Waffengewalt in den USA: Kein Platz für Superheldenträume
Fast jede Nacht gibt es in Chicagos South Side Schießereien. Zurück bleiben junge Mütter – mit ihren Kindern, ohne Perspektive.
CHICAGO taz | An der Ecke Garfield Boulevard und Ashland Avenue in Chicago werden Superheldenburger verkauft. Die Fastfood-Kette White Castle klebt Spiderman auf Kartons und verkauft darin 30 ihrer Hamburger. 69 Cent für ein Brötchen mit Pressfleisch und Gurke. Im Superheldenkarton wird es billiger, 20 Dollar für 30 Miniburger und einen Rabattgutschein für die Spiderman-DVD. Aber so viel Geld hat hier kaum jemand für ein Essen – oder für eine DVD.
An der mehrspurigen Kreuzung im Süden der Millionenstadt grenzen die Viertel Englewood und Back of the Yards aneinander, Kinofilme werden als wackelig abgefilmte Raubkopien für 50 Cent aus einer Plastiktüte heraus verkauft. In der South Side ist kein Platz für Superheldenträume, Träume sterben auf der Straße.
Fast jede Nacht gibt es Schießereien zwischen Gangs, Waffen sind alltäglich wie Hamburger. Die Mordrate ist hoch, in kaum einer amerikanischen Großstadt sterben im Verhältnis so viele Menschen durch Waffen. Zurück bleiben junge Mädchen mit ihren Kindern.
Zwei Straßen von der Fastfood-Filiale entfernt kleben auf dem Bürgersteig noch Reste von Blut. In der Nacht ist Jeremiah vor dem Haus einer Verwandten gestorben, 18 Jahre alt, Spitzname Manman. Sechs Kugeln haben ihn getroffen, er starb auf der Straße. Jeremiahs Fall ist in den Nachrichten nicht mehr als eine Kurzmeldung. Man ist müde geworden bei all den Toten. Aber die Nächte schaffen es noch in die Zeitungen, ihre Geschichten werden jenseits der South Side erzählt. Weil sie dramatisch sind, grausam, tödlich.
Wo sind die Väter?
Die Opfer, die nicht auf der Straße sterben, tauchen in den Nachrichten nicht auf. Ihre Geschichten erzählt der Tag. Taya sitzt auf einer blauen Plastikbank unter einem Sonnenschirm, Ecke Garfield und Ashland, im Rücken das Spiderman-Plakat. Um sie herum fliegen nur Wespen, hektisch schlägt sie nach ihnen, kreischt kindlich und rennt zu einer anderen Bank. Die Wespen bleiben, Taya auch.
Mit der Serie „Die Macht der Waffen“ begibt sich die taz auf die Suche nach den Ursachen für Waffengewalt in den USA. Die Recherchen wurden gefördert durch ein Stipendium der Internationalen Journalisten Programme e. V.. Nächster Teil am 21. November.http://www.taz.de/waffen
Einen Job hat die 25-Jährige nicht. Eine Ausbildung auch nicht, nachdem sie die Schule wegen ihrer Tochter Faith geschmissen hat. Faith ist jetzt neun Jahre alt. Schwanger mit 15, alleinerziehende Mutter mit 16. Drei Jahre später ist Taya wieder schwanger. Heaven wird geboren, auch ihr Vater verschwindet aus Tayas Leben. Wo genau die Väter sind, weiß Taya nicht. „Die hängen mit ihren Jungs ab.“ Mit der Gang. Unterstützung will sie von ihnen nicht. Das würde nur bedeuten, dass die Gewalt näher kommt. So hilft ihre Mutter, damit Taya zur Schule gehen kann. Sie möchte Sprechstundenhilfe werden. Wenn sie es schafft. Ob sie etwas anders gemacht hätte? „Vielleicht, vielleicht nicht.“ Eine Wespe nähert sich Tayas pinkfarbener Haarsträhne. Sie springt auf und läuft davon.
