu gehorchen“
Studie Paritätischer Wohlfahrtsverband
Wohnst du noch oder verarmst du schon?