WM-Bilanz von Volker Finke: "Jeder Erfolg ist lebensgefährlich"
Der Fußballtrainer Volker Finke über die Zukunft des deutschen Teams, den Untergang der Starfußballer, den Triumph des flachhierarchischen Teamfußballs und die Zyklen einer Mannschaft.
taz: Herr Finke, was ist für Sie das Beste an dieser WM?
Volker Finke: Eine WM ist ja immer ein Gradmesser für den Fußball. Es wäre schade gewesen, wenn sich die Tendenz der Vorrunde erhärtet hätte, dass es wieder mehr auf Ergebnisfußball rausläuft. Für den Fußball ist es sehr gut, dass unter die letzten vier dieser WM drei Mannschaften gekommen sind, die Tore herauskombinieren, die viele individuelle Fähigkeiten auf dem Platz einbringen und die nicht nur hoffen, dass ihre zwei, drei Superstars in Form sind.
Die deutsche Mannschaft war dann im Halbfinale gegen Spanien nicht gut genug, um Tore herauszukombinieren - oder waren die Spanier zu stark?
Sie haben es mental nicht hingekriegt und den Spaniern die Möglichkeit gegeben, sich in die beste Form des Turniers zu spielen. Schweinsteiger war sehr gut, aber ein paar junge Spieler eben nicht. Statt etwas zu riskieren, versuchten sie, möglichst keine Fehler zu machen. Das kann passieren und ist nicht untypisch für eine junge Mannschaft, dass nach zwei berauschenden Siegen der Kopf anfängt zu arbeiten. Und Spanien war durch den Wechsel Pedro für Torres vorne wieder kombinationssicher wie in den besten Tagen.
Eine Erwartung ist, dass die deutsche Mannschaft ihre beste Zeit noch vor sich hat.
Es gibt Zyklen von Mannschaften. So wie die französische einen Zyklus hatte, sage ich, dass die deutsche im Grunde 2006 einen Zyklus angefangen hat, mit Schweinsteiger, Podolski, Mertesacker. Die Mannschaft scheint jetzt noch in der Phase eines Zyklus zu sein, die nach oben führt.
Kann man ein Nationalteam überhaupt über Jahre zu einem Titel hin aufbauen?
Volker Finke ist 62 und Fußball- und Gymnasiallehrer. Als Trainer des SC Freiburg von 1991 bis 2007 brachte er das flachhierarchische Kurzpassspiel in die Bundesliga. Seit März 2009 trainiert er die Urawa Red Diamonds in der ersten Liga Japans. Die WM erlebte er im Trainingslager in Österreich und zu Hause in Tokio am Fernseher.
Man kann Leitplanken aufstellen, dass man auf hohem Niveau sein kann. Dafür muss man offen sein, darf keine Garantien geben und nicht denken, dass jemand, der jetzt 22 ist, in vier Jahren auf dem Höhepunkt sein wird. Das kann sein, muss aber nicht. Die Spieler verändern sich jeden Tag. Generell ist jeder Erfolg lebensgefährlich. Das hat man jetzt wieder bei Italien und Frankreich gesehen. Da war kein Wettbewerb mehr.
Aber Müller und Özil sind außergewöhnliche Fußballer.
Die Leitplanken müssen so aufgestellt sein, dass auch andere auftauchen können, genauso wie jetzt Müller und Özil aufgetaucht sind. Man muss den Mut haben, richtig gute Spieler zu kitzeln, dass es bei ihnen wieder prickelt, oder sie zu ersetzen durch Spieler, die noch viel hungriger sind. Aber das ist unglaublich schwierig. Man kann einen Zyklus nicht komplett verhindern.
Sind wir also nicht der kommende Weltmeister 2014?
Das habe ich eben beantwortet: Wir sind es nicht, weil es dafür zu viele Unwägbarkeiten und Gefährdungen gibt.
Nach der EM hat der Heldenfußballer nun auch die WM nicht dominiert - auch, weil die Entfaltung seiner individuellen Qualitäten nicht befördert wurde?
Das trifft aus meiner Sicht für Lionel Messi zu. Wie Argentinien über den Platz arbeitete, hat dazu geführt, dass er im Spiel gegen Deutschland anfing, sich von hinten die Bälle zu holen - und dann verliert auch Messi an Wertigkeit. Die Argentinier und manchmal auch die Brasilianer spielen immer noch mit Aufgabentrennung. Die einen sind für die Defensive zuständig, der andere fürs Toreschießen, der dritte fürs Spielen der entscheidenden Pässe. Im modernen Fußball ist es nun mal so, dass neun Spieler hinter dem Ball verteidigen. Bei den Argentiniern dagegen haben die Offensivspieler mit einer gnadenlosen Arroganz keinerlei Defensivarbeit mitgemacht. Diese WM hat deutlich gemacht, dass es für Teams mit so einem Fußballverständnis nicht mehr reicht.
Was sagt uns das?
Dass die Fokussierung auf diese Superstars medienmäßig interessant und marketingmäßig ganz wichtig ist; dass aber auf dem Platz einzelne Spieler weniger reißen können, als man denkt. Dass eine Mannschaft wie die deutsche viel erreichen kann, wenn einzelne Fähigkeiten sich ergänzen und alle daran arbeiten, eine Idee umzusetzen. Özil hat andere Fähigkeiten als Schweinsteiger, Müller, Klose oder Podolski. Diese Mischung macht es auch bei Spanien aus. Ein Problem der Spanier war, dass Torres nach vielen Verletzungen nicht in Topform kam. Das ist eine weitere Erkenntnis dieser WM. Es ist ein Problem, zu lange auf verletzte Spieler zu warten.
