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Wahl in Bulgarien18 Euro für ein Kind

Bulgarien ist das ärmste Land in der EU. In einem Kloster nahe der Hauptstadt Sofia finden Menschen Zuflucht, die sonst nirgends Hilfe zu erwarten haben.

„Ich würde mir wünschen, dass der Staat mehr tut für Kinder und Arbeitslose“: Radosweta Brynkova mit ihrem Sohn Hritos. Bild: Christian Muhrbeck

NOVI HAN taz| Es ist schwer zu sagen, wer im Innenhof des kleinen Klosters in Novi Han lauter gackert: Die drei Dutzend Hühner, die sich in einer Ecke neben der steinernen Kirche über ihr Futter hermachen? Oder die fast ebenso vielen Kleinkinder, die mit Puppenwagen und Plüschgetier aller Art vor den weißen, einstöckigen, mit Holz verkleideten Wohntrakten entlang sausen?

Das Kloster in Novi Han, einem kleinen Ort rund 15 Kilometer von der bulgarischen Hauptstadt Sofia entfernt, ist kein gewöhnliches Stift. Seit 25 Jahren betreibt der landesweit bekannte Pope Ioan hier das Waisenhaus „Heiliger Nikolai“. Die meisten, die bei dem Geistlichen Zuflucht suchen, sind alleinerziehende Mütter und ihre Kinder, aufgegeben von ihren Familien und von der Gesellschaft.

Viele Bewohner von Novi Han aber betrachten das Projekt mit Argwohn - wohl auch, weil ein Teil von Pope Ioans Schützlingen Roma sind. Und die lehnt ein Großteil der bulgarischen Bevölkerung ab. Deswegen sind früher immer mal wieder Proteste aufgeflackert; die Nachbarn wollten die Schließung des Heimes erzwingen. Zumindest der offene Widerstand ist jedoch seit etwa einem Jahr verstummt.

Chancen für Borissow

Am Sonntag finden in Bulgarien vorgezogene Parlamentswahlen statt. Insgesamt 38 Parteien und 7 Bündnisse, in denen sich 25 Parteien zusammengeschlossen haben, bewerben sich um die 240 Mandate.

209 Sitze werden über Listen vergeben, 31 als Direktmandate in Wahlkreisen. Chancen, die Vierprozenthürde zu überwinden und ins Parlament einzuziehen, haben fünf Parteien: Die rechtsliberale Partei "Bürger für eine europäische Entwicklung Bulgariens" des im Februar zurückgetretenen Regierungschefs Bojko Borissow. Ihr werden 31 Prozent vorhergesagt.

Die Sozialistische Partei (BSP) könnte auf 28 Prozent der Stimmen kommen. Die "Bewegung für Rechte und Freiheiten" (DPS), die vor allem die türkische Minderheit vertritt, wird bei 8,7 Prozent gehandelt, mit 6,4 Prozent dicht gefolgt von der nationalistischen Gruppierung Ataka.

Die Bulgarische Bürgerbewegung der ehemaligen EU-Kommissarin Meglena Kunewa liegt derzeit bei 4,9 Prozent.

Heute hat das Kloster speziellen Besuch. Eine kleine Abordnung des Sofioter Puppentheaters ist angereist, um Szenen aus seinem neuen Programm vorzuführen. Es ist ein nachträgliches Geschenk zu Ostern, das die Bulgaren am vergangenen Wochenende gefeiert haben.

Zwei Frauen decken ein aus Holzbrettern gezimmertes Podest mit weißen Tüchern ab. Dann schlüpfen sie in wallende, lindgrüne Gewänder, ziehen Tierpuppen über ihre rechte Hand und beginnen zu tanzen.