412 Menschen wurden im vergangen Jahr in Chicago getötet, zumeist durch Waffen. Das macht die Stadt mit 2,7 Millionen Einwohnern zu einer der gefährlichsten Städte im Land. Auch Taya ist Teil einer Statistik, die in der Stadt schlimmer ist als im Rest des Landes. Es sterben nicht nur überproportional viele junge Männer, es gibt auch weit mehr Teenager, die schwanger werden, als im nationale Schnitt.
Fast alle Mütter sind Afroamerikanerinnen wie Taya oder haben hispanische Wurzeln. Für viele bleibt es nicht das einzige Kind. „Ein Drittel der Mädchen werden erneut schwanger, wenn sie noch sehr jung sind“, sagt Laura Zumdahl von „New Moms“. Die Organisation kümmert sich um junge Mütter, die von Armut betroffen sind. „Alle Mütter, mit denen wir arbeiten, sind von Gewalt betroffen“, sagt Zumdahl.
Im Gefängnis, tot oder in Gangs
Neben Hausbesuchen und einem Jobtraining hat die gemeinnützige Organisation 40 kleine Wohnungen für junge Mütter mit ein oder zwei Kindern auf ihrem Gelände in Austin, einem der tödlichsten Viertel in der West Side. Als sie letztes Jahr öffneten, hatten sie 2.500 Bewerbungen für die Apartments. In allen gilt ein striktes Besuchsverbot. „Das hier soll ein sicherer Ort sein, ohne Gewalt und Waffen“, sagt Zumdahl. Alle Mädchen seien traumatisiert. Drei Viertel der Mütter, die sich an New Moms wenden, wurden sexuell missbraucht. So gut wie alle 500 Frauen, die die Organisation jedes Jahr betreut, haben Waffengewalt erlebt. Es ist ihr Alltag. Beziehungen haben die wenigsten. Die Väter der Kinder sind im Gefängnis, tot oder in Gangs aktiv.
„Gewalt und Armut sind extrem eng miteinander verknüpft“, sagt Zumdahl. „Das hat einen erheblichen Einfluss auf die Mädchen.“ Aus diesem Kreis auszubrechen sei schwer und ohne Intervention eigentlich nicht zu bewältigen. Die von New Moms betreuten Mütter werden nur in 4 Prozent aller Fälle erneut schwanger. Eine Chance, den Kreis zu durchbrechen.
Jasmine hat das geschafft, sie hat „einen guten Platz im Leben gefunden“, wie sie es selbst sagt. Die Haare streng nach hinten gebunden steht die 21-Jährige an ihrem Platz in einer Kerzenfabrik, die von New Moms betrieben wird. Hier absolvieren alle Mütter ein Jobtraining, um anschließend im besten Fall eine Arbeit zu finden. Jasmine ist zurückgekehrt und arbeitet fest als Produktionsassistentin. Ihr Sohn Zion ist fünf Jahre alt. Als er vergangenes Jahr im Vorgarten spielte, wurde auf der anderen Straßenseite ein Schulfreund von Jasmine erschossen.
Aus Angst zog Jasmine mit dem Vater von Zion in einen Vorort. Er ist noch da, im September haben sie geheiratet. Alltag, Struktur – all das habe sie bei New Moms gelernt, sagt Jasmine. „Aber es war so verdammt hart.“ Sie verdient 9 Dollar die Stunde. Das erste Mal in ihrem Leben bekommt sie keine Unterstützung vom Staat. Sie lächelt, als sie das sagt.
Aus dem Vorort ist sie nach Chicago zurückgekommen, nicht nach Austin, sondern näher zu Zions Großeltern. „Seit wir dort sind, habe ich noch keine Schüsse gehört“, sagt Jasmine und klopft schnell auf den Holztisch. Sie wohnen schon einen Monat dort.
Ein perfekter Tag? Sicher sein
Jasmines Geschichte bleibt die Ausnahme. Wenn La Passion nachdenkt, wie ein perfekter Tag für sie aussieht, fällt ihr nur eins ein: „Sicher sein. Und dass niemand stirbt oder verhaftet wird.“ Sie hat ihren Platz nicht in einem Mindestlohnjob oder einem sicheren Viertel gefunden. Ihre Wohnung liegt im ersten Stock eines Holzhauses in East Garfield Park, einem Gangviertel.
