WM-Boykott im Stresstest: Es sind doch nur neunzig Minuten!
Der Fußball kämpft sich zurück in die Wohnzimmer des Landes. Seine politische Kraft kann die politische Kritik in die Knie zwingen.
K ann sein, dass ich mich täusche, aber wenn ich mich so in meinem Sprengel umgucke, dann habe ich den Eindruck, dass die Bereitschaft, diese WM aus politischen Gründen nicht zu gucken, ähnlich erodiert wie etwa der Pazifismus.
Der Cartoonist Til Mette hat jüngst eine ähnliche Beobachtung hinreißend gezeichnet. Eine Frau sagt zu einem Mann, der zum Fernseher möchte: „Aber nur 90 Minuten, dann wird wieder boykottiert.“ Auch die Comedian Carolin Kebekus hat einen Sketch inszeniert, wo sich Freunde zum Boykottdinner treffen, um dann doch immer wieder auf den Balkon zu verschwinden, wo sie per Handy die Resultate abfragen.
Das ist wohl die Macht des Fußballs, die offensichtlich mehr Einfluss hat, als sich so mancher vorab eingestanden hat. Ein Leben ohne Viererketten, Dribblings, Kopfballduelle im Strafraum oder Diskussionen über Abseits ist möglich. Und vermutlich (so ganz sicher bin ich mir nicht) ist ein solches Leben noch nicht einmal sinnlos, um auf die Schnelle eine Variation von Loriots Mops-Gag zu ruinieren.
Es könnte sogar sein, dass die nächstmögliche Antwort, dass nämlich ein Leben ohne Fußball immerhin keinen Spaß machte, auch falsch ist. Tatsächlich gibt es ja außer Männerprofinationalmannschaftsfußball noch mehr nette Sachen auf der Welt. Sogar mir fallen ein paar ein.
Was ist dran am Fußball?
Aber wir sollten schon zugeben, dass von allen Angeboten, die die Freizeitindustrie für uns bereithält, der Sport, genauer: der Fußball und noch genauer: sogar das mit Milliardensummen aufgeblähte Männerprofibusiness eine Attraktivität aufweist, an die weder Restaurantbesuche, Kinoabende, private Partys, Konzerte, ja, noch nicht einmal ein Alice-Schwarzer-Abend in der ARD heranreichen.
Irgendwas ist dran am Fußball. Er entfaltet eine politische Macht, die partiell sogar gute politische Kritik in die Knie zu zwingen vermag.
Dabei kommen die Begründungen für den aufgegebenen Boykott ganz unpolitisch daher: „nur mal das Ergebnis gucken“, „ganz kurz ins Spiel reinzappen“, „ich will doch bloß die Schlussphase sehen“. Das klingt wie Suchtverhalten, aber mir scheint, dass es das nicht ist. Mir kommt es vor, als ließe die begründete Ahnung, man könne etwas Wichtiges verpassen, so manchen in meinem Sprengel vom Boykott Abstand nehmen. Aber natürlich kann es sein, dass ich mich irre.
40.000 mal Danke!
40.000 Menschen beteiligen sich bei taz zahl ich – weil unabhängiger, kritischer Journalismus in diesen Zeiten gebraucht wird. Weil es die taz braucht. Dafür möchten wir uns herzlich bedanken! Ihre Solidarität sorgt dafür, dass taz.de für alle frei zugänglich bleibt. Denn wir verstehen Journalismus nicht nur als Ware, sondern als öffentliches Gut. Was uns besonders macht? Sie, unsere Leser*innen. Sie wissen: Zahlen muss niemand, aber guter Journalismus hat seinen Preis. Und immer mehr machen mit und entscheiden sich für eine freiwillige Unterstützung der taz! Dieser Schub trägt uns gemeinsam in die Zukunft. Wir suchen auch weiterhin Unterstützung: suchen wir auch weiterhin Ihre Unterstützung. Setzen auch Sie jetzt ein Zeichen für kritischen Journalismus – schon mit 5 Euro im Monat! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Macrons Krisengipfel
Und Trump lacht sich eins
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
USA und Russland besetzen ihre Botschaften wieder regulär
Maßnahmenkatalog vor der Bundestagswahl
Grünen-Spitze will „Bildungswende“
Frieden in der Ukraine
Europa ist falsch aufgestellt
Die Neuen in der Linkspartei
Jung, links und entschlossen
Gentrifizierung in Großstädten
Meckern auf hohem Niveau