Aus sicherer Entfernung, gestützt auf einen Stock, beobachtet Ljubomir Ralschew das Geschehen. Der 81-Jährige mit Stoffhut und Brille hat 40 Jahre als Puppenspieler gearbeitet, noch immer organisiert er Aufführungen. „Das Puppentheater erzieht die Kinder, damit sie bessere Menschen werden“, sagt er. „Es bereitet sie darauf vor, würdige Bürger Bulgariens zu sein.“

Die Spenden gehen zurück

Die künftigen würdigen Bürger Bulgariens quittieren das Schauspiel auf der Bühne mit Jauchzen und Klatschen. Als eine der beiden Künstlerinnen am Ende auch noch kleine Osterhasen aus Teig an die Kinder verteilt, steigt die Begeisterung weiter.

Galia Lukanowa hält auch diesen Moment mit einer kleinen Digitalkamera fest. Die 55-jährige gelernte Hebamme mit Pferdeschwanz und einer beeindruckenden Körperfülle ist hier die Herrin im Haus - vor allem an Tagen wie diesem, wenn Vater Ioan nicht da ist. Derzeit leben 80 Personen aus allen Teilen des Landes in dem Kloster, sagt sie. Auf einem kleinen Landwirtschaftsbetrieb in der Nähe haben zudem 50 Menschen dank Vater Ioan ein neues Zuhause gefunden, und weitere 100 in dem Dorf Jakimowo, etwa 180 Kilometer entfernt .

35 Lewa monatlich ist dem Staat ein Kind wert, umgerechnet knapp 18 Euro. Bis Ende des ersten Lebensjahres werden immerhin 100 Lewa gezahlt. Andere Einkünfte haben Ioans Schützlinge nicht. „Vom Staat bekommen wir überhaupt keine Unterstützung“, sagt Galia Lukanowa.

Alles, was Ioan und sie zu verteilen haben, bringen Privatleute vorbei. Mal ein wenig Geld, Holz, Lebensmittel oder gebrauchte Kleidung. Zu Feiertagen wird in der Regel mehr gespendet. „Aber in diesem Jahr zu Ostern haben wir zum ersten Mal nur Kleidung bekommen“, sagt Lukanowa. Wenn das so bleibt, wird es schwierig, das Anwesen auszubauen. „Und das wollen wir unbedingt, denn jetzt haben wir keinen freien Platz mehr und noch viele brauchen Hilfe.“

Dass die Spendenbereitschaft abnimmt, verwundert nicht. Viele Menschen kommen selbst kaum über die Runden. Mehr als sechs Jahre nach dem Beitritt zur Europäischen Union ist Bulgarien mit seinen 7,5 Millionen Einwohnern immer noch der ärmste Mitgliedsstaat. Das Durchschnittsgehalt liegt bei 350 Euro im Monat, die Arbeitslosigkeit offiziell bei 12,6 Prozent.

49 Prozent sind von akuter Armut bedroht

Laut eines Berichtes der EU-Kommission vom März dieses Jahres haben 44 Prozent der Bevölkerung ernsthafte Probleme, ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. 49 Prozent sind von akuter Armut bedroht, darunter vor allem Kinder und Rentner.

Anfang des Jahres gingen Tausende wegen astronomisch hoher Strompreise auf die Straße. Sechs Menschen setzten sich selbst in Flammen und starben an ihren Verbrennungen.

Unter dem Druck der Proteste trat die Regierung des rechtsliberalen Politikers Bojko Borissow im Februar zurück. Am Sonntag wird sich bei den vorgezogenen Parlamentswahlen entscheiden, ob die Wähler ihm noch eine zweite Chance geben. Oder ob sie der Tradition treu bleiben, jede Regierung nach einer Amtszeit in die Opposition zu schicken.

In einem Winkel des Klosterhofes lässt sich ein Mann auf einer wackeligen Bank nieder. Er heiße Emilian sagt er, sein Nachname tue nichts zur Sache. Emilian ist hager, hat grau meliertes kurz geschnittenes Haar, einen Vollbart und einen wachen Blick. Er trägt ein weiß-rotes T-Shirt, eine ausgebeulte Hose und Badelatschen. Seit fünfeinhalb Jahren lebt der 63-Jährige bei Vater Ioan. Vor kurzem, so betont er, hat er das Kloster sogar als seinen offiziellen Wohnsitz gemeldet.