Die Eingangstür ist dennoch nie verschlossen. An einigen Stufen schimmert die hellblaue Farbe des abgewetzten Teppichs durch, dort, wo kein Müll, kaputtes Spielzeug oder eine schlafende Katze liegt. Schon am Treppenabsatz ist der Fernseher zu hören, in der Wohnung muss man gegen ihn anschreien. Irgendwann wird er leiser gedreht. Es läuft „Jepoardy“, die Quizshow. Niemand schaut hin.
La Passion wohnt hier mit ihrer Familie: ihren fünf Kindern, ihren zwei Schwestern, ihren sechs Nichten und ihrer Mutter. 15 Menschen in einer Vierzimmerwohnung. Aber eigentlich sind sowieso alle immer im Wohnzimmer. Rausgehen und spielen können die Kinder nur im Vorgarten. Die nächste Straßenecke wird von einer Clique kontrolliert. Die afroamerikanischen Gangs sind nicht mehr hierarchisch strukturiert wie früher, das Drogengeschäft ist härter geworden, straff organisierte Latino-Gangs kontrollieren viele Viertel von Mexiko aus. Immer mehr wird um einzelne Straßenzüge gekämpft.
La Passion ist 33 Jahre alt, ihr ältester Sohn ist 18, er wohnt nicht mehr zu Hause. Von ihren vier Brüdern wurde einer erschossen, ein anderer saß 18 Monate wegen bewaffneten Raubüberfalls im Gefängnis. Die Väter der Kinder? La Passion weiß das nicht so genau. „Ich brauch keinen Mann“, sagt sie selbstbewusst. Es sei zu schwer, jemanden zu finden, der respektvoll ist. Der nicht gewalttätig ist und in einer Gang.
Dieser Freund wird bleiben
La Passions kleine Schwester Quiana hofft noch auf die große Liebe. Sie ist 31 und hat sechs Kinder, das siebte ist auf dem Weg. Dieser Freund wird bleiben, belügt sie alle, die sie nach ihm fragen – und sich selbst. Sie hat keinen Schulabschluss und keine Ausbildung. Krankenschwester oder Altenpflegerin soll sie einmal lernen, aber nun ist sie wieder schwanger. „Welfare-Moms“ werden Frauen wie Quiana genannt, „Sozialhilfemütter“. Denn viele Kinder bringen viele Regierungsschecks, etwas, wovon es sich leben lässt.
Doch die Zahlen sprechen gegen das Sanierungskonzept Mutter: Ein Drittel aller Haushalte in den USA, in denen Mütter mit ihren Kindern allein leben, liegt unterhalb der Armutsgrenze. La Passion und Quiana sind selbst mit fünf Geschwistern aufgewachsen, ohne Vater. Chicago haben sie noch nie verlassen.
Wie viel Geld die Familie zum Leben hat, wissen sie nicht. Keiner der Väter zahlt für die Kinder. La Passion hat gerade einen Job in einer Bäckerei gefunden. Dazu kommen Essensmarken, Sozialhilfe, Wohnungsgeld. Mutter Connie zuckt die Schultern. Es reicht nie. Neben der Couch und dem Fernseher gibt es kaum Möbel. Eine Matratze liegt im Flur. Im Fernsehen wirbt ein Moderator für Fliesen. La Passion träumt von ihrem eigenen Restaurant, sie sieht es vor sich, will dafür sparen. Doch von der Bäckereiverkäuferin zum eigenen Betrieb – so eine Geschichte erzählt Amerika nicht mehr.
Es ist ein schöner Tag, die Geschwister wollen mit den Kindern rausgehen, bevor die Nacht die Geschichten der Stadt wieder dominiert. Noch ist es hell, noch ist es sicher. Bis zum Ende der Straße.
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