Votum über Schottlands Unabhängigkeit: Yes or No?
Am Donnerstag stimmen die Schotten ab, ob sie aus Großbritannien austreten wollen. Auch die taz ist geteilter Meinung.
YES: Warum herrscht so große Panik vor der schottischen Unabhängigkeit? Rund um den Globus wird vor den Folgen für das Vereinigte Königreich, für die EU, für die Nato, ja sogar für die ganze Welt gewarnt. Die Frage, was besser für die Schotten ist, tritt dabei in den Hintergrund. Fakt ist, dass Schottland weit mehr unter den Folgen des britischen Privatisierungswahns, der Deindustrialisierung und der Austeritätspolitik gelitten hat als England, von dessen Norden einmal abgesehen. Und es ist ja nicht so, dass Schottland der britischen Regierung am Freitagmorgen im Falle eines Ja einen Fußtritt verpassen würde.
Der Scheidungsprozess dauert anderthalb Jahre, und in diesem Zeitraum lassen sich die meisten Fragen klären, auf die Kritiker besorgt hinweisen. Dass Schottland wirtschaftlich überlebensfähig ist, bestreiten nicht mal die Gegner der Unabhängigkeit. Natürlich wird Schottland in die EU aufgenommen, auch wenn es eine Weile dauern wird, denn das ist in beiderseitigem Interesse.
Die Schotten sind allemal proeuropäischer als die Engländer, und wenn die Bedeutung der Londoner Regierung als Bremser in der EU geschmälert wird, umso besser. Und natürlich wird die britische Regierung am Ende zustimmen, dass die Schotten das Pfund Sterling behalten. Dafür werden Handel und Finanzmärkte sorgen, um den reibungslosen Verkehr von Waren und Geld weiterhin zu garantieren. So viel würde sich äußerlich betrachtet also gar nicht ändern, und wer vor „Kleinstaaterei“ warnt, sollte einen Blick auf die EU werfen: Schottland würde einen Platz im Mittelfeld belegen.
Dass die britischen Atomwaffen eingemottet werden müssen, weil die Schotten sie loswerden wollen und die Engländer keinen Platz für sie haben, wäre ein angenehmer Nebeneffekt – auch für das Restkönigreich, das sich die milliardenschwere Erneuerung der alten Raketen sparen könnte. Und für die Freunde der „Abschreckung“ gibt es mehr als genug Atomwaffen im Westen.
Also, liebe Schottinnen und Schotten: Traut euch!
Autor Ralf Sotscheck ist seit 1987 taz-Korrespondent für Großbritannien und Irland. Jetzt will er aufsteigen und Korrespondent für Kleinbritannien, Irland und Schottland werden.
So macht der Schotte Wahlkampf
***
NO: Wenn ein Landesteil sich vom Gesamtstaat abspalten will, reicht dafür nicht, dass man mit der Regierung unzufrieden ist. Für eine Sezession müssen Probleme vorliegen, die innerhalb des Verfassungsrahmens nicht zu lösen sind: institutionalisierte Fremdherrschaft oder systematische Unterdrückung von Minderheiten. Welchen dieser Gründe kann Schottland geltend machen? Schotten werden im britischen Gesamtstaat weder benachteiligt, noch gibt es eine fremde Besatzung.
Sehr viele britische Familien zählen Engländer und Schotten gleichermaßen zu ihren Ahnen. Schottland genießt politisch einen Sonderstatus. Für eine vollständige Unabhängigkeit gibt es nur zwei mögliche Argumente: Nie wieder soll Schottland aus dem fernen London von einer Partei regiert werden, die nicht von der Mehrheit der Schotten gewählt wurde; und das Öl in schottischen Gewässern gehört Schottland allein.
Dies sind Argumente des Egoismus, mit denen sich die schottische Nationalistenpartei SNP eher in eine Reihe mit der italienischen Lega Nord einreiht als mit Freiheitsbewegungen. Die praktischen Nachteile einer Abspaltung überwiegen die hypothetischen Vorteile bei weitem. Als eigener Staat würde Schottland selbst nach den Plänen der SNP ohne eigene Währung, ohne eigene Zentralbank und damit ohne wirtschaftliche Unabhängigkeit dastehen.
Es würde das britische Pfund als Fremdwährung benutzen und, damit überhaupt jemand britische Pfunde nach Schottland trägt, dauerhaft höhere Zinsen erleiden müssen, was zu höheren Preisen und zu schweren Einschnitten bei den Staatsausgaben führt.
Und so weiter. Wozu also der ganze Spaß? Es gibt kein denkbares Positivszenario für eine Sezession – außer vielleicht, wenn London alle Maximalforderungen der SNP (Stimmen bei der letzten britischen Parlamentswahl: 491.000) komplett, klaglos und automatisch erfüllt, ohne Rücksicht auf alle anderen Wähler (Wahlberechtigte in Großbritannien ohne Schottland: 43 Millionen). Die SNP sagt, das geht. Sie verkauft sich oder die schottischen Bürger für dumm.
Autor Dominic Johnson ist taz-Auslandsressortleiter und will Bürger des Vereinigten Königreichs bleiben.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Kampf gegen die Klimakrise
Eine Hoffnung, die nicht glitzert
Müntefering und die K-Frage bei der SPD
Pistorius statt Scholz!
Zweite Woche der UN-Klimakonferenz
Habeck wirbt für den weltweiten Ausbau des Emissionshandels
Altersgrenze für Führerschein
Testosteron und PS
Krieg in der Ukraine
Biden erlaubt Raketenangriffe mit größerer Reichweite
Angeblich zu „woke“ Videospiele
Gamer:innen gegen Gendergaga