Emilian hat lange Jahre gearbeitet, mal als Krankenpfleger und mal als Pfarrer. Wenn es sein musste, und so war es oft, hat er auch Straßen gereinigt. Jetzt bekommt er umgerechnet 90 Euro Rente im Monat. Dass sich Menschen in Bulgarien verbrennen, überrascht ihn nicht. „Als ich Pfarrer war, haben sie mir mehr als ein Mal Wasser, Strom und die Heizung abgestellt, weil ich kein Geld hatte, um das alles zu bezahlen“, sagt er. Dann zeigt er seinen linken Unterarm mit mehreren großen Narben. „Auch ich habe so etwas schon mal versucht, aber mich hat Gott gerettet.“

Zigaretten aus alten Resten

Als ein Mädchen vorbeikommt, bittet er es, ihm aus seinem Zimmer eine Zigarette zu holen. Die sieht aus wie ein überdimensionaler Joint. Emilian lächelt. „Abends gehe ich manchmal in den Ort und sammele vor den Bars die Kippen ein“, sagt er. „Aus den Tabakresten bastele ich mir dann eine Zigarette.“

Im Speisesaal des Kloster hängen bulgarische Volkstrachten an der Wand, in der Ecke steht eine alte Singer-Nähmaschine. Drei junge Frauen decken die Tische. Es gibt Weißbrot, Kosunak - ein spezielles Ostergebäck - bunt gefärbte Eier, Salat, Schafskäse und knallgelbe Limonade.

Mit am Tisch sitzt auch Radosweta Brynkova, auf dem Schoß kauert ihr anderthalbjähriger Sohn Hristos. Sie hat dunkles Haar, trägt einen verwaschenen Pullover und eine helle Hose, bei der einige Nähte aufgeplatzt sind. Radosweata ist 32 Jahre alt, stammt aus der Stadt Burgas an der Schwarzmeerküste und lebt seit anderthalb Jahren bei Ioan.

Von Freunden und Verwandten hat sie keine Hilfe zu erwarten. Ihr Bruder nahm sich vor acht Jahren das Leben, ihre Mutter ist Alkoholikerin und in einem Heim untergebracht. Der Kindsvater ist abgetaucht.

Keine Chance für so eine wie sie

Radosweta trägt ihren Sohn in ihr Zimmer im ersten Stock. Das ist zehn Quadratmeter groß, es gibt Platz für zwei Betten, einen Stuhl und einen Schrank. Auf den Boden verstreut liegen Spielsachen, an den unverputzten Wänden kriecht schwarzer Schimmel hoch. „Vater Ioan will jetzt versuchen, für mich eine Invalidenrente zu beantragen, denn ich bin manisch-depressiv Wenn das klappt, habe ich wenigstens ein wenig Geld für mich“, sagt Radosweta.

Eigentlich würde sie aber am liebsten arbeiten, und zwar mit Kindern. Aber warum sollte eine wie sie die Chance bekommen, eine Ausbildung zu machen? „Ich würde mir wünschen, dass der Staat mehr tut für Kinder und Arbeitslose“, sagt sie, „aber dass das passiert, daran glaube ich nicht.“

Emilian sitzt immer noch auf der Bank und genießt die Frühlingssonne. Er ist zufrieden, sagt er. Denn er hat ein Zimmer mit einem kleinen Fernseher, Licht und einen Heizkörper, der funktioniert. Er bekommt Kleidung und regelmässig etwas zu essen. „Was will ich mehr?“, fragt er und hält kurz inne. „Früher, da habe ich gelebt wie ein Stück Vieh. Aber hier, hier kann ich endlich ein Leben in Würde führen.“

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