Sie meinen Wayne Rooney?
Rooney ist einer der besten Offensivspieler im Weltfußball, er hatte eine unglaublich gute Saison bis zu seiner Verletzung, alle haben auf ihn gewartet. Aber wenn dann so ein Spieler gesundgemeldet wird, dann ist er eben doch erst bei 80, 85 Prozent. Der internationale Fußball ist so hochklassig, dass du selbst als Weltstar mit 85 Prozent nicht mehr auf den Platz zu gehen brauchst. Auch Cristiano Ronaldo und Kaká hatten Verletzungsprobleme. Drogba musste sogar mit Gips auf den Platz. Man stelle sich vor, die Deutschen hätten auf Ballack gewartet - nach dem Motto: Hauptsache, dabei -, da kriegt der Gegner es schon mit der Angst. Aber ein Weltstar, der nicht topfit ist, kann niemandem Angst machen.
Robben kam auch verletzt zur WM.
Die Niederländer haben eine Hierarchie, die nicht nur auf ein, zwei, drei Spieler basiert. Die sind längst nicht nur auf Snijder oder Robben ausgerichtet. Da werden von vielen Positionen Beiträge gebracht, die wichtig sind.
Die flache Hierarchie ist besser - ist das nach der EM auch die Erkenntnis der WM?
Leadertypen-Modelle haben auch ihre Vorteile - für eine bestimmte Zeit. Aber die flache Hierarchie, eine gewisse Grundordnung zu halten, aus der heraus alle individuellen Besonderheiten sich ergänzen, ist die Idealvorstellung von Mannschaften. Flache Hierarchien geben die Chance, dass mehr Spieler nicht nur ihre Talente einbringen können, sondern auch, dass sich viel mehr Spieler verantwortlich fühlen können für das Ganze. Das erleben wir jetzt bei der deutschen Mannschaft. Und das sieht bei Spanien und den Niederlanden ähnlich aus.
Jeder ist sein eigener Star?
Nein, der Tenor lautet: Auch ich bin Führungsspieler; zumindest in meinem Arbeitsbereich muss ich so gut sein, dass ich da nicht gecoacht zu werden brauche. Da bin ich derjenige, der andere coacht und sagt: Schieb vor, komm her, bleib weg!
Und der Kapitän eine Art Klassensprecher?
Philipp Lahm scheint mir eine Kommunikationsdrehscheibe zu sein rund um die Dinge, die passieren: auf dem Platz, im Training, zwischen den Einheiten. Das ist eine sehr wertvolle Wahrnehmung der Kapitänsfunktion. Zumindest beobachte ich das so aus der Ferne.
Manche sagen: Die Niederländer spielen jetzt deutsch, die Deutschen wie die Niederlande.
Bei den Deutschen ist etwas passiert. Das ist nicht mehr: zusammenziehen, warten, Fehler des Gegners provozieren, dann mit schnellen, einfachen Bällen in die gegnerische Hälfte. Wir spielen im Moment auf Ballbesitz, und es gelingt - außer gegen Spanien - das Umschalten: Aus Ballbesitz heraus mit Temposteigerung schnell in die Offensive und zu Torchancen zu kommen. Und diese Mannschaft hatte bis zum Halbfinale keine Angst, war in der Lage, jederzeit richtig nachzuschieben, und kriegte dadurch ganz viele zweite Bälle. Ich meine: Wir hatten drei herausgespielte Tore gegen Argentinien. Das ist außergewöhnlich.
Die Schönheit des deutschen Spiels entfaltet sich aber nicht in spanischen Ballpassagen, sondern in Tempokontern mit zwei, drei Pässen?
Das sehe ich etwas anders. Ich denke, dass sie in der Spiel-Eröffnung im Vergleich zu anderen deutschen Nationalmannschaften ganz selten lange Bälle spielen, sondern dass viele Bälle durchs erste Loch, durchs zweite Loch gespielt werden. Und die multikulturelle Dimension bereichert die Mannschaft.
Özil spielt doch nicht so, weil seine Vorfahren aus der Türkei kommen.
Nein, nein, nein. Aber es ist kein Geheimnis, dass sehr viel Fußball und Straßenfußball gespielt wird in Kreisen der zweiten, dritten Generation der Menschen, die in die reicheren Länder kamen, weil es Phasen gab, in denen man dort Arbeitskräfte brauchte. Ich erinnere mich, als unser Blick nach der WM 1998 rüber nach Frankreich ging und wir irgendwann sagten: Das kann doch nicht nur an den Kolonien liegen.
Und dann?
Dann kamen wir drauf, was Frankreich von 1988 bis 1998 für Grundlagen gelegt hatte. Da waren die öffentlich unterstützten Fußballzentren. Aber sie hatten sich auch bestimmte Stadtteile von Marseille erschlossen, in denen mehr Straßenfußball gespielt wurde als in bürgerlichen Kreisen. Wir haben alles viel später gemacht, aber in den letzten zehn Jahren ist der Anteil der sogenannten Gastarbeiterkinder bei uns viel größer geworden. Und nun haben wir das Ergebnis